VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 21.07.2010 - 9 A 193/09 MD - asyl.net: M17603
https://www.asyl.net/rsdb/M17603
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung eines in Deutschland geborenen staatenlosen kurdischen Kindes, dessen Eltern aus Syrien stammen; die Verweigerung der Wiedereinreise stellt politische Verfolgung dar, da sie das Ziel hat, kurdische Volkszugehörige wegen ihrer Volkszugehörigkeit zu treffen.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Syrien, offensichtlich unbegründet, staatenlos, Kurden
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 30 Abs. 3, AufenthG § 10 Abs. 3 S. 2, AsylVfG § 30 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Dem Kläger ist Asyl- und Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG zu gewähren, denn ihm wird vom syrischen Staat aufgrund asylerheblicher Merkmale die Einreise verweigert.

Der Kläger wird zur Überzeugung des Gerichts seitens des syrischen Staates als staatenloser Kurde angesehen. Der Vater des Klägers ist zur Überzeugung des Gerichts staatenloser Kurde. Insoweit bezieht sich das Gericht auf das Urteil 9 A 8/02 vom 26.06.2003, in welchem auf S. 7 des Entscheidungsabdrucks ausführlich zur Staatenlosigkeit des Vaters des Klägers ausgeführt wird. Andere Erkenntnisse haben sich für das Gericht nicht ergeben, sie sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Die Staatenlosigkeit des Vaters überträgt sich nach der syrischen Praxis auf die Kinder, auch wenn die Mutter die syrische Staatsangehörigkeit hat.

Das Gericht ist davon überzeugt, dass staatenlosen Kurden, deren Land des gewöhnlichen Aufenthalts Syrien war, eine Wiedereinreise nach illegaler Ausreise im Regelfall nicht möglich ist. Staatenlosen Kurden aus Syrien wird, wie sich den vom Gericht eingeholten Gutachten und der Stellungnahme des Auswärtigen Amtes entnehmen lässt, die Wiedereinreise verweigert. Die Gutachter Hajo/Savelsberg verneinen die Möglichkeit der Wiedereinreise ganz ausdrücklich (vgl. S. 10). Auch das DOI verneint diese Frage für den Regelfall (S. 4, 5) und hält eine Wiedereinreisemöglichkeit nur dann für gegeben, wenn die Wiedereinreise vor der Ausreise mit den syrischen Behörden abgestimmt wurde oder aber Beziehungen eingesetzt werden können. Die Einschätzung der Gutachter wird schließlich auch vom Auswärtigen Amt geteilt, welches eine Wiedereinreisemöglichkeit nur in Ausnahmefällen aufgrund persönlicher Beziehungen und Bestechung für denkbar hält (Auskunft an VG Magdeburg v. 01.10.2002). Auch die Ausstellung eines Heimreisedokumentes für einen staatenlosen Kurden aus Syrien durch die syrische Botschaft in einem Einzelfall lässt keinen Rückschluss auf die geänderte Ausstellungspraxis von Heimreisedokumenten zu (vgl. AA an VG Magdeburg v. 26.03.2003). Da ersichtlich für den Kläger keiner der von den Gutachtern beschriebenen Ausnahmefälle einschlägig ist, ist davon auszugehen, dass dem Kläger eine Einreise nach Syrien nicht möglich ist.

