VG Aachen

Merkliste
Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 15.07.2010 - 6 K 1134/07.A - asyl.net: M17553
https://www.asyl.net/rsdb/M17553
Leitsatz:

1. In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob auch der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit zum Erlöschen der Asylanerkennung nach § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG führt. Die Kammer folgt dem OVG Schleswig (Urteil vom 28.6.07 - 1 LB 4/07 - asyl.net, M12003) und bejaht das Erlöschen. Daher rechtmäßiger Widerruf des Familienasyls nach Einbürgerung des stammberechtigten Vaters.

2. Feststellung eines krankheitsbedingten Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG, da der Kläger an einer chronisch verlaufenden paranoid-halluzinatorischen Psychose (ICD-10: F 20) leidet. Er bedarf der engmaschigen Beaufsichtigung bzw. Überwachung durch eine Betreuungsperson, wäre bei einer Rückkehr in der Türkei aber auf sich gestellt. Staatliche Hilfsprogramme können die fehlende familiäre Hilfe angesichts der Defizite der medizinischen Versorgung in der Türkei nicht auffangen.

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Familienflüchtlingsschutz, Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Türkei, Staatsangehörigkeitsrecht, Einbürgerung, Erlöschen, medizinische Versorgung, psychische Erkrankung, Betreuung, Yesil Kart, Familienasyl
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1, AsylVfG § 26, AsylVfG § 73 Abs. 2b S. 2, AsylVfG § 73 Abs. 1 Nr. 3, GFK Art. 34 S. 1
Auszüge:

[...]

1. Die Voraussetzungen des § 73 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG), auf den der in Ziffer 1. des angefochtenen Bescheides ausgesprochene Widerruf gestützt ist, liegen vor.

Nach § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG ist die Anerkennung als Asylberechtigter unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. In den Fällen des § 26 Abs. 1, 2 und 4 AsylVfG ist gemäß § 73 Abs. 2b S. 2 AsylVfG die Asylanerkennung ferner zu widerrufen, wenn die Anerkennung des Asylberechtigten, von dem die Anerkennung abgeleitet worden ist, erlischt, widerrufen oder zurückgenommen wird und der Ausländer nicht aus anderen Gründen als Asylberechtigter anerkannt werden könnte. Diese Regelung, die dem § 73 Abs. 1 S. 2 AsylVfG alte Fassung entspricht, bringt den akzessorischen Rechtscharakter des Ehegatten- und Familienasyls zum Ausdruck, die sowohl in den Voraussetzungen als auch im Fortbestand von der originären Asylberechtigung abhängig sind. Das Erlöschen der Asylberechtigung ergibt sich aus § 72 Abs. 1 AsylVfG.

Nach § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG erlischt die Anerkennung als Asylberechtigter, wenn der Ausländer auf Antrag eine neue Staatsangehörigkeit erworben hat und den Schutz des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er erworben hat, genießt. In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob auch der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit unter diese Regelung fällt. Dies bejaht das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht (OVG Schleswig) in seinem Urteil vom 28. Juni 2007 (1 LB 4/07) mit folgender Begründung:

"Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 S. 2 AsylVfG lägen nicht vor, weil die Einbürgerung nicht zum Erlöschen des Asylrechts führe, trifft nicht zu. Gemäß § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG erlischt die Anerkennung als Asylberechtigter, wenn der Ausländer auf Antrag eine neue Staatsangehörigkeit erworben hat und den Schutz des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er erworben hat, genießt. Dies ist hier der Fall, denn die Mutter des Klägers hat auf ihren Antrag die deutsche Staatsangehörigkeit erworben und genießt als solche den Schutz der Bundesrepublik. Nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift ist § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG auch für die Einbürgerung des Stammberechtigten in die Bundesrepublik Deutschland anzuwenden. [...]"

