VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 10.07.2007 - A 1 K 10739/05 - asyl.net: M17510
https://www.asyl.net/rsdb/M17510
Leitsatz:

Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG wegen drohender Gefahr der Genitalverstümmelung bei Abschiebung in den Sudan.

Schlagwörter: Sudan, geschlechtsspezifische Verfolgung, Genitalverstümmelung, marokkanische Staatsangehörigkeit, Staatsangehörigkeit, Abschiebungshindernis, Abschiebungsverbot, geschlechtsspezifische Verfolgung, Frauen, Mädchen, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzfähigkeit, Schutzbereitschaft,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

1. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a GG. Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG liegen bei beiden Klägern nicht vor. Insoweit ist der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 17.06.2005 (Ziff. 1 und 2) rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

2. Die Klägerin Ziff. 2 hat jedoch einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindemisses gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG bezüglich des Sudan. Eine Abschiebung in diesen Staat hat das Bundesamt in Ziff. 4 des angefochtenen Bescheides vom 17.06.2005 auch der Klägerin Ziff. 2 angedroht.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Aufgrund der vorliegenden Erkenntnismittel ist davon auszugehen, dass der Klägerin Ziff. 2 im Falle einer Abschiebung in den Sudan die Genitalverstümmeiung und damit eine erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes drohen würde. Es bedarf keiner weiteren Begründung, dass die Genitalverstümmelung in allen ihren Erscheinungsformen einen erheblichen Eingriff im Sinne dieser Gesetzesbestimmung darstellt.

Nach allen Erkenntnismitteln, die dem Gericht vorliegen, ist die Verstümmelung weiblicher Geschlechtsorgane im Sudan zwar gesetzlich verboten, nach übereinstimmenden Angaben internationaler Organisationen aber weit verbreitete Praxis. Über 90 % der Frauen im Lande sollen davon betroffen sein. Mehr als 75 % der Mädchen werden beschnitten, bevor sie 14 Jahre alt sind (vgl. zuletzt AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Republik Sudan, Stand: August 2006).

Der Klägerin Ziff. 1 würde im Sudan die Genitalverstümmelung nicht nur abstrakt und in ferner Zukunft, sondern konkret und zeitnah zu einer unterstellten Rückkehr drohen. Denn nicht nur an erwachsenen Frauen, sondern bereits an Mädchen im Kindesalter wird die Beschneidung vollzogen. Die Mutter der Klägerin Ziff. 1 hat in der mündlichen Verhandlung insoweit glaubhaft vorgetragen, dass sie zwar selbst gegen eine Beschneidung eingestellt sei, ihre Tochter davor aber bei einer Rückkehr in den Sudan nicht wirksam bewahren kann. Sie selbst wurde - wie sie anschaulich geschildert hat - im Sudan trotz des Widerstands ihrer eigenen Eltern beschnitten. Die Beschneidung der Mutter ist durch ärztliches Attest vom 09.02.2006 belegt. Die Mutter der Klägerin Ziff. 1 hat auch glaubhaft dargelegt, dass die Beschneidung von Mädchen oder jungen Frauen in ihrem Familienverband tief verankert und traditionelle Sitte ist. Für die Klägerin Ziff. 1 besteht deshalb nach Überzeugung des Gerichts die erhebliche Gefahr, dass Angehörige der Großfamilie bzw. der Sippe den Eingriff der Beschneidung zwangsweise auch gegen den Widerstand der Mutter durchführen würden.

Die Feststellung eines Abschiebungshindernisses wegen der drohenden Zwangsbeschneidung ist nicht etwa deshalb ausgeschlossen, weil diese Gefahr letztlich die gesamte (noch nicht beschnittene) weibliche Bevölkerung des Sudan betrifft. Solche allgemeinen Gefahren sollen zwar gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG grundsätzlich ausschließlich im Rahmen von Entscheidungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt werden, die wegen ihrer weitreichenden Folgewirkungen als politische Grundsatzentscheidungen allein in das Ermessen der obersten Landesbehörden gestellt sind. Eine Berücksichtigung im Einzelfall nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann aber in verfassungskonformer Auslegung dieser Norm dann erfolgen, wenn der betroffene Ausländer in Ermangelung einer allgemeinen Entscheidung nach § 60a Abs. 1 AufenthG angesichts der in dem Abschiebestaat bestehenden Gefährdungslage "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten körperlichen Beeinträchtigungen ausgeliefert würde" (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995, BVerwGE 99, 324).

Eine solche extreme Gefährdungslage besteht im Falle der Klägerin Ziff. 1 nach der Überzeugung des Gerichts. Die Genitalverstümmelung stellt eine besonders schwere körperliche Beeinträchtigung dar und droht - wie oben dargelegt - mit hoher Wahrscheinlichkeit zeitnah zur Abschiebung. Daher würde die Klägerin Ziff. 1 durch eine Abschiebung in den Sudan gleichsam sehenden Auges schwersten körperlichen Beeinträchtigungen ausgeliefert werden.

3. Für den Kläger Ziff. 2, dem im angefochtenen Bescheid ebenfalls die Abschiebung in den Sudan angedroht wurde, bestehen dagegen bezüglich dieses Landes keine Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG. Den Asylantrag seiner Mutter hat das Bundesamt mit bestandskräftigem Bescheid vom 11.12.2000 abgelehnt und festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Dass er bei einer Abschiebung in den Sudan zusammen mit seiner Mutter dort Gefahren ausgesetzt ist, die Abschiebungshindernisse nach diesen Bestimmungen begründen könnten, ist nicht ersichtlich. Allein die Tatsache, dass der Vater seiner Mutter sowie dessen Familie aus dem Darfur stammen, rechtfertigt eine solche Annahme nicht. Denn das allein führte bereits für die Mutter des Klägers Ziff. 2 nicht zu einer Ausgrenzung oder Gefährdung. Vielmehr handelte es sich bei der Familie nach den eigenen Angaben der Mutter trotz der Abstammung aus dem Darfur um wohlhabende Personen, die in ein Haus besessen haben. Der Großvater des Klägers Ziff. 2 soll nach den Angaben der Mutter trotz seiner Abstammung aus dem Darfur sogar ein hochrangiger Offizier in der sudanesischen Armee gewesen sein. [...]