OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24.06.2010 - 2 B 16.09 - asyl.net: M17533
https://www.asyl.net/rsdb/M17533
Leitsatz:

Zur Erteilung eines Schengen-Besuchsvisums bei begründeten Zweifeln an der Rückkehrbereitschaft.

Schlagwörter: Visum, Visumsverfahren, Schengen-Visum, Rückkehrbereitschaft, Erledigung, effektiver Rechtsschutz, Ermessen, begründete Zweifel, Verhältnismäßigkeit, Prognose, Schutz von Ehe und Familie
Normen: SGK Art. 5 Abs. 1 Bst. e, VK Art. 14 Abs. 1 Bst. a, VO 810/2009/EG Art. 14 Abs. 3, VO 810/2009/EG Art. 21 Abs. 1, VO 810/2009/EG Art. 32 Abs. 1, AufenthG § 6, GG Art. 19 Abs. 4, AufenthG § 81, AEUV Art. 216 Abs. 2, GG Art. 6, EMRK Art. 8, GR-Charta Art. 7
Auszüge:

1. Ein Verpflichtungsbegehren, das ein Schengen-Visum zum Gegenstand hat, erledigt sich auch nach Ablauf der im Antrag bezeichneten Reisedaten nicht, wenn dem Begehren erkennbar kein zeitlich bestimmter Reiseanlass zugrunde liegt, sondern dieses fortbesteht und vom Antragsteller weiterverfolgt wird. In diesen Fällen gebietet es Art. 19 Abs. 4 GG, im Wege der Verpflichtungsklage über das Visumsbegehren zu entscheiden.

2. Die Erteilung eines Schengen-Visums richtet sich nach Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (- Visakodex -, ABl. L 243 S. 1); die in § 6 AufenthG zur Erteilung von Schengen-Visa getroffenen Regelungen finden keine Anwendung mehr.

3. Die Entscheidung über die Erteilung eines Schengen-Visums, das für das gesamte Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten gültig sein soll (einheitliches Visum), ist im Visakodex als gebundene Entscheidung ausgestaltet. Die Erfüllung der materiellen Erteilungsvoraussetzungen unterliegt uneingeschränkt der gerichtlichen Überprüfung.

4. Die Erteilung eines einheitlichen Visums ist nach Maßgabe des Visakodex zu versagen, wenn nach dem Ergebnis einer umfassenden Risikobewertung begründete Zweifel an der Rückkehrbereitschaft des Antragstellers bestehen. An der zur alten Rechtslage ergangenen obergerichtlichen Rechtsprechung, wonach Zweifel an der Rückkehrbereitschaft der Visumserteilung auf der Tatbestandsebene nur dann entgegenstehen, wenn die Wahrscheinlichkeit eines beabsichtigten dauerhaften Verbleibs höher einzuschätzen ist als die Wahrscheinlichkeit der Rückkehr, wird nicht festgehalten.

5. Das Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Ukraine über Erleichterungen bei der Erteilung von Visa (ABl. EU 2007 L 332 S. 68) hat Vorrang gegenüber dem Visakodex, soweit es Regelungen zur Erteilung von Visa enthält. So schließen die Regelungen in Art. 4 des Abkommens zum Nachweis des Reisezwecks weitergehende Nachweisanforderungen aufgrund von Art. 5 Abs. 1 Buchstabe c Schengener Grenzkodex oder von Art. 14 Abs. 1 Buchstabe a und Abs. 3 Visakodex aus. Dagegen lässt das Abkommen die nach Art. 21 Abs. 1 und. Art. 32 Abs. 1 Visakodex gebotene Beurteilung, ob das Risiko der rechtswidrigen Einwanderung besteht, und ob der Antragsteller beabsichtigt, vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des beantragten Visums das Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten zu verlassen, sowie eine daran ggf. anknüpfende Visumsversagung unberührt.

(Amtliche Leitsätze)

[...]

Die Kläger, ukrainische Staatsangehörige, begehren die Erteilung von Schengen-Visa zum Besuch ihres Ehemannes bzw. Vaters, der ebenfalls ukrainischer Staatsangehöriger ist. [...]

Die Klage hat weder mit dem Hauptantrag noch mit dem Hilfsantrag Erfolg.