Soweit in der vom Kläger in Bezug genommenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 27. August 2009 - A 11 K 624/08 -, a.a.O.) unter Bezugnahme auf das Wohlwollensgebot des Art. 34 Satz 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK -) vom 28. Juli 1951 (BGBl 1953 II S. 559) ausgeführt wird:

"Auch wenn dies nicht bedeuten kann, dass Asylberechtigte, die etwa die allgemeinen Einbürgerungsvoraussetzungen nicht erfüllen, unmittelbar aus Art. 34 GFK einen Einbürgerungsanspruch besitzen, so verbietet diese Bestimmung jedenfalls - umgekehrt - für diese Personengruppe eigens Einbürgerungshindernisse zu errichten, und sei es auch durch Herbeiführen einer psychischen Zwangslage. Gerade solches wäre aber zu konstatieren, würde man die Einbürgerung in den deutschen Staatsverband uneingeschränkt als Erlöschensgrund nach § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG mit der dann zwingenden Widerrufsfolge des § 73 Abs. 2b Satz 2 AsylVfG ansehen",

folgt die Kammer dem nicht.

In Art. 34 Satz 1 GFK haben sich die vertragsschließenden Staaten verpflichtet, "soweit wie möglich die Eingliederung und die Einbürgerung der Flüchtlinge [zu] erleichtern". Die Bestimmung enthält ein Wohlwollensgebot des Gesetzgebers zugunsten der Flüchtlinge, das Behörden und Gerichte bindet und auf dessen Beachtung die Flüchtlinge einen Anspruch haben. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) führt in seinem auch vom Kläger zitierten Urteil vom 1. Juli 1975( - I C 44.70 -, BVerwGE 49, 44) hierzu aus:

"Art. 34 GFK kann zu seinem vollen Verständnis nicht isoliert betrachtet, muss vielmehr im Rahmen der Wertordnung des Grundgesetzes gesehen werden. Auf Grund leidvoller geschichtlicher Erfahrung hat die Bundesrepublik Deutschland im Grundgesetz die Wahrung humanitärer Anliegen zur besonderen Aufgabe aller staatlichen Organe gemacht. In diesen Zusammenhang gehört, dass sie den Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit und das Asylrecht mit Grundrechtscharakter ausgestattet hat (Art. 16 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG). Von hier aus gewinnt Art. 34 GK zusätzliches Gewicht. Ausländische Flüchtlinge im Sinne der GK sind zugleich Asylberechtigte im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG. Sie gehören mithin zu einer Menschengruppe, für deren Schicksal das Grundgesetz aus humanitären Gründen besondere Vorsorge getroffen hat. Daraus ergibt sich, dass eine befriedigende Regelung des Schicksals der politisch Verfolgten, die in der Bundesrepublik Deutschland Aufnahme gefunden haben, eine staatlichen Interessen dienende und von den Staatsorganen zu beachtende Aufgabe ist ...

... Auch bei den asylberechtigten Bewerbern muss die Behörde die allgemein maßgeblichen Einbürgerungsgesichtspunkte sämtlich in ihren Ermessenserwägungen berücksichtigen. Jedoch ist durch das gruppentypische Schicksal dieser Personen aus der Wertordnung des Grundgesetzes heraus ein besonderes Interesse an der Einbürgerung präjudiziert. Das führt dazu, dass die Behörde den Einbürgerungsantrag des Asylberechtigten, dessen volle Eingliederung in die hiesigen Lebensverhältnisse erfolgt ist oder doch gewährleistet erscheint, im Rahmen sachgerechter Ermessensausübung nur ablehnen darf, wenn andere staatliche Interessen entgegenstehen und überwiegen. Solche Interessen können aus Bedenken hervorgehen, die gegen die Person des Einbürgerungsbewerbers zu erheben sind. Sie können sich auch aus unabhängig von seiner Person bestehenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedenken ergeben. Zu ihnen zählen auch gebotene Rücksichten auf das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu anderen Staaten."

Art. 34 GFK gebietet den vertragsschließenden Staaten demnach seinem Wortlaut und seiner Zielrichtung nach, über Einbürgerungsanträge von anerkannten Asylberechtigten "wohlwollend" zu entscheiden, es erfasst also unmittelbar allein inbürgerungsentscheidungen. Das Wohlwollensgebot wirkt somit lenkend auf das Ermessen bei der Einbürgerung. [...]

