OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.09.2010 - 18 E 819/10 - asyl.net: M17589
https://www.asyl.net/rsdb/M17589
Leitsatz:

Bei einem Widerruf der Niederlassungserlaubnis auf Grund des Erlöschens der Asylanerkennung ist zwar regelmäßig davon auszugehen, dass ein öffentliches Interesse an einem Widerruf besteht, sofern dem Ausländer kein gleichwertiger Aufenthaltstitel zu erteilen ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass regelhaft das öffentliche Interesse gegenüber dem privaten Interesse der Betroffenen Vorrang hat. Vielmehr sind deren persönlichen Verhältnisse angemessen zu berücksichtigen (hier ältere, an zahlreichen Erkrankungen leidende Klägerin, die sich seit ihrer Anerkennung fast 18 Jahre rechtmäßig in Deutschland aufhielt und in der Türkei auf sich allein gestellt wäre).

Schlagwörter: Niederlassungserlaubnis, Widerruf, Ermessen, Sicherung des Lebensunterhalts, Integration, Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Prozesskostenhilfe, Erfolgsaussichten
Normen: AufenthG § 52 Abs. 1 Nr. 4, AufenthG § 25 Abs. 4 S. 2, AufenthG § 25 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Hiervon ausgehend waren hinreichende Erfolgsaussichten für die Klage zu bejahen, soweit die Beklagte die Niederlassungserlaubnis der Klägerin nach Maßgabe des § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG widerrufen hat. Zwar liegen die Widerrufsvoraussetzungen vor, weil die Anerkennung als Asylberechtigte erloschen ist. Zweifelhaft ist aber, ob der Beklagte das ihm eingeräumte Ermessen bis zum Eintritt des den Rechtsstreit erledigenden Ereignisses hinreichend ausgeübt hatte.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 20. Februar 2003 - 1 C 13.02 -, InfAuslR 2003, 324; vgl. ferner VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15. Juli 2009 - 13 S 2372/08 -, NVwZ 2009, 1380) ist das nach § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG der Ausländerbehörde eingeräumte Ermessen nicht an bestimmte, das Ermessen von vornherein begrenzende und dieses steuernde Vorgaben gebunden, sondern grundsätzlich weit. Angesichts der existentiellen Betroffenheit für den betroffenen Ausländer, der infolge eines Widerrufs sein - oftmals lange währendes - Aufenthaltsrecht verliert, bedarf die Ermessensausübung und demgemäß auch die Ermessenskontrolle allerdings besonderer Sorgfalt. Im Ausgangspunkt darf die Behörde zwar regelmäßig davon ausgehen, dass ein gewichtiges öffentliches Interesse am Widerruf besteht, sofern dem Ausländer kein gleichwertiger Aufenthaltstitel zu erteilen ist, was hier offenkundig nicht der Fall ist. Dieses liegt darin begründet, dass mit der Beendigung des Status des Asylberechtigten bzw. des Flüchtlings die wesentliche und im Grunde einzige Voraussetzung für die Erteilung des Titels weggefallen ist. Auch wenn dieses öffentliche Interesse typischerweise als erheblich qualifiziert wird, bedeutet dies jedoch nicht, dass dieses sich regelhaft gegenüber den gegenläufigen privaten oder auch gegebenenfalls öffentlichen Interessen durchsetzen wird und muss. Vielmehr ist anhand einer den konkreten Einzelfall in den Blick nehmenden Abwägung den jeweils relevanten schutzwürdigen Belangen des Ausländers mit dem ihnen zukommenden Gewicht Rechnung zu tragen.

Ob die bis zum Eintritt des erledigenden Ereignisses erfolgte Ermessensausübung diesen Anforderungen genügte, ist zweifelhaft, da die im Verlauf des Klageverfahrens weder ergänzten noch aktualisierten Erwägungen (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. April 2010 - 1 C 10.09 - wonach bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit eines Bescheides, durch den eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zurückgenommen oder widerrufen wird, grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts zu Grunde zu legen ist) im angefochtenen Bescheid eine hinreichende Auseinandersetzung mit den persönlichen Verhältnissen der Klägerin vermissen lassen und sich im Wesentlichen auf die Feststellung beschränken, die Voraussetzungen für ein asylverfahrensunabhängiges Aufenthaltsrecht bestünden mangels Sicherung des Lebensunterhalts nicht und durch den Übertrag der Aufenthaltserlaubnis nach § 68 AsylVfG a.F. sei ein Vertrauensschutz nicht begründet worden.

Hinreichende Aussicht auf Erfolg bot die Klage auch, soweit sie (hilfsweise) auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gerichtet war. Die persönliche Situation der Klägerin hätte - im Falle des rechtmäßigen Widerrufs der Niederlassungserlaubnis - Anlass zur Prüfung der Voraussetzungen des § 25 Abs. 4 Satz 2 und Abs. 5 AufenthG gegeben. Insoweit wäre neben dem fortgeschrittenen Alter der an zahlreichen Erkrankungen leidenden Klägerin zu berücksichtigten gewesen, dass sie sich nach ihrer Asylanerkennung fast 18 Jahre überwiegend rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und ihre familiäre Situation dadurch geprägt war bzw. ist, dass sich sämtliche nahen Familienangehörigen, wie Kinder und Enkel, im Bundesgebiet aufhalten und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen dürften. Insoweit geht auch der Beklagte davon aus, dass die Klägerin, die Analphabetin ist, nach dem Tod ihres Ehemannes bei einer Rückkehr in die Türkei völlig auf sich allein gestellt gewesen wäre. [...]