1. Das Verwaltungsgericht hat die mit dem Hauptantrag weiterverfolgte Verpflichtungsklage zu Recht abgewiesen. [...].

a) Die Klage ist zulässig. Statthafte Klageart ist die Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO). Die Kläger haben ein rechtsschutzwürdiges Interesse an einer gerichtlichen Entscheidung über das von ihnen prozessual geltend gemachte Verpflichtungsbegehren.

Zwar ist der Besuchszeitraum vom 6. bis 26. August 2008, den die Kläger in den Antragsformularen angegeben hatten, zwischenzeitlich verstrichen, so dass die Erteilung von Visa für diesen Zeitraum objektiv nutzlos für sie geworden ist. Das den Visumsanträgen zugrundeliegende Besuchsbegehren hat sich gleichwohl nicht aufgrund Zeitablaufs erledigt. Denn der Besuchswunsch der Kläger war nicht an ein bestimmtes, terminlich feststehendes Ereignis gebunden und bestand unabhängig davon, ob er sich bereits kurzfristig zu den bezeichneten Reisedaten oder erst zu einem späteren Zeitpunkt realisieren lassen würde. Dies war für die Beklagte auch ohne Weiteres anhand der Angaben erkennbar, die die Klägerin bei ihrer Befragung durch Botschaftsangehörige zum Zweck der Reise gemacht hat. Wie in dem hierüber angefertigten Vermerk sinngemäß festgehalten, sollte der Besuch den Klägern dazu dienen, die Lebensbedingungen ihres Ehemannes bzw. Vaters in der Bundesrepublik Deutschland kennenzulernen, um auf der Grundlage der dabei gewonnenen Einschätzung eine endgültige Entscheidung über den bereits ins Auge gefassten Familiennachzug treffen zu können. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Kläger auf den Antragsformularen einen kalendarisch bestimmten Besuchszeitraum eingetragen haben. [...]

In dieser Situation widerspräche es der Verpflichtung der Gerichte zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), die Visumsbegehren unter Hinweis auf das Antragserfordernis (vgl. § 81 AufenthG) als erledigt anzusehen und die Kläger auf die wegen des erforderlichen besonderen Rechtsschutzinteresses prozessual ungünstigere und zugleich rechtsschutzschwächere Fortsetzungsfeststellungklage (§ 113 Abs. 1Satz 4 VwGO entsprechend) zu verweisen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 9. Oktober 2008 – OVG 12 B 44.07 –, S. 8 UA, und Beschluss vom 1. April 2009 – OVG 12 M 113.08 –, juris Rn. 3; a.A. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. Dezember 2009 – OVG 3 B 6.09 –, juris, Rn. 29 ff.). [...]

b) Die Verpflichtungsklage ist jedoch unbegründet, da die Voraussetzungen für die Erteilung der beantragten Visa nicht vorliegen.

Rechtsgrundlage für die Erteilung der streitgegenständlichen Schengen-Visa ist nunmehr allein die auf Art. 62 Nr. 2 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) gestützte Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (– Visakodex, VK –, ABl. EU L 243 S. 1), die in den hier maßgeblichen Teilen seit dem 5. April 2010 gilt (Art. 58 Abs. 2 VK). Nach Art. 1 Abs. 1 VK werden mit dieser für die an den Schengen-Besitzstand gebundenen Mitgliedsstaaten unmittelbar geltenden Verordnung die Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von höchstens drei Monaten je Sechsmonatszeitraum festgelegt. [...] Die in § 6 AufenthG getroffenen Regelungen sind deshalb nicht mehr anwendbar, soweit sie die Erteilung von Schengen-Visa betreffen.

Die Entscheidung über die Erteilung eines Visums für einen Aufenthalt im Schengen-Raum von höchstens drei Monaten je Sechsmonatszeitraum (vgl. Art. 2 Nr. 2 Buchstabe a VK), das – wie die vorliegend begehrten Visa – für das gesamte Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten gültig sein soll (sog. "einheitliches Visum", vgl. Art. 2 Nr. 3 VK), ist im Visakodex als gebundene Entscheidung ausgestaltet. Ergibt sich nach Abschluss der in Art. 18 und 19 VK vorgesehenen Zuständigkeits- und Zulässigkeitsprüfung, dass die in Art. 21 VK niedergelegten materiellen Voraussetzungen für die Visumserteilung vorliegen, so ist – vorbehaltlich einer ggf. nach Art. 22 VK notwendigen Konsultation eines anderen Mitgliedsstaats – nach Art. 23 Abs. 4 Buchstabe a VK ein einheitliches Visum zu erteilen. Zu verweigern ist das Visum grundsätzlich nur dann, wenn die in Art. 32 VK spiegelbildlich zu Art. 21 VK normierten Versagungsgründe vorliegen (Art. 23 Abs. 4 Buchstabe c VK). Der zuständigen Auslandsvertretung (im Visakodex einheitlich als "Konsulat" bezeichnet, vgl. Art. 2 Nr. 9 VK) verbleibt danach bei Vorliegen der formellen und materiellen Voraussetzungen für die Visumserteilung kein Ermessensspielraum. Der Antragsteller hat in diesen Fällen vielmehr einen Anspruch auf Visumserteilung. Dabei unterliegen die nach Art. 21 bzw. Art. 32 VK zu prüfenden materiellen Erteilungsvoraussetzungen bzw. Versagungsgründe in vollem Umfang der gerichtlichen Kontrolle.