Die Verweigerung der Wiedereinreise stellt für den Kläger politische Verfolgung dar. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht ist geklärt, dass die Verweigerung der Wiedereinreise, soweit sie an asylerhebliche Merkmale anknüpft, politische Verfolgung darstellen kann, denn der Staat entzieht seinem Staatsbürger hiermit wesentliche staatsbürgerliche Rechte und grenzt ihn so aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit aus (vgl. BVerwG, U. v. 24.10.1995, 9 C 3.95, NVwZ 1996, S. 602 ff.). Politische Verfolgung wird dabei regelmäßig - ohne dass hier eine Regelvermutung gilt (vgl. BVerwG, B. v. 07.12.1999, 9 B 474.99, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 224) - bei der Aussperrung von Staatsangehörigen anzunehmen sein (vgl. BVerwG, U. v. 24.10.1995, a.a.O.). Bei Staatenlosen kann eine solche Maßnahme des Staates ihres gewöhnlichen Aufenthalts aber auch auf anderen als auf asylrelevanten Gründen beruhen, wenn etwa der Staat ein Interesse daran hat, die durch den Aufenthalt dieser Personengruppe entstehende wirtschaftliche Belastung zu mindern oder Gefahren für die Staatssicherheit durch potenzielle Unruhestifter vorzubeugen oder weil er keine Veranlassung sieht, Staatenlose, die freiwillig das Land verlassen, weiterhin aufzunehmen (BVerwG, U. v. 24.10.1995, a.a.O.). Zur Überzeugung des Gerichts beruht aber die Wiedereinreiseverweigerung durch den syrischen Staat nicht auf den vorstehend benannten Gründen. Vielmehr knüpft die Wiedereinreiseverweigerung bei objektiver Betrachtung für Staatenlose allein an die Eigenschaft "staatenloser Kurde" an, wobei die kurdische Volkszugehörigkeit ausschlaggebend ist. So wird allen anderen Personen gleich welcher Volkszugehörigkeit, die die syrische Staatsangehörigkeit besitzen, die Wiedereinreise auch bei illegaler Ausreise aus Syrien wieder ermöglicht. Dass folglich auch kurdische Volkszugehörige wieder einreisen können, also nicht die gesamte Volksgruppe der Kurden aus Syrien von dieser Aussperrung betroffen ist, spricht nicht gegen die von der Kammer angenommene Anknüpfung an die Ethnie durch den syrischen Staat bei staatenlosen Kurden. Wie der Sachverständige Brocks in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Magdeburg am 30.01.2003 ausführte, ist dies zum einen der Tatsache geschuldet, dass für den syrischen Staat Kurden nur als staatenlose Kurden existieren. Der syrische Staat leugnet das Bestehen eines "Kurdenproblems", Kurdisch wird nicht gelehrt, im Personenstandwesen sind nur arabische oder arabisierte Namen zugelassen. Zum anderen beruht die Wiedereinreisemöglichkeit für kurdische Volkszugehörige mit syrischer Staatsangehörigkeit auch darauf, dass es zu erheblichen außenpolitischen Problemen für Syrien führte, wenn der syrische Staat nicht unerhebliche Teile seiner Bevölkerung nicht zurücknähme, wie die Sachverständige Savelsberg in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Magdeburg am 30.01.2003 zu Recht ausgeführt hat. Dass die Wiedereinreiseverweigerung nicht etwa an die Staatenlosigkeit ohne Rücksicht auf die Volkszugehörigkeit anknüpft, ergibt sich auch daraus, dass die in Syrien lebenden Palästinenser, welche sämtlich staatenlos sind, nach übereinstimmenden Aussagen beider Sachverständiger nach einer Ausreise aus Syrien ohne weiteres wieder einreisen können. Dabei ändert an dieser Erkenntnis die Tatsache, dass hierfür allein (außen)politische Erwägungen maßgeblich sind, ebenso wenig wie die von den Sachverständigen mitgeteilte Einschätzung, Palästinenser seien letztlich eher syrischen Staatsangehörigen gleichzustellen, weil sie die syrische Staatsangehörigkeit nur deshalb nicht erhielten, um ihr Rückkehrrecht nach Palästina weiterhin vertreten zu können.

Das Gericht ist der Überzeugung, dass der syrische Staat mit der Wiedereinreiseverweigerung nicht nur ordnungspolitische Ziele verfolgt, also Gefahren für die übergreifende Friedensordnung vorbeugen will, sondern hinter seinen Maßnahmen das Ziel steht, Staatenlose kurdischer Volkszugehörigkeit wegen ihrer Volkszugehörigkeit zu treffen. An dieser Ansicht hält das Gericht auch vor dem Hintergrund der jüngeren Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts fest. Dabei verkennt auch das Gericht nicht, dass kurdische Volkszugehörige, sei es aufgrund ihres Selbstverständnisses oder sei es aufgrund einer langen Tradition der Unterdrückung dieser Volksgruppe, aus der Sicht der Staaten, deren Staatsgebiet Teile des von Kurden für sich reklamierten Gebietes sind, einen potentiellen Unruheherd insbesondere durch dort ansässige Oppositionsparteien einschließlich ihrer politischen Aktivisten darstellen. Es könnte daher nahe liegen, dass die Wiedereinreiseverweigerung auch der Lösung dieses Problems dient. Dies ist jedoch eher unwahrscheinlich. Denn mit einer Wiedereinreiseverweigerung kann dieser Zweck wegen der zahlenmäßig kleinen Gruppe der staatenlosen Kurden im Verhältnis zu den Kurden syrischer Staatsangehörigkeit gar nicht wirklich erreicht werden, so dass dieser Aspekt nur Nebeneffekt der an die Volkszugehörigkeit anknüpfenden Aussperrung der staatenlosen Kurden ist, die in Wahrheit der sukzessiven Arabisierung Nord-Ost-Syriens dient. So hat auch der Sachverständige Brocks in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Magdeburg am 30.01.2003 sein Gutachten dahingehend erläutert, dass es auf die politische Einstellung des Einzelnen bei der Aussperrung nicht ankomme, sondern das Aussperren politischer Aktivisten nur Nebeneffekt dieser nach seiner Einschätzung auf Arabisierung angelegten Maßnahmen ist. Daran zu zweifeln, besteht für das Gericht keine Veranlassung. [...]