Nach dem zuvor Gesagten soll den Asylberechtigten die Einbürgerung so weit wie möglich erleichtert werden. Diese völkervertragsrechtliche Vorgabe gebietet aber nicht, von nichtdiskriminierenden Einbürgerungsvoraussetzungen abzusehen, die unabhängig vom Flüchtlingsstatus sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Februar 2009 - 5 C 22.08 -, a.a.O., mit weiteren Nachweisen).

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist über Einbürgerungsanträge von Asylberechtigten zu entscheiden. Dies steht im vorliegenden Zusammenhang aber überhaupt nicht in Rede. Es geht nicht um möglicherweise zu weitgehende Anforderungen oder unerfüllbare Voraussetzungen für die Einbürgerung. Es geht vielmehr darum, dass ein Einbürgerungswilliger möglicherweise durch die eingangs dargestellte Auslegung des § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG mit der zwingenden Widerrufsfolge des § 73 Abs. 2b Satz 2 AsylVfG davon abgehalten werden könnte, den Einbürgerungsantrag zu stellen, um seinen Familienangehörigen den Status als Familienasylberechtigte zu erhalten. Dass derartige Rechtsreflexe und Fernwirkungen einer erfolgreichen Einbürgerung vom Wohlwollensgebot erfasst werden, ist nach Auffassung der Kammer der Regelung des Art. 34 GFK aber nicht zu entnehmen. Eine Erstreckung auf mögliche, individuell sicher auch unterschiedliche psychische Gefühlslagen, die nicht die Voraussetzungen der eigenen Einbürgerung, sondern völlig andere Rechtskreise Dritter betreffen, ist zu weitgehend. Die von jedem Einzelnen aus den unterschiedlichsten Motiven zu treffende Entscheidung, einen Einbürgerungsantrag zu stellen, mag im Einzelfall aus den aufgezeigten Gründen zu einer psychischen Zwangslage führen. Hiervor schützt das Wohlwollensgebot des Art. 34 GFK jedoch nach Auffassung der Kammer nicht. [...]

Familienasylberechtigten und auch eine mögliche Aufenthaltsbeendigung hat die Einbürgerung des Stammberechtigten - wie auch der zur Entscheidung stehende Fall zeigt - unmittelbar überhaupt keinen Einfluss. Im konkreten Fall hat sich der Vater des Klägers von der vermeintlichen Zwangslage schließlich offensichtlich auch unbeeindruckt gezeigt.

Nach alledem ist die Regelung der §§ 72 Abs. 1 Nr. 3, 73 Abs. 2b S. 2 AsylVfG nicht in dem vom Kläger gemeinten Sinn einschränkend auszulegen. Die Voraussetzungen des Erlöschenstatbestandes sind vorliegend damit erfüllt. Denn die Asylanerkennung seines stammberechtigten Vaters, von dem der Kläger seine Rechtsstellung ableitet, ist in Folge dessen Einbürgerung im Jahre 2001 gemäß § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG kraft Gesetzes erloschen. [...]

2. Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht. Insoweit erweist sich Ziffer 3. des angefochtenen Bescheides als rechtswidrig. [...]

Gemessen an diesen (strengen) Anforderungen steht dem Kläger ein zielstaatsbezogener Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu. Denn es ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass sich sein Gesundheitszustand nach einer Abschiebung in die Türkei wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlimmern wird.

In der Türkei ist die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung durch das öffentliche Gesundheitssystem und den sich ausweitenden Sektor der Privatgesundheitseinrichtungen grundsätzlich gewährleistet. Auch die für den Kläger notwendige ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arzneimitteln ist generell verfügbar. [...] Auch eine medizinische Versorgung sowie die Behandlungsmöglichkeit psychischer Erkrankungen ist grundsätzlich türkeiweit gegeben. [...] Allerdings gibt es Dauereinrichtungen für psychisch kranke Erwachsene - die von der türkischen Ärzteschaft oft unter Hinweis auf eine bessere Pflege in den Familien abgelehnt werden - nur in Form von geschlossenen Einrichtungen, die chronisch erkrankte Patienten aufnehmen, die keine familiäre Unterstützung haben oder eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen. [...] Als Defizit ist schließlich festzustellen, dass die Situation psychisch Kranker in der Türkei durch eine Dominanz krankenhausorientierter Betreuung bei gleichzeitigem Fehlen differenzierter ambulanter (Tageskliniken und/oder -stätten) und komplementärer Versorgungsangebote (z.B. Beratungsstellen, Kontaktbüros, betreutes Wohnen etc.) gekennzeichnet ist. [...]

Trotz der aufgezeigten Defizite ist damit durch die dargestellte medizinische Grundversorgung in der Türkei die für den Kläger notwendige ärztliche Behandlung und die Versorgung mit Arzneimitteln grundsätzlich gewährleistet.

Nach dem Inhalt der Akten leidet der Kläger an einer chronisch verlaufenden paranoid-halluzinatorischen Psychose (ICD-10: F 20) nach jahrelangem Drogenmissbrauch. Die für die paranoid-halluzinatorische Psychose - eine Dauererkrankung - im Falle aktueller Exazerbationen erforderliche stationäre und im Übrigen dauerhaft notwendige medikamentöse Behandlung und ambulante Therapierung des Klägers ist in der Türkei gesichert. [...]

Die Durchführung der notwendigen Behandlung insbesondere mit Medikamenten würde auch nicht an einer eventuellen Mittellosigkeit des Klägers scheitern.

Bedürftige haben das Recht, sich von der Gesundheitsverwaltung eine "Grüne Karte" (Yesil Kart) ausstellen zu lassen, die zu kostenloser medizinischer Versorgung im staatlichen Gesundheitssystem berechtigt. Inhaber der "Grünen Karte" haben grundsätzlich Zugang zu allen Formen der medizinischen Versorgung. [...]

Mit der nach Ablauf einer - zunächst bis zum 30. September 2010 bestimmten - Übergangsphase vorgesehenen Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherung für alle Personen, einschließlich der unter 18-jährigen, soll schließlich eine einheitliche gesundheitliche Versorgung aller Bürger mit im Wesentlichen gleichen Bezugsvoraussetzungen und Leistungsansprüchen sichergestellt werden. Für Ende 2010 ist zudem die flächendeckende Ausdehnung des bereits eingeführten, aber noch im Aufbau befindlichen Hausarztsystems geplant (vgl. im Einzelnen: Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. April 2010, S. 26 f.).

Dies zugrundegelegt ist zwar nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass dem Kläger die erforderliche medizinische Behandlung einschließlich der laufenden Arzneimittelversorgung in der Türkei aus finanziellen Gründen versagt bleiben wird.

Dennoch begründet die in Rede stehende Krankheit des Klägers ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, weil beachtlich wahrscheinlich ist, dass der Kläger in der Türkei die notwendige ärztliche Behandlung nicht erlangen kann. Denn nach Überzeugung des Gerichts wird die notwendige Behandlung und Medikation des Klägers in der Türkei daran scheitern, dass er die gebotene Beaufsichtigung und Betreuung mit dem Ziel, die in Deutschland durchgeführte nervenärztliche Behandlung einschließlich der medikamentösen Therapie im Heimatland kontinuierlich fortzuführen, nicht erlangen könnte.

