VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Beschluss vom 09.07.2010 - 8 L 151/10 - asyl.net: M17555
https://www.asyl.net/rsdb/M17555
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz gegen drohende Abschiebung in die D.R. Kongo, da der Antragsteller in den Niederlanden als Flüchtling anerkannt wurde. Ein Aufenthaltsrecht in Deutschland hat der Antragsteller jedoch nicht, insbesondere ist nicht die Zuständigkeit nach dem Europäischen Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16.10.1980 (FlüVÜbk) auf Deutschland übergegangen.

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, Aufenthaltserlaubnis, Abschiebungsandrohung, anerkannter Flüchtling, Demokratische Republik Kongo, Niederlande, Fiktionswirkung, rechtmäßiger Aufenthalt, Refoulement
Normen: AufenthG § 81 Abs. 3 S. 1, SDÜ Art. 21 Abs. 1, SDÜ Art. 5 Abs. 1, GFK Art. 28 Abs. 1, FlüVÜbk Art. 2, GFK Art. 33 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gilt der Aufenthalt eines Ausländers, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ohne einen Aufenthaltstitel zu besitzen, und die Erteilung eine Aufenthaltstitels beantragt, bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt. Wird der Antrag verspätet gestellt, gilt ab dem Zeitpunkt der Antragstellung bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde die Abschiebung als ausgesetzt (Satz 2). Aus der systematischen Stellung des Satzes 2 folgt, dass für den Eintritt der Aussetzungsfiktion erforderlich ist, dass der Ausländer sich - wie in Satz 1 vorausgesetzt - zunächst rechtmäßig ohne Aufenthaltstitel im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG im Bundesgebiet aufgehalten und den Erlaubnisantrag dann verspätet, also nach Ablauf des rechtmäßigen titelfreien Aufenthalts gestellt hat. Der Antragsteller war zwar im Besitz eines am 2. Juni 2003 in B. ausgestellten bis zum 26. Mai 2008 gültigen niederländischen Aufenthaltstitels ("Verblijfsdocument"), der ihn nach Maßgabe von Art. 21 Abs. 1 SDÜ auch zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigte, allerdings höchstens bis zu drei Monaten ab der - wie sich aus der Bezugnahme auf die Einreisevoraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 SDÜ ergibt - Einreise in das Bundesgebiet. Wann der Antragsteller in das Bundesgebiet eingereist ist, steht vorliegend allerdings nicht fest. Die Ausländerbehörde erhielt vom Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet erstmals aufgrund einer Anzeige vom 6. Juni 2007 Kenntnis. Ausweislich der Feststellungen im Strafbefehl des Amtsgerichts B1. vom 17. September 2007 hielt der Antragsteller sich aber bereits zum Tatzeitpunkt der Unterschlagung am 30. März 2007 in Aachen auf. Nach den Angaben der Lebensgefährtin des Antragstellers in dem - erfolgreichen - Antrag auf Unterlassung gemäß § 1 GewSchG vom 22. Dezember 2009 pflegten sie und der Antragsteller zudem seit 5 Jahren eine Beziehung und die gemeinsame Wohnung "K. Str. 374 in B1." wurde bereits am 1. Oktober 2006 von ihnen zusammen angemietet. Der Aufenthalt des Antragstellers war damit bezogen auf jeden denkbaren Einreisezeitpunkt zur Zeit der Antragstellung am 14. September 2009 jedenfalls nicht mehr rechtmäßig im Sinne des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Die sich dann stellende Frage, ob bezogen auf einen möglichen Einreisezeitpunkt bereits vor dem 1. Oktober 2006 - oder auch früher - die Antragstellung am 14. September 2009 und damit nach Ablauf von knapp einem Jahr - und ggf. mehr - noch als "verspätet" im Sinne des § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG anzusehen ist oder ob es insoweit an einem auch in diesem Zusammenhang zu fordernden zeitlich-inneren Zusammenhang fehlte, so dass der Eintritt der Aussetzungsfiktion ausgeschlossen ist (vgl. hierzu: Funke-Kaiser in GKAufenthG, a.a.O., § 81 Rn. 20.2 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 23. März 2006 - 18 B 120/06 -, InfAuslR 2006, 448 zu § 81 Abs. 4 AufenthG), bedarf hier keiner abschließenden Klärung. [...]

