VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Beschluss vom 19.07.2010 - 5 K 762/10 - asyl.net: M17605
https://www.asyl.net/rsdb/M17605
Leitsatz:

1. Der Verlust des Freizügigkeitsrechts eines Unionsbürgers kann auch dann festgestellt werden, wenn dieser nur für drei Monate nach der Einreise freizügigkeitsberechtigt war (Kurzaufenthaltsberechtigter).

2. In Fällen, in denen Unionsbürger nach der Einreise die öffentliche Ordnung (im gemeinschaftsrechtlichen Sinne, hier: zahlreiche Fälle gewerbsmäßigen Einbruchsdiebstahls) stören, erscheint eine Feststellung sachgerecht, dass der Unionsbürger sich künftig nicht mehr auf sein Freizügigkeitsrecht berufen kann. Damit wird über § 7 Abs. 2 S. 1 FreizügG/EU eine - der Ausweisung entsprechende - Sperrwirkung erreicht.

Schlagwörter: Unionsbürger, freizügigkeitsberechtigt, Freizügigkeitsbescheinigung, vorläufiger Rechtsschutz, Verlust des Freizügigkeitsrechts, Sperrwirkung, Kurzaufenthalt, Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Diebstahl, Wiederholungsgefahr, Verhältnismäßigkeit, Rumänien
Normen: FreizügG/EU § 6 Abs. 1, FreizügG/EU § 2 Abs. 1, FreizügG/EU § 2 Abs. 2, FreizügG/EU § 2 Abs. 5, FreizügG/EU § 7 Abs. 1, FreizügG/EU § 7 Abs. 2, FreizügG/EU § 5 Abs. 5, FreizügG/EU § 6 Abs. 2 S. 3, StGB § 243 Abs. 1
Auszüge:

1. Der Verlust des Freizügigkeitsrechts auf Einreise und Aufenthalt kann auch dann festgestellt werden, wenn der EU-Bürger nur eine Freizügigkeitsberechtigung für Kurzaufenthalte nach § 2 Abs. 5 FreizügG/EU besitzt.

2. Die Verlustfeststellung wird nicht rechtswidrig, wenn der Betroffene diese Freizügigkeitsberechtigung vor Erlass der gerichtlichen Entscheidung verliert.

(Amtliche Leitsätze)

[...]

Die Kammer hält es bei der gegebenen Sach- und Rechtslage nicht für geboten, dem Antragsteller den erstrebten vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO zu gewähren. [...]

Die Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts auf Einreise und Aufenthalt lässt nach der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung keine Rechtsfehler erkennen. Das Regierungspräsidium Freiburg hat in der angefochtenen Verfügung mit ausführlicher und zutreffender Begründung dargelegt, dass der Antragsteller den Verlusttatbestand nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU erfüllt. Auf die diesbezüglichen Ausführungen in der angefochtenen Verfügung verweist die Kammer zur Vermeidung von Wiederholungen (§ 117 Abs. 5 VwGO).

Ergänzend merkt die Kammer an, dass der Anwendung von § 6 Abs. 1 FreizügG/EU nicht entgegen stehen dürfte, dass der Antragsteller zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung keinen Freizügigkeitstatbestand nach § 2 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 und 5 FreizügG/EU erfüllen dürfte, da er sich weder als Arbeitnehmer oder Arbeitssuchender im Bundesgebiet aufgehalten hat bzw. aufhält (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU), nicht als Selbstständiger i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 2 und 3 FreizügG/EU bzw. als Dienstleistungsempfänger i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 4 FreizügG/EU anzusehen sein dürfte, noch die Voraussetzungen von i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 5, § 4 FreizügG/EU - mangels Mitteln - erfüllen dürfte, und derzeit auch nicht über gültige Personalpapiere i.S.v. § 2 Abs. 5 FreizügG/EU verfügt.

Nach Auffassung der Kammer dürfte § 6 Abs. 1 FreizügG/EU jedenfalls dann anwendbar sein, wenn der Unionsbürger bei seiner Einreise bzw. während seines Aufenthaltes einmal freizügigkeitsberechtigt war - unabhängig davon, ob diese (oder eine andere) Berechtigung zum Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU bzw. zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch besteht (noch weitergehend Hailbronner, Ausländerrecht, § 6 FreizügG/EU Rn. 7).

