VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 12.07.2010 - 10 A 401/09 - asyl.net: M17579
https://www.asyl.net/rsdb/M17579
Leitsatz:

In Altfällen muss über den Widerruf der Asylberechtigung bis zum 31.12.2008 entschieden sein; hierauf kann sich der Betroffene berufen. Ein späterer Widerruf ist nur bei Vorliegen neuer Umstände und einer früheren Negativentscheidung möglich.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Frist, Negativentscheidung, Ermessen,
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 7, AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1, AsylVfG § 73 Abs. 2a S. 4
Auszüge:

[...]

Der ausgesprochene Widerruf ist rechtswidrig. [...]

2. Auf die Widerrufsentscheidung ist § 73 Abs. 7 AsylVfG anzuwenden, da die widerrufene Entscheidung vor dem 01.01.2005 unanfechtbar geworden ist. Danach hat die Prüfung nach § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG spätestens bis zum 31.12.2008 zu erfolgen. Diese Frist war bei Erlass des angefochtenen Bescheides abgelaufen, was zu seiner Aufhebung führt.

a) Vorliegend ist die Prüfung zwar am 17.11.2008 durch verwaltungsinterne Entscheidung und Mitteilung an den Kläger im Anhörungsschreiben vom 19.11.2008 eingeleitet worden. Zu einer Entscheidung, d.h. dem hier angefochtenen Bescheid kam es indes erst am 28.09.2009 und damit lange nach Ablauf der Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG.

b) Nach Auffassung des Gerichts erfordert § 73 Abs. 7 AsylVfG nicht etwa nur die Einleitung des Widerrufsverfahrens, sondern grundsätzlich auch den Erlass einer ggf. zu treffenden Widerrufsentscheidung vor Ablauf des 31.12.2008.

Dieses Verständnis legen der Wortlaut, vor allem aber der Sinn und Zweck der Frist nahe; anderenfalls hätte es die Beklagte in der Hand, sich die Entscheidung auf lange Zeit nach Ablauf der Frist noch vorzubehalten, wenn sie denn nur ein Verfahren rechtzeitig eingeleitet gehabt hätte. Damit liefe die Frist praktisch leer; auch sonst würde ihr Zweck verfehlt (in diesem Sinne auch VG Hannover, Urt. v. 28.01.2010, 6 A 386/09 - in juris; auch BVerwG, Urt. v. 12.06.2007, 10 C 24/07 - in juris - legt dieses Verständnis nahe).

Ob der Beklagten in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Dreijahresfrist des § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.06.2007, a.a.O.) über den 31.12.2008 hinaus noch ein angemessener Prüfungsraum zusteht (bejahend VG Frankfurt, Urt. v. 27.01.2010, 6 K 2348/09.F.A - in juris), erscheint angesichts der unterschiedlichen Regelung in § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG ("... hat spätestens nach Ablauf von drei Jahren …zu erfolgen.") und in § 73 Abs. 7 AsylVfG ("... hat ... spätestens bis zum 31.12.2008 zu erfolgen.") fraglich. Bestenfalls käme – jedenfalls wenn besondere Gründe für eine weitere Verzögerung fehlen, etwa zeitaufwendige Nachermittlungen – in Anlehnung an § 75 Satz 2 VwGO eine Nachfrist von drei Monaten in Betracht; aber auch diese war bei Erlass des hier angefochtenen Bescheides lange verstrichen.

c) Daran, dass die Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG auch den Interessen des Ausländers zu dienen bestimmt ist und ihre Verletzung folglich zur Aufhebung eines gleichwohl ergehenden Bescheides führt, lässt sich nicht durchgreifend zweifeln. Zwar dient das Merkmal "unverzüglich" in § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ausschließlich öffentlichen Interessen, so dass ein Widerrufsbescheid nicht allein deshalb beanstandet werden kann, weil er nicht unverzüglich im Sinne dieser Vorschrift erlassen worden ist (ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, Urt. v. 12.06.2007, a.a.O. m.w.N.). Das Bundesverwaltungsgericht hat aber in der eben bereits genannten Entscheidung auch angedeutet, dass anderes zu gelten habe für die Dreijahresfrist des § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG (vgl. auch BVerwG, Urt. v. 20.03.2007 - 1 C 21/06 - in juris; Schäfer GK-AsylVfG § 73 Rn. 89). Dies muss erst recht für die absolute Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG gelten. Das Gericht folgt diesbezüglich der Begründung des VG Frankfurt (Urt. v. 27.01.2010, a.a.O.) und verweist darauf.

3. Der angefochtene Widerrufsbescheid lässt sich auch nicht unter Berücksichtigung von § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG aufrechterhalten.

a) Soweit danach ein Widerruf ermöglicht wird, setzt dies nach der ersten Satzhälfte der Vorschrift voraus, dass zuvor eine sog. Negativentscheidung ergangen ist (vgl. zu diesem Erfordernis: BVerwG, Urt. v. 20.03.2007, a.a.O.; Urt. v. 25.11.2008, 10 C 53/07 - in juris; Schäfer, a.a.O. Rn. 105). Daran fehlt es vorliegend.

b) Zum anderen ist nach Sinn und Zweck der Fristbestimmung einerseits und der Eröffnung von späteren Entscheidungen andererseits davon auszugehen, dass für eine Entscheidung nach § 73 Abs. 2 a Satz 4 AsylVfG ein Widerrufsgrund vorausgesetzt ist, der nach Ablauf der Frist entstanden oder der Beklagten bekannt geworden ist. Auch daran fehlt es hier – alle Umstände, auf die die Beklagte den Widerruf stützt, lagen bereits am 31.12.2008 vor und waren der Beklagten auch bekannt.

c) Schließlich hat die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid das ihr nach der zweiten Satzhälfte des § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG eröffnete Ermessen nicht ausgeübt. Ob ein Fall von § 60 Abs. 8 AufenthG vorliegt, der im Rahmen von § 73 Abs. 2 a Satz 4 AsylVfG einen Widerruf ohne Ermessensentscheidung ermöglicht, bedarf keiner Entscheidung, da es insoweit jedenfalls an einem neuen Umstand fehlt (vgl. oben b).

4. Die angefochtene Entscheidung lässt sich letztlich auch nicht nach § 49 VwVfG rechtfertigen. Ungeachtet aller Anwendbarkeitsfragen ist das gegebenenfalls eröffnete Ermessen nicht ausgeübt.

II.

Da der Widerruf der Asylberechtigung nicht rechtmäßig erfolgte (Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides), ist für die Aussprüche in Ziffer 2 und 3 des angefochtenen Bescheides kein Raum und sind auch sie folglich aufzuheben. [...]