aa) Die Kläger haben zwar den Zweck des beabsichtigten Aufenthalts entsprechend den für sie geltenden Anforderungen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Ukraine über Erleichterungen bei der Erteilung von Visa (- Visaerleichterungsabkommen, VEA -, ABl. EU 2007 L 332 S. 68), das zum 1. Januar 2008 in Kraft getreten ist (ABl. EU L 24 S. 53), durch Vorlage einer schriftlichen Einladung ihres Ehemannes bzw. Vaters hinreichend belegt.

Nach Art. 21 Abs. 1 Halbsatz 1 VK ist bei der Prüfung eines Antrages auf ein einheitliches Visum festzustellen, ob der Antragsteller die Einreisevoraussetzungen nach Art. 5 Absatz 1 Buchstaben a, c, d und e des Schengener Grenzkodexes (Verordnung [EG] Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen, ABl. EU L 105 S. 1, – SGK –, zuletzt geändert durch Art. 2 Verordnung [EG] Nr. 265/2010 vom 25. März 2010, ABl. L 85 S. 1) erfüllt. Art. 5 Absatz 1 Buchstabe c Halbsatz 1 SGK sieht vor, dass ein Drittstaatsangehöriger u.a. den Zweck des beabsichtigten Aufenthalts belegen muss. Entsprechend bestimmt Art. 21 Abs. 3 Buchstabe b Halbsatz 1 VK, dass das Konsulat bei der Kontrolle, ob der Antragsteller die Einreisevoraussetzungen erfüllt, prüft, ob die Angaben des Antragstellers zum Zweck des beabsichtigten Aufenthalts begründet sind, und Art. 32 Abs. 1 Buchstabe a Ziffer ii VK schreibt vor, dass das Visum verweigert wird, wenn der Antragsteller den Zweck des geplanten Aufenthalts nicht begründet. Um die Überprüfung seiner diesbezüglichen Angaben zu ermöglichen, hat der Antragsteller bei der Beantragung eines einheitlichen Visums u.a. Unterlagen mit Angaben zum Zweck der Reise vorzulegen (Art. 14 Abs. 1 Buchstabe a VK), wobei Anhang II zum Visakodex eine "nicht erschöpfende" Liste von Belegen enthält, deren Vorlage das Konsulat von dem Antragsteller verlangen kann (Art. 14 Abs. 3 VK).