Dass der Antragsteller zumindest zum Zeitpunkt seiner Einreise und in den darauf folgenden drei Monaten über ein (auf seine Unionsbürgerschaft gründendes) Aufenthaltsrecht verfügte, ergibt sich aus der durch das Richtlinienumsetzungsgesetz 2007 in § 2 FreizügG/EU aufgenommenen Regelung in dessen Absatz 5, der materiell ein Recht auf Kurzaufenthalt enthält, das zu den Freizügigkeitsrechten nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU zählt (Epe, in GKAufenthG, § 2 FreizügG/EU Rn. 143). Daher ist § 6 Abs. 1 FreizügG/EU auch bei Kurzaufenthaltsberechtigten anwendbar (Epe, aaO., § 2 FreizügG/EU Rn. 143).

Es erscheint sachgerecht, in Fällen, in denen der Unionsbürger nach seiner Einreise - wie der Antragsteller - die öffentliche Ordnung (im gemeinschaftsrechtlichen Sinne) stört, festzustellen, dass der Unionsbürger sich künftig nicht mehr auf sein Freizügigkeitsrecht berufen kann, denn damit wird über § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU eine - der Ausweisung entsprechende - Sperrwirkung erreicht. Diese Sperrwirkung käme nicht zum Tragen, wenn eine bloße Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit ausgesprochen würde (in Rspr. und Lit. ist jene Maßnahme anerkannt, wenngleich ihre genaue Rechtsgrundlage - in § 7 Abs. 1 FreizügG/EU und/oder § 5 Abs. 5 FreizügG/EU analog - nicht eindeutig geklärt ist, vgl. dazu Hoppe, HTKAuslR/§ 7 FreizügG/EU/zu Abs. 1 Anm. 1.2; Epe, aaO., § 7 FreizügG/EU Rn. 5; VG Würzburg, Beschl. v. 21.05.2007 - W 7 E 07.617 -; VG Sigmaringen, Urt. v. 19.09.2006 - 7 K 1190/05 -, ZAR 2007, 108). Die Sperrwirkung könnte nur durch eine zusätzlich verfügte Ausweisung erreicht werden (dass ein Unionsbürger dadurch, dass er gerade keinen einzigen Freizügigkeitstatbestand erfüllt, gegenüber freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern einerseits und Nicht-Unionsbürgern andererseits, für die das Aufenthaltsgesetz gilt, eine bessere rechtliche Stellung in Bezug auf die Möglichkeit einer Wiedereinreise haben soll, kann unter keinen Umständen angenommen werden). Eine solche "kombinierte" Verfahrensweise erschiene indes nicht nur umständlich, sondern widerspräche auch der Intention des Freizügigkeitsgesetzes, die aufenthaltsrechtliche Stellung von Unionsbürgern möglichst umfassend zu regeln.

In materieller Hinsicht dürfte die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts nicht zu beanstanden sein. In Ergänzung zu den ausführlichen Darlegungen des Regierungspräsidiums Freiburg in der angegriffenen Verfügung merkt die Kammer an, dass sie insbesondere die Erwägungen des Regierungspräsidiums zur Schwere der Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch den Antragsteller und zur Wiederholungsgefahr teilt. Nicht jeder Verstoß gegen innerstaatliche Rechtsvorschriften, der zunächst einmal eine Störung der öffentlichen Ordnung darstellt, führt dazu, dass Gründe der öffentlichen Ordnung vorliegen, die eine Beschränkung des Freizügigkeitsrechts erlauben würden. Nach § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (grundlegend EuGH, Urt. v. 27.10.1977 - Rs.30/77 -, NJW 1978, 479 f. - Bouchereau). Ein Grundinteresse der Gesellschaft ist nur dann berührt, wenn von einem Freizügigkeitsberechtigten die Begehung von Straftaten, die der mittelschweren oder schweren Kriminalität zuzurechnen sind, droht. Die wiederholt drohende Begehung von Ordnungswidrigkeiten oder von Straftaten, die der leichten Kriminalität zuzurechnen sind, kann das Grundinteresse der Gesellschaft per se nicht berühren. Nach Auffassung der Kammer dürfte im Falle des Antragstellers davon auszugehen sein, dass Grundinteressen der Gesellschaft berührt sind, weil die von ihm in einer Vielzahl von Fällen begangenen gewerbsmäßigen Einbruchsdiebstähle in Anbetracht der Tatsache, dass sie nach § 243 Abs. 1 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren bestraft werden können, nicht mehr der leichten Kriminalität zugeordnet werden können. Dass die gegen den Antragsteller verhängte Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten diesen Strafrahmen nicht ausgeschöpft hat, steht einer Anwendung von § 6 Abs. 1 FreizügG/EU nicht entgegen (Hoppe, HTK-AuslR/§ 6 FreizügG/EU/ Anm. 5.1).

Die Entscheidung des Antragsgegners dürfte auch nicht ermessensfehlerhaft sein. Zutreffend hat das Regierungspräsidium alle für und gegen den Antragsteller sprechenden Umstände erfasst und angemessen gewürdigt. Dabei konnte nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Antragsteller mehr oder weniger nahtlos seit seiner Einreise im September 2008 durchgängig bis zu seiner Verhaftung im April 2009 in einer Vielzahl von Fällen mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist, was zu seiner Verurteilung zu der genannten Freiheitsstrafe geführt hat. Angesichts dieses Verhaltensmusters des Antragstellers, das die Vermutung nicht fernliegend erscheinen lässt, der Antragsteller sei nicht, wie er angibt, wegen der Bekanntschaft zu Frau D. nach Deutschland eingereist, sondern zur Begehung von Einbruchsdiebstählen in Serie, liegt für die Kammer die Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr auf der Hand. Die Kammer kann es auch nicht beanstanden, dass die Ausländerbehörde bei ihrer Würdigung berücksichtigt hat, dass Frau D. den Antragsteller bis zum Erlass der angegriffenen Verfügung nur einmal in der Haftanstalt besucht hat. Wie die Ausländerbehörde ist auch die Kammer der Auffassung, dass Art. 6 GG und Art. 8 EMRK der Maßnahme nicht entgegen stehen. Zwar ist durch die Maßnahme das Privatleben des Antragstellers betroffen, doch ist dieser Eingriff verhältnismäßig in Anbetracht der allenfalls marginalen Beziehungen des Antragstellers zu Deutschland (wo der Antragsteller bezeichnender Weise nie gemeldet war), seiner mangelnden Integration in das deutsche Rechts- und Wertesystem und die hohe Zahl der von ihm begangenen erheblichen Straftaten, hinsichtlich derer durchaus eine Wiederholung zu befürchten ist. Dass der Antragsteller und Frau D. angeben, verlobt zu sein und heiraten zu wollen, führt nicht zu einer anderen Bewertung. Selbst nach dem Vorbringen des Antragstellers steht die Eheschließung nicht unmittelbar bevor (und unterfällt daher nicht dem vorwirkenden Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG), weil der Antragsteller derzeit über keine gültigen Identitätspapiere verfügt und eine Änderung dieses Zustandes nicht absehbar ist, so dass das Eheschließungsverfahren schon aus rechtlichen Gründen nicht betrieben werden kann. Im Übrigen erscheint es nicht unverhältnismäßig, wenn der Antragsteller nach einer Eheschließung mit Frau D. sich von Rumänien aus um die Wiedereinreise, dann unter Bezugnahme auf Art. 6 Abs. 1 GG, bemüht, zumal Frau D., wie sich aus den Akten ergibt, selbst in Rumänien geboren wurde, so dass anzunehmen ist, dass sie des Rumänischen mächtig ist, weshalb ihr und dem Antragsteller zugemutet werden kann, die Eheschließung in Rumänien vornehmen zu lassen und eine eheliche Lebensgemeinschaft vorübergehend dort zu führen, ggf. auch durch Besuche von Frau D.; die diesbezüglichen Reisekosten sind gerichtsbekannter Weise gering. Dass die Verlustfeststellung nicht sogleich mit einer Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU versehen wurde, führt nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme; eine nachfolgende Befristung auf Antrag des Antragstellers nach § 7 Abs. 2 Satz 2 bis 4 FreizügG/EU genügt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. [...]