Schließlich kann der Antragsteller nach dem gegenwärtigen Sachstand die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auch nicht mit Blick darauf beanspruchen, dass er nach den Feststellungen der Ausländerbehörde wohl in den Niederlanden als Asylberechtigter anerkannt worden ist (vgl. Bl. 44 der Ausländerakte).

Die insoweit allenfalls in Betracht zu ziehenden Bestimmungen der §§ 25 Abs. 1 und 25 Abs. 2 AufenthG setzen eine - sich auf das Bundesgebiet beziehende - An- bzw. Zuerkennungsentscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge voraus (§§ 4, 5 Abs. 1 AsylVfG), woran es im Falle einer Asylanerkennung durch einen andere Staat - wie möglicherweise hier - jedoch fehlt.

Insbesondere ist auch weder etwas dafür vorgetragen noch aufgrund der bisherigen Erkenntnislage sonst ersichtlich, dass die Verantwortung für den Antragsteller sei es nach Maßgabe von Art. 28 Abs. 1 GFK i.V.m. § 11 des Anhangs zur GFK, sei es nach Maßgabe von Art. 2 des Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16. Oktober 1980 - FlüVÜbk -, dem die Bundesrepublik Deutschland durch Gesetz vom 30. September 1994 (BGBl. 1994 II, S. 2645) zugestimmt hat, auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen ist, mit der Folge dass die Anerkennungsentscheidung des ausländischen Staates auch in der Bundesrepublik Deutschland gilt (vgl. BT-Drs. 13/4948, S. 11 zu § 73 a AsylVfG). Abgesehen davon, dass beide Bestimmungen im Grundsatz voraussetzen, dass der Flüchtling sich im Gebiet des Aufnahmestaates rechtmäßig niedergelassen hat (vgl. § 11 Anhang zur GFK) bzw. ihm der Aufenthalt vom Aufnahmestaat dauernd oder länger als für die Gültigkeit des Reiseausweises gestattet worden ist (vgl. Art. 2 Abs. 1 FlüVÜbk), woran es hier jedoch gerade fehlt, hat der Antragsteller bereits zu keinem Zeitpunkt einen von den niederländischen Behörden ausgestellten Reiseausweis für Flüchtlinge nach Art. 28 Abs. 1 GFK vorgelegt (vgl. ebenso VGH Bayern, Beschluss vom 13. Oktober 2008 - 10 ZB 08.2470 -, juris).

Soweit der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die in der Ordnungsverfügung enthaltene Abschiebungsandrohung begehrt, ist hingegen der Antrag gemäß § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. § 8 AG VwGO NRW zulässig und auch begründet.

Bei der insoweit vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegt das private Interesse des Antragstellers an einem einstweiligen Aufschub der Vollziehung - vorerst - das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes. Es bestehen nämlich durchgreifende rechtliche Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung, soweit dem Antragsteller darin die Abschiebung in sein Heimatland - die Demokratische Republik Kongo - angedroht wird.

Zwar sind die gesetzlichen Vorgaben für den Erlass einer Abschiebungsandrohung nach §§ 59, 50 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich erfüllt. Der Antragsteller ist - wie dargelegt - ausreisepflichtig (vgl. § 50 Abs. 1 AufenthG). Auf die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht, die sich hier im Übrigen gemäß § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG aus der verspäteten Antragstellung ergibt, kommt es für die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung hingegen nicht an (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. Februar 2009 - 18 A 2620/08 -, juris; Beschluss der Kammer vom 31. Juli 2009 - 8 L 254/09 -).