Für die Kläger werden die in Art. 14 Abs. 1 Buchstabe a sowie Abs. 3 i.V.m. Anhang II VK enthaltenen Bestimmungen zum Nachweis des Reisezwecks durch die Regelungen in Art. 4 des zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Ukraine abgeschlossenen Abkommens über Erleichterungen bei der Erteilung von Visa ersetzt, das für die Europäische Union ebenso verbindlich ist wie für die Bundesrepublik Deutschland als deren Mitgliedstaat (vgl. Art. 216 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union – AEUV – bzw. zuvor Art. 300 Abs. 7 EGV). Nach Art. 4 VEA genügt für bestimmte, im Einzelnen aufgezählte Gruppen von Staatsangehörigen der Ukraine zum Nachweis des Zwecks ihrer Reise in das Gebiet der anderen Vertragspartei die Vorlage der jeweils bezeichneten Dokumente. Die Vorlage weiterer Belege ist nicht erforderlich. Dies ergibt sich sowohl aus dem allgemeinen Zweck des Abkommens, die Erteilung von Kurzzeitvisa für Staatsangehörige der Ukraine zu erleichtern (Art. 1 Abs. 1 VEA), als auch aus der spezielleren Regelung in Art. 4 Abs. 3 VEA, wonach für den von Art. 4 Abs. 1 VEA erfassten Personenkreis Visa sämtlicher Arten nach dem vereinfachten Verfahren ausgestellt werden, bei dem weder die in den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten vorgesehenen weiteren Angaben zum Reisegrund, noch eine weitere Einladung oder Bestätigung des Reisezwecks vorgeschrieben werden dürfen. Bestätigt wird der Vorrang der in dem Abkommen enthaltenen Regelungen – ohne dass es darauf ankommt, ob sie verfahrensrechtlicher oder materiell-rechtlicher Art sind – im Umkehrschluss auch durch die Regelung in Art. 2 Abs. 2 VEA, wonach die innerstaatlichen Vorschriften der Ukraine oder der Mitgliedstaaten sowie das Gemeinschaftsrecht in den Fällen Anwendung finden, die in diesem Abkommen nicht geregelt sind. Der Vorrang der von der Europäischen Union mit verschiedenen Staaten abgeschlossenen Visaerleichterungsabkommen wird schließlich auch durch den Visakodex nicht infrage gestellt, dessen 26. Begründungserwägung ausdrücklich zugrundelegt, dass in bilateralen Abkommen zwischen der Gemeinschaft und Drittländern zur Erleichterung der Bearbeitung von Visumsanträgen von dieser Verordnung abweichende Bestimmungen festgelegt werden können.

Die von den Klägern vorgelegte Einladung ihres Ehemannes bzw. Vaters entspricht – was zwischen den Beteiligten außer Streit steht – den in Art. 4 Abs. 1 Buchstabe j VEA geregelten Anforderungen an den Nachweis des Reisezwecks. Danach genügt für enge Verwandte – u.a. Ehepartner und Kinder – , die Staatsangehörige der Ukraine besuchen wollen, die im Gebiet eines Mitgliedstaates rechtmäßig wohnhaft sind, eine schriftliche Einladung des Gastgebers, die bestimmte Angaben zum Gast (Art. 4 Abs. 2 Buchstabe a VEA) und zum Gastgeber (Art. 4 Abs. 2 Buchstabe b VEA) enthalten muss.

bb) Die begehrten Besuchsvisa sind gleichwohl zu versagen, da bei der nach Art. 21 Abs. 1 VK gebotenen Risikobewertung begründete Zweifel an der Rückkehrbereitschaft der Kläger bestehen und damit eine Gefahr für die öffentliche Ordnung i.S.v. Art. 5 Abs. 1 Buchstabe e SGK vorliegt.

Gemäß Abs. 1 Halbsatz 2 des mit "Prüfung der Einreisevoraussetzungen und Risikobewertung" überschriebenen Art. 21 VK ist bei der Prüfung eines Antrages auf ein einheitliches Visum insbesondere zu beurteilen, ob bei dem Antragsteller das Risiko der rechtswidrigen Einwanderung besteht und ob er beabsichtigt, vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des beantragten Visums das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu verlassen. Nach Art. 32 Abs. 1 VK wird das Visum u.a. verweigert, wenn der Antragsteller als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung eingestuft wird (Buchstabe a Ziff. vi), oder begründete Zweifel an der von ihm bekundeten Absicht bestehen, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen (Buchstabe b).

Gegenüber diesen an die Rückkehrbereitschaft bzw. das Risiko einer rechtswidrigen Einwanderung anknüpfenden Erteilungsvoraussetzungen und Versagungsgründen werden die Kläger durch das mit der Ukraine abgeschlossene Visaerleichterungsabkommen nicht privilegiert, da das Abkommen insoweit keine Regelung enthält (vgl. Art. 2 Abs. 2 VEA). Die zu ihren Gunsten anwendbare Bestimmung des Art. 4 VEA zum Nachweis des Reisezwecks erschöpft sich, wie Art. 4 Abs. 3 VEA verdeutlicht, in der abschließenden Regelung der dazu erforderlichen Angaben und Belege. Ukrainische Staatsangehörige werden hierdurch lediglich von möglicherweise weitergehenden Nachweisanforderungen zum Reisezweck auf der Grundlage des Art. 14 Abs. 1 Buchstabe a und Abs. 3 VK sowie von Art. 5 Abs. 1 Buchstabe c SGK entlastet. Die Überprüfung ihrer Rückkehrbereitschaft und eine daran anknüpfende Visumsverweigerung werden damit nicht ausgeschlossen. Gegen ein anderes Verständnis der vertraglichen Regelung spricht im Übrigen, dass die Verhinderung der rechtswidrigen Einwanderung einen wesentlichen Zweck des Visumsverfahrens darstellt und sich die Vertragsparteien ausdrücklich dazu bekannt haben, dass Visaerleichterungen nicht zur illegalen Migration führen sollten (vierter Erwägungsgrund des Abkommens).