Ob bei Vorliegen einer paranoid-halluzinatorischen Psychose der Betroffene die gebotene Beaufsichtigung und Betreuung nach der Rückkehr in sein Heimatland erhalten wird, ist in Bezug auf die Türkei wegen der dargelegten Defizite in der ambulanten Betreuung psychisch Kranker in der Türkei nicht generell, sondern individuell in jedem Einzelfall nach Würdigung der Besonderheiten des Einzelfalls zu entscheiden. Ist zu erwarten, dass die Defizite des Gesundheitswesens in der Türkei nicht durch Dritte - bei denen es sich in der Regel um Verwandte des Betroffenen handeln wird - ausgeglichen werden, ist Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren; ist jedoch davon auszugehen, dass der Betroffene die notwendige Beaufsichtigung und Betreuung mit Hilfe Dritter erhalten wird, steht ihm kein Abschiebungsschutz zu (vgl. (im Einzelfall Abschiebungsschutz bejahend): OVG Schleswig, Beschluss vom 4. Juli 2003, - 4 LB 183/02 -, <juris>; OVG NRW, Beschluss vom 19. Februar 2004 - 15 A 671/04 -, <juris>; VG Düsseldorf, Urteil vom 1. März 2004, - 4 K 9251/03.A -, <juris>; sowie (im Einzelfall Abschiebungsschutz verneinend): OVG NRW, Urteil vom 18. Januar 2005 - 8 A 1242/03.A -, a.a.O.; VG Aachen, Urteile vom 9. April 2003, - 6 K 1923/00.A -, und vom 18. September 2008 - 6 K 913/07.A -, beide <juris>).

Wenn auch vor dem Hintergrund der auf die islamische Tradition zurückzuführenden starken familiären Bande in der türkischen Bevölkerung regelmäßig zu erwarten ist, dass ein Rückkehrer die erforderliche Hilfe und Betreuung durch Familienangehörige erhalten kann, so trifft dies im Fall des Klägers nicht zu.

Aufgrund der Angaben des derzeit bestellten Betreuers in der mündlichen Verhandlung sowie des der Bestellung zugrunde liegenden psychiatrisch-neurologischen Fachgutachtens des Facharztes für Nervenheilkunde Dr. med. L. ist davon auszugehen, dass der Kläger zur Bewältigung seines Alltages und seiner eigenen Angelegenheiten "auch nicht in geringstem Umfang in der Lage und in allen Bereichen des täglichen Lebens auf fremde Hilfe angewiesen" ist. Diese Diagnose hat das Amtsgericht B. im Beschluss veranlasst, unter anderem für den Bereich der Gesundheitsfürsorge für zunächst 7 Jahre einen Berufsbetreuer zu bestellen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich als Bild vom notwendigen Umfang der Betreuung des Klägers in der Türkei, dass er ebenso wie in Deutschland der engmaschigen Beaufsichtigung bzw. Überwachung durch eine Betreuungsperson bedarf, um sicherzustellen, dass er auch in der Türkei die notwendige ärztliche und medikamentöse Versorgung erhält. Alleine ist der Kläger hierzu nicht in der Lage.

Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger die vorstehend beschriebene notwendige Betreuung in der Türkei nicht erhalten kann. Insbesondere eine Betreuung durch Familienangehörige ist dort offenbar nicht möglich. Insoweit ergibt sich aus dem Akteninhalt sowie aus den nicht anzuzweifelnden ergänzenden Angaben seines Vaters in der mündlichen Verhandlung, dass die Eltern des Klägers, sämtliche Geschwister und auch die Großeltern und entferntere Verwandte sämtlich in Schweden oder in Deutschland leben. Insbesondere der Vater des Klägers, bei dem dieser derzeit lebt, der ihn im Alltag begleitet und betreut und der die maßgebliche Bezugsperson für den Kläger darstellt, ist inzwischen - wie aufgezeigt - deutscher Staatsangehöriger geworden, von dem auch angesichts der in seinem Fall festgestellten politischen Verfolgung in der Türkei nicht erwartet werden kann, dass er dorthin zurückkehrt. Der Kläger wäre im Fall einer Rückkehr in die Türkei daher vollkommen auf sich gestellt und müsste sich ohne Hilfe und Betreuung durch Dritte um seine alltäglichen Bedürfnisse und insbesondere auch seine medizinische Versorgung einschließlich deren Finanzierung kümmern. Hierzu ist er aber nachgewiesenermaßen nicht in der Lage. Dass das Fehlen familiärer Hilfe in ausreichendem Maße durch möglicherweise zu erreichende staatliche Hilfsprogramme aufgefangen werden kann, ist nach den zuvor dargelegten Defiziten der medizinischen Versorgung in der Türkei nicht zu erwarten. [...]