Auch steht dem Erlass der Abschiebungsandrohung das Vorliegen etwaiger Abschiebungsverbote gemäß § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht entgegen. Dies gilt selbst für den Fall, dass ein Ausländer abgeschoben werden soll, bei dem die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen (vgl. § 60 Abs. 10 Satz 1 AufenthG). Allerdings ist beim Vorliegen von Abschiebungsverboten nach Maßgabe von § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG und von § 60 Abs. 10 Satz 2 AufenthG in der Abschiebungsandrohung der Staat zu bezeichnen, in den der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

Davon ausgehend spricht vorliegend Erhebliches dafür, dass der Antragsgegner dem Antragsteller zu Unrecht die Abschiebung in sein Heimatland - die Demokratische Republik Kongo - angedroht hat. Denn nach dem bisherigen Sach- und Streitstand, wie er sich aus der Ausländerakte ergibt, weist Einiges darauf hin, dass der Antragsteller in den Niederlanden als Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II S. 559) - GFK - anerkannt worden ist. Nach der - nationalen - Bestimmung des § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG besteht das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, der das in Art. 33 Abs. 1 GFK verankerte Refoulement-Verbot für Flüchtlinge im Sinne von Art. 1 GFK konkretisiert, jedoch ausdrücklich auch für solche Ausländer, die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt worden sind. Einer gesonderten Feststellung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zum Vorliegen des Flüchtlingsstatus bedarf es in diesen Fällen, wie sich unmittelbar aus § 60 Abs. 1 Satz 6 AufenthG ergibt ("außer in den Fällen des Satzes 2"), gerade nicht. Vielmehr hat die Ausländerbehörde die Zulässigkeit einer Abschiebung in Anknüpfung an die formale Rechtsstellung als Flüchtling bei Erlass einer Abschiebungsandrohung selbst zu prüfen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. November 2006 - 1 B 30.06 (1 C 40.06) -, juris, Rn. 2; OVG Niedersachsen, Urteil vom 7. Dezember 2005 - 11 LB 193/04 -, InfAuslR 2006, 58 = juris, Rn. 38; OVG NRW, Beschluss vom 4. Februar 1999 - 21 A 4014/98.A -, juris; Treiber in GKAufenthG, Band 3, § 60 Rn. 205).

Zwar wird die Flüchtlingsstellung im Sinne des Art. 1 GFK regelmäßig durch einen Reiseausweis für Flüchtlinge nach Art. 28 Abs. 1 GFK dokumentiert, woran es im Fall des Antragstellers - wie dargelegt - jedoch fehlt. Allerdings ergeben sich aus der Ausländerakte gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller die Rechtsstellung als Flüchtling nach wie vor inne hat. So haben die niederländischen Behörden ("Vreemdelingendienst Heerlen") der Ausländerbehörde des Antragsgegners unter dem 12. Januar 2010 mitgeteilt, dass der Antragsteller das Aufenthaltsrecht, das inzwischen allerdings erloschen sei, weil der Antragsteller die Aufenthaltserlaubnis nicht innerhalb eines Jahres nach deren Ablauf verlängert habe, aufgrund der Anerkennung seines Asylstatus besessen habe. Gleichzeitig teilte der zuständige Sachbearbeiter mit, dass ein Asylberechtigter in den Niederlanden seinen Asylstatus - anders als dies § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG vorsieht - nicht dadurch verliere, dass er - wie der Antragsteller - einen Nationalpass des Landes seiner Staatsangehörigkeit annehme, sondern vielmehr erst durch Einreise in den Heimatstaat (vgl. Bl. 44 der Ausländerakte). Vor diesem Hintergrund erscheint es hinreichend wahrscheinlich, dass ungeachtet des Erlöschen des Aufenthaltsrechts für die Niederlande der Asylstatus des Antragstellers und damit wohl auch dessen Rechtsstellung als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention noch fortbesteht, mit der Folge, dass er gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 AufenthG nicht in die Demokratische Republik Kongo abgeschoben werden darf.

Abschließend weist die Kammer darauf hin, dass sich der danach bestehende Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 AufenthG lediglich auf den Heimatstaat des Antragstellers, nicht jedoch auf sonstige sichere Drittstaaten erstreckt. Dem Antragsgegner bleibt es daher unbenommen - nach abschließender Klärung des Flüchtlingsstatus des Antragstellers ggf. unter Einschaltung der zuständigen niederländischen Behörden oder auch des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge - die Abschiebungsandrohung in Bezug auf den Abschiebezielstaat entsprechend zu ändern und sodann ggf. einen Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO zu stellen. [...]