VG Regensburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Regensburg, Urteil vom 30.08.2010 - RN 5 K 09.30103 - asyl.net: M17500
https://www.asyl.net/rsdb/M17500
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen fehlender Behandlungsmöglichkeiten einer Posttraumatischen Belastungsströrung in Sierra Leone und Gambia.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Sierra Leone, Gambia, Posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung, Krankheit, medizinische Versorgung, psychische Erkrankung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 59 Abs. 3
Auszüge:

[...]

2. Die Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat zum nach § 77 Abs. 1 AsylVfG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Sierra Leone und Gambia und auf Aufhebung der Benennung dieser Zielstaaten in der Abschiebungsandrohung. [...]

Bei Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung, die ihre Ursachen in Ereignissen oder Verhältnissen in den Zielstaaten der Abschiebungsandrohung hat, ist darüber hinaus zu prüfen, ob dem Ausländer eine Rückkehr in einen der Zielstaaten zuzumuten ist, und zwar insbesondere unter dem Gesichtspunkt, inwieweit eine Rückkehr negativen Einfluss auf die Behandlung einer posttraumatischen Belastungsstörung hat (Gefahr der Retraumatisierung).

Eine solche Gefahr kann sich auch aus einer im Abschiebezielstaat zu erwartenden Verschlimmerung einer Krankheit ergeben. Dabei setzt die Annahme einer erheblichen konkreten Gefahr voraus, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers alsbald nach der Ankunft im Zielland der Abschiebung infolge unzureichender Behandlungsmöglichkeiten wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde, weil dort eine adäquate Behandlung wegen des geringen Versorgungsstandards nicht möglich ist oder der Betroffene insbesondere mangels finanzieller Mittel eine Behandlung nicht erlangen kann (BVerwG, Urteil vom 29.10.2002, DVBl 2003, 463; BVerfG, Urteil vom 9.9.1997, InfAuslR 1998, 125).

Diese Voraussetzungen liegen hier sowohl bezüglich Sierra Leone als auch bezüglich Gambia vor.

Aufgrund des psychologisch-psychotherapeutischen Befundberichts von Refugio München vom 22.5.2010 steht nach der Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger an einer posttraumatischen Belastungsstörung nach ICDIO: F43.1 leidet. Es ist nicht ersichtlich, dass die im Befundbericht getroffenen Feststellungen auf nicