VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 24.08.2010 - 4 A 1010/10 - asyl.net: M17602
https://www.asyl.net/rsdb/M17602
Leitsatz:

Rechtswidrige Ablehnung eines Asylantrags als "offensichtlich unbegründet", da das BAMF unberücksichtigt lässt, dass die Eltern im Asylfolgeverfahren geltend machen, sich in Deutschland exilpolitisch betätigt zu haben und Verfolgung in Syrien befürchten. Da sich das Vorbringen der Eltern in den Folgeverfahren bisher nicht als offensichtlich unglaubhaft darstellt, kann eine sippenhaftähnliche Verfolgung nicht ausgeschlossen werden - jedenfalls drängt sich dies bis auf weiteres nicht derart auf, dass eine Ablehnung als "offensichtlich unbegründet" gerechtfertigt wäre.

Schlagwörter: Asylverfahren, Syrien, Kurden, Abschiebungsverbot, offensichtlich unbegründet, Sippenhaft
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 10 Abs. 3 S. 2, AsylVfG § 36 Abs. 1, AsylVfG § 30 Abs. 1, AsylVfG § 30 Abs. 3 Nr. 7, RVG § 30, AsylVfG § 14a Abs. 2
Auszüge:

[...]

Soweit die Streitsache danach anhängig geblieben ist, ist die Klage zulässig und hinsichtlich der angegriffenen Offensichtlichkeitsentscheidungen auch begründet. Die Ablehnung des Antrags der Klägerin auf Anerkennung als Asylberechtigte als "offensichtlich" unbegründet sowie die Feststellung, die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen "offensichtlich" nicht vor, gemäß Ziffern 1 und 2 der angefochtenen Bundesamtsentscheidung erweisen sich als rechtswidrig, wodurch die Klägerin - wegen der sich damit aus § 10 Abs. 3 S. 2 AufenthG ergebenden Rechtsfolgen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2008 - 1 C 37.07 -, zit. n. juris; BVerwG, Urteil vom 21. November 2006 - 1 C 10.06 -, BVerwGE 127, 161 ff. = InfAuslR 2007, 213 ff.) - auch in ihren Rechten verletzt ist. Insoweit ist der Bescheid unter sachgerechter Auslegung des Klageantrages somit aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

In dem stattgebenden Beschluss des Gerichts vom 29. Oktober 2009 - 3 B 2584/09 - ist zu den Offensichtlichkeitsentscheidungen ausgeführt:

"Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Asylantrag der Antragstellerin mit Bescheid vom 15. September 2009 zu Unrecht als offensichtlich unbegründet abgelehnt.

"Offensichtlich" unbegründet ist ein Asylantrag im Sinne des § 36 Abs. 1 AsylVfG, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG offensichtlich nicht vorliegen (§ 30 Abs. 1 AsylVfG). Diese Annahme ist nur dann gerechtfertigt, wenn nach vollständiger Erforschung des Sachverhalts an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen kein Zweifel bestehen kann und bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung (nach dem Stand der Rechtsprechung und Lehre) sich eine Ablehnung des Asylantrages geradezu aufdrängt (ständige Rechtsprechung). [...]

Gemessen an diesen Maßstäben gibt die Entscheidung des Bundesamtes über das Asylbegehren der Antragstellerin zu einer rechtlichen Beanstandung Anlass. Das Bundesamt ist nicht darauf eingegangen, dass die Eltern der Antragstellerin mit ihren derzeit in dem noch anhängigen Klageverfahren 3 A 2428/09 weiterverfolgten Asylfolgeanträgen geltend machen, sich u.a. als Sympathisanten bzw. Mitglieder der Yekiti-Partei in der Bundesrepublik Deutschland exilpolitisch betätigt zu haben und weiter zu betätigen. Dieser Umstand ist indessen für die Beurteilung des Asylantrages der Antragstellerin nicht irrelevant. Vielmehr lässt er im Ergebnis die erfolgte qualifizierte Ablehnung dieses Antrages als nicht gerechtfertigt erscheinen. Da sich das Vorbringen der Eltern in ihren Folgeverfahren bisher nicht, jedenfalls nicht als offensichtlich unglaubhaft darstellt, kann es nach der Auskunftslage (so nach den von den Eltern selbst vorgelegten Erkenntnismitteln sowie ferner z.B. nach den Feststellungen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe im "Update" zur aktuellen Entwicklung in Syrien vom 20. August 2008 sowie dem Gutachten des Uwe Brooks vom 24. Februar 2009 an das Verwaltungsgericht Osnabrück) zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass die Eltern im Rückkehrfalle schwerwiegenden Verfolgungsmaßnahmen des syrischen Staates ausgesetzt sein werden. Zwar können sie sich hierauf in ihren eigenen Folgeantragsverfahren mit Rücksicht auf die für diese Verfahrensart geltenden besonderen Maßstäbe aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mit Erfolg berufen, wie das Gericht soeben mit Beschlüssen vom 16. September 2009 in den Eilrechtsschutzverfahren 3 B 2429/09 und 3 B 2431/09, an denen festzuhalten ist, festgestellt hat. Dies steht jedoch nicht der Annahme entgegen, dass die Antragstellerin ihrerseits, aufgrund der möglichen Verfolgungsbetroffenheit der Eltern, unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der "Sippenhaft" selbst als von politischer Verfolgung bedroht zu gelten haben könnte, auch wenn in Syrien die Sippenhaft zumindest im Sinne einer Geiselhaft von Angehörigen oder vergleichbarer Maßnahmen im allgemeinen nicht besteht und die Antragstellerin schon wegen ihres Lebensalters der Gefahr solcher Maßnahmen jedenfalls nicht ausgesetzt wäre. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Grundsatzentscheidung zu den Voraussetzungen eines Asylanspruchs bei Familienangehörigen von politisch Verfolgten vom 27. April 1982 (- 9 C 239/80 -, BVerwGE 65, 244 ff. = InfAuslR 1982, 245 ff.) u.a. ausgeführt, politische Verfolgung von einzelnen Mitgliedern einer Familie sei gekennzeichnet durch die übergreifenden mittelbaren Wirkungen der Verfolgungsmaßnahme und den häufig alle Familienmitglieder einschließenden Verfolgungsgrund. Die Verfolgungsmaßnahme wirke kraft der gegenseitigen Abhängigkeit sehr oft in die persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen der Familienmitglieder hinein. Diese Beziehungen seien vor solchen Beeinträchtigungen geschützt, die nach Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzten und über das hinausgingen, was die Bewohner des Heimatstaates aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen hätten. Eine dergestalt mittelbare Wirkung einer gegen einen anderen gerichteten Verfolgungsmaßnahme könne zur Verfolgungsmaßnahme auch gegen den Drittbetroffenen werden, wenn sie unmittelbar gegen ihn wirken solle, d.h. wenn sich der Verfolgungswille von Anfang an oder später auch gegen den Drittbetroffenen richte. Aus dem Erfordernis einer gegen den Drittbetroffenen gerichteten Maßnahme folge allerdings, dass Beeinträchtigungen, die den Drittbetroffenen außerhalb dieses Rahmens träfen, als gleichsam reflexartig zu bewerten seien und gegen ihn eine Verfolgungsmaßnahme nicht begründen könnten. Zwar werde es für die Tatsachengerichte nicht einfach sein, in Fällen dieser Art den Verfolgungswillen zutreffend festzustellen. Anhaltspunkte dafür seien in der Schwere der Maßnahmen und ihrer Folgen, dem Stellenwert der Familie im jeweiligen politischen Regime und den allgemeinen politischen Verhältnissen im Verfolgerstaat zu finden.

Es ist - wenn hierfür derzeit auch keine konkreten Anhaltspunkte vorliegen, d.h. nicht Überwiegendes sprechen mag - nicht offensichtlich von der Hand zu weisen, dass die Antragstellerin, die im Falle etwa einer Inhaftierung ihrer Eltern aus politischen Gründen durch einen damit voraussichtlich oder ggf. einhergehenden Entzug der für sie lebensnotwendigen Versorgung und Betreuung in asylerheblichen Maße von der Verfolgung ihrer Eltern mitbetroffen wäre, hierdurch auch in eigener Person politische Verfolgung erlitte, weil nicht auszuschließen ist, dass der syrische Staat diese sie betreffenden mittelbaren Wirkungen einer Verfolgung der Eltern wegen deren politischen Überzeugungen und Betätigungen bewusst und billigend in Kauf nähme, die Verfolgung also im Sinne der zitierten Rechtsprechung auch gegen die Antragstellerin selbst gerichtet wäre.

Das Gericht wiederholt, dass für die Annahme einer derartigen asylrelevanten Verfolgungsmitbetroffenheit der Antragstellerin zur Zeit kein konkreter Anlass besteht. Dies drängt sich jedoch bis auf weiteres nicht derart auf, wie dies nach Maßgabe der oben aufgezeigten Beurteilungskriterien Voraussetzung für eine Offensichtlichkeitsentscheidung gemäß § 30 Abs. 1 AsylVfG wäre.

§ 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylVfG, auf den das Bundesamt noch ausdrücklich Bezug genommen hat, trägt diese Entscheidung ebenfalls nicht. Zwar mag sich der Asylantrag der Antragstellerin (auch) in Anbetracht der vorstehenden Erwägungen als (schlicht) unbegründet erweisen und damit seine Ablehnung als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylVfG in Betracht kommen lassen. Dem steht indessen entgegen, dass die Asylfolgeanträge der Eltern bisher nicht unanfechtbar abgelehnt worden sind. [...]"

Soweit der Klägerin für den Fall einer (gedachten) Rückkehr nach Syrien dort Gefährdungen im Sinne von § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG drohen, ist dieses hier nicht (mehr) relevant, da insoweit ihrem Begehren abgeholfen wurde. [...]