Ausgehend von den in Art. 21 Abs. 1 und 32 Abs. 1 VK getroffenen Regelungen fehlt es an den tatbestandlichen Voraussetzungen für die Visumserteilung, wenn nach dem Ergebnis einer umfassenden Risikobewertung begründete Zweifel an der Absicht des Antragstellers bestehen, das Visum zum angegebenen Aufenthaltszweck zu nutzen und fristgemäß den Schengen-Raum zu verlassen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab wird durch Art. 32 Abs. 1 Buchstabe b VK vorgegeben. Diese Bestimmung spricht zwar unmittelbar nur die Gefahr einer nicht rechtzeitigen Ausreise an. Hinsichtlich des noch schwerer wiegenden Risikos einer rechtswidrigen Einwanderung können jedoch keine höheren Anforderungen gelten. Im Rahmen einer einzelfallbezogenen Gesamtbetrachtung ist unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage aller verfügbaren Informationen (vgl. Art. 21 Abs. 9 Satz 2 VK) eine Prognoseentscheidung zur Wahrscheinlichkeit einer nicht rechtzeitigen Ausreise oder rechtswidrigen Einwanderung zu treffen, die Schwere der mit einer illegalen Migration verbundenen Gefahr in den Blick zu nehmen und dabei – soweit einschlägig – der besondere Schutz zu beachten, den Ehe und Familie nach Art. 6 GG, Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte (EMRK) und Art. 7 der Grundrechte-Charta (GRCh, ABl. EU 2010 C 83 S. 389) genießen. An die zur alten Rechtslage ergangene obergerichtliche Rechtsprechung, wonach Zweifel an der Rückkehrbereitschaft einer Visumserteilung auf der Tatbestandsebene nur dann entgegenstehen, wenn die Wahrscheinlichkeit eines beabsichtigten dauerhaften Verbleibs wesentlich höher einzuschätzen ist als die Wahrscheinlichkeit der Rückkehr (vgl. OVG Nordrh.-Westf., Urteil vom 31. Mai 1995 – 17 A 3538.92 –, NVwZ-RR 1996, 608, zum Regelversagungsgrund in § 7 Abs. 2 Nr. 3 AuslG [jetzt: § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG] und OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. Dezember 2009, a.a.O. Rn. 41 m.w.N. zu Art. 5 Abs. 1 Buchstabe e SGK), kann bereits deshalb nicht angeknüpft werden, weil diese eine auf der Rechtsfolgeseite nachgeschaltete Ermessensentscheidung voraussetzt, in deren Rahmen eine Abwägung des Risikos zweckfremder Nutzung des Visums mit dem Gewicht des angegebenen kurzfristigen Aufenthaltszwecks erfolgt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Oktober 1996 – 1 B 113.96 –, NVwZ-RR 1997, 319). [...]

Vorliegend bestehen begründete Zweifel an der Rückkehrbereitschaft der Kläger. Aufgrund der erkennbaren äußeren Umstände und rechtlichen Rahmenbedingungen spricht vieles dafür, dass sie ein Besuchsvisum zur Begründung eines auf Dauer angelegten Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland missbrauchen würden, um die familiäre Lebensgemeinschaft mit ihrem Ehemann bzw. Vater herzustellen.

Die von den Klägern beabsichtigte Reise würde die derzeit in großem räumlichen Abstand voneinander getrennt lebenden beiden Teile der aus den Eheleuten und ihrem einzigen gemeinsamen Kind bestehenden Kernfamilie in Deutschland zusammenführen, wo der Ehemann bzw. Vater über einen gesicherten Aufenthalt verfügt. Dieser Möglichkeit der Familienzusammenführung kommt eine besondere Bedeutung zu, weil die Kläger derzeit keine Aussicht auf einen legalen Familiennachzug haben. Denn im Nachzugsfall wäre der Lebensunterhalt der Kläger – was von ihnen als solches nicht in Abrede gestellt wird – nicht gesichert, da ihr Ehemann bzw. Vater bereits seinen eigenen Lebensunterhalt nicht ohne Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches bestreiten kann, wobei atypische Umstände, die ein Absehen vom Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung als möglich erscheinen lassen könnten, weder vorgetragen noch sonst ersichtlich sind (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG). Hinzu kommt, dass die Klägerin auch nicht über die für einen Ehegattennachzug erforderlichen Deutschkenntnisse (§ 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG) verfügt.

Gesichtspunkte von annähernd gleichem Gewicht, die positiv für die Rückkehrbereitschaft der Kläger sprechen könnten, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. [...] Der Umstand, dass die Klägerin, die keine Angaben zu ihrem Ausbildungsstand und ihrer beruflichen Qualifikation gemacht hat, nach eigenem Bekunden mit ihrem Sohn bei ihren Eltern lebt und von ihrer Mutter unterstützt wird, deutet ebenso wie die von ihr vorgelegten Verdienstbescheinigungen darauf hin, dass ihr Erwerbseinkommen nicht wesentlich über das für den laufenden Lebensunterhalt Notwendige hinausgeht.

Dem danach begründeten Risiko einer rechtswidrigen Einwanderung ist ein umso größeres Gewicht beizumessen, als die Kläger in Deutschland – vermittelt durch ihren Ehemann bzw. Vater – in den Genuss von Sozialleistungen kämen. Denn die Beklagte hat ein legitimes Interesse daran, eine rechtswidrige Einwanderung gerade auch wegen der damit verbundenen Belastung der öffentlichen Kassen zu verhindern, auch wenn dies – wie von den Klägern eingewandt wird – mit sich bringt, dass sich ein Visumsantragsteller, dessen Angehöriger in Deutschland in wirtschaftlich abgesicherten Verhältnissen lebt, im Hinblick auf die Gewichtung der Folgen einer rechtswidrigen Einwanderung in einer günstigeren Ausgangslage befindet als ein Antragsteller, dessen Bezugsperson aktuell Sozialleistungen in Anspruch nimmt. Eine andere Sichtweise ist auch nicht aufgrund des Hinweises der Kläger geboten, früher oder später bestehe angesichts der angespannten allgemeinen wirtschaftlichen Lage für jedermann das Risiko, Sozialleistungen in Anspruch nehmen zu müssen. Denn es macht für die Bewertung der Folgen der missbräuchlichen Nutzung eines Besuchsvisums zu einem Daueraufenthalt einen Unterschied, ob lediglich eine generell bestehende Möglichkeit der Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches besteht, oder ob sich das Risiko bereits aktuell verwirklicht hat.

Auch der durch Art. 6 GG, Art. 8 EMRK und Art. 7 GRCh gewährte Schutz von Ehe und Familie gebietet keine andere Risikobewertung, da es den Klägern zugemutet werden kann, die Kontakte zu ihrem Ehemann bzw. Vater im gemeinsamen Heimatland zu pflegen. Dem Ehemann bzw. Vater der Kläger, dessen freie Entscheidung es war, im Jahr 2004 ohne seinen Sohn und dessen Mutter zur Begründung eines dauerhaften Aufenthalts in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen, steht es – wie die Kläger selbst einräumen – frei, Frau und Kind im gemeinsamen Heimatland einen Besuch abzustatten, ohne dabei einer konkreten Gefährdungs- oder Verfolgungsgefahr ausgesetzt zu sein. Keine der vorstehend zitierten Vorschriften zum Schutz des Ehe- und Familienlebens vermittelt den Klägern in dieser Konstellation das Recht, zur Eröffnung einer beidseitigen Besuchsmöglichkeit in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen und sich dort aufzuhalten (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. März 2010, a.a.O. Rn. 29 ff. zum Schutz von Ehe und Familie im Fall des Ehegattennachzugs). Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der erstrebte Besuchsaufenthalt nach den Angaben der Klägerin bei Antragstellung (auch) dazu dienen soll, die Lebensbedingungen ihres Ehemannes bzw. Vaters im Hinblick auf einen etwaigen Familiennachzug abzuschätzen. Nach alledem würde die Risikobewertung zu keinem anderen Ergebnis führen, wenn die Kläger – wie von ihrem Prozessbevollmächtigten im Verhandlungstermin in Aussicht gestellt – aktuelle Rückreisetickets vorlegen würden. [...]