OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 31.08.2010 - 2 A 229/08.A - asyl.net: M17601
https://www.asyl.net/rsdb/M17601
Leitsatz:

Maßgeblich für die Gewährung von Asyl oder Flüchtlingsschutz ist allein die Frage, ob die Kläger in der Türkei in ihrer individuellen Ausübung ihres yezidischen Glaubens unzumutbar eingeschränkt wären. Unbeschadet der Frage, ob eine öffentliche Glaubensausübung überhaupt ein wesentliches Element des yezidischen Glaubens ist, haben die Kläger nicht dargelegt, dass gerade die öffentliche Glaubensausübung essenziell für ihre individuelle Glaubensbetätigung ist.

Schlagwörter: Asylverfahren, Türkei, Yeziden, Berufungszulassungsantrag, Grundsätzliche Bedeutung, religiöse Verfolgung, religiöses Existenzminimum, individuelle Verfolgungsbetroffenheit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b, RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1 Bst. a
Auszüge:

[...]

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. [...]

a. Die Kläger bezeichnen die Frage als grundsätzlich klärungsbedürftig, "worin das religiöse Existenzminimum für Yeziden besteht".

Wegen dieser Frage ist die Berufung schon deshalb nicht zuzulassen, weil sie mangels Entscheidungsrelevanz in einem Berufungsverfahren nicht zu beantworten sein wird.

In Bezug auf die Gewährung des Asylrechts wegen eines Eingriffs in die Religionsfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, dass eine Betroffenheit des Einzelnen in diesem Sinne sich nicht bereits aus der bloßen Mitgliedschaft in der betroffenen religiösen Gruppe ergibt, wenn nicht bereits die Gruppenzugehörigkeit als solche asylrechtlich relevante Maßnahmen unmittelbar nach sich zieht. Werden lediglich bestimmte Verhaltensweisen, Äußerungen oder Bekenntnisse untersagt, so ist nicht ohne weiteres auch jedes einzelne Mitglied der Gruppe aktuell betroffen und asylberechtigt. Dies ist vielmehr nur bei denjenigen Mitgliedern der Fall, die durch das Verbot auch selbst in ihrer religiös-personalen Identität betroffen sind. Ob es sich bei dem Asylsuchenden um einen in solcher Weise Betroffenen handelt, hängt auch maßgeblich davon ab, wie er den Glauben lebt. Innerhalb einer Religionsgemeinschaft könnten sich demnach durchaus für praktizierende und für eher am Rande stehende Gläubige unterschiedliche Ergebnisse hinsichtlich der Asylrelevanz ergeben (vgl. BVerfG, Beschl. v. 01.07.1987 - 2 BvR 478/86, 2 BvR 962/86 -, BVerfGE 76, 143ff. = NVwZ 1988, 237ff., juris-Rz. 37). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 20.01.2004 - 1 C 9.03 -, BVerwGE 120, 16ff. = NVwZ 2004, 1000, juris-Rz. 14) gilt die Prämisse gleichermaßen für das verfassungsrechtlich gewährleistete Asylrecht nach Art. 16a GG wie für den gemäß § 3 AsylVfG mit der Anerkennung als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) verbundenen Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 1 AufenthG). Dem folgend stellt auch die obergerichtliche Rechtsprechung bei der Prüfung, ob ein unzumutbarer Eingriff in das religiöse Existenzminimum vorliegt, auf die individuelle Verfolgungsbetroffenheit des jeweiligen Schutzsuchenden ab (s. VGH Mannheim, Urt. v. 20.11.2007 - A 10 S 70/06 -. InfAuslR 2008, 97ff., juris-Rz. 41; OVG Magdeburg, Urt. v. 24.10.2007 - 3 L 303/04 -, juris-Rz. 41). Das OVG Lüneburg weist im Zusammenhang mit der Frage, welche öffentlich sichtbare Religionsausübung für den Einzelnen zu den unverzichtbaren Formen seiner Glaubenspraxis gehört, ebenfalls darauf hin, dass dies von der Stärke seiner jeweiligen persönlichen religiösen Bindungen und damit von einer einzelfallbezogenen Prüfung abhängt (vgl. OVG Lüneburg, Urt. v. 24.03.2009 - 2 LB 643/07 - juris-Rz. 144).

Maßgeblich für die Gewährung von Asyl oder Flüchtlingsschutz ist damit nicht die von den Klägern als klärungsbedürftig angesehene grundsätzliche Frage, worin das religiöse Existenzminimum für Yeziden besteht, sondern allein die Frage, ob die Kläger in der Türkei in ihrer individuellen Glaubensausübung unzumutbar eingeschränkt wären. Der Einzelrichter hat in dem angefochtenen Urteil für den konkreten Einzelfall dargelegt, warum er davon bei den Klägern nicht ausgegangen ist. Diese Feststellungen greifen die Kläger mit Zulassungsgründen nicht an.

b. Weiter bezeichnen die Kläger die Frage als grundsätzlich klärungsbedürftig, "ob das religiöse Existenzminimum der Yeziden in der Türkei dadurch nachhaltig beeinträchtigt wird, dass eine gemeinschaftliche öffentlich sichtbare Ausübung der yezidischen Religion in der Türkei nicht möglich ist."

In diesem Zusammenhang seien als Vorfragen grundsätzlich zu klären, "ob Yeziden ihre Religion in der Öffentlichkeit ausüben und ob das Yezidentum als Geheimorganisation zu bezeichnen ist oder nicht" sowie "ob die yezidische Religion danach zu beurteilen ist, wie sie in der Türkei in einer bestimmten Verfolgungssituation ausgeübt worden ist oder es im Hinblick auf § 10 I b Qualifikationsrichtlinie darauf ankommt, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland ausgeübt wird."

Hierzu ist ebenfalls festzustellen, dass es den angesprochenen Fragen an einer Entscheidungsrelevanz fehlt.

Es ist bereits fraglich, ob die von den Klägern pauschal aufgestellte Prämisse, "dass eine gemeinschaftliche öffentlich sichtbare Ausübung der yezidischen Religion in der Türkei nicht möglich ist", in dieser Allgemeinheit - zumindest heute noch - so zutrifft. So führt das OVG Lüneburg in seinem o.a. Urteil vom 24.03.2009 aus, dass vermehrt in Deutschland verstorbene Yeziden in die Türkei überführt und dort öffentlich nach yezidischen Ritus bestattet würden (juris-Rz. 143, m.w.N.; ebenso: OVG Münster, Urt. v. 31.08.2007- 15 A 994/05.A -, juris-Rz. 99). Unabhängig davon sind auch nicht die abstrakten Betrachtungen der Kläger zum Wesen des yezidischen Glaubens und zu den abstrakten Möglichkeiten seiner Ausübung in der Türkei entscheidungserheblich. Auch in diesem Zusammenhang ist allein entscheidungsrelevant die Frage, ob die Kläger in der Türkei in ihrer individuellen Glaubensausübung unzumutbar eingeschränkt wären. Eine grundsätzliche Bedeutung der angesprochenen Fragen folgt auch nicht aus dem Umstand, dass das Bundesverwaltungsgericht in einem Urteil vom 05.03.2009 (Az. 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221ff. = NVwZ 2009, 1167ff.) ausgeführt hat, dass es eine bisher vom EuGH nicht geklärte gemeinschaftsrechtliche Zweifelsfrage sei, ob und unter welchen Voraussetzungen von dem von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a Qualifikationsrichtlinie geschützten Kernbereich der Religionsfreiheit neben dem sog. religiöse Existenzminimum, also der Glaubensbetätigung im privaten oder nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich, auch eine religiöse Betätigung in der Öffentlichkeit erfasst werde. Denn, unbeschadet der Frage, ob eine öffentliche Glaubensausübung überhaupt ein wesentliches Element des yezidischen Glaubens ist, haben die Kläger nicht dargelegt, dass gerade die öffentliche Glaubensausübung essenziell für ihre individuelle Glaubensbetätigung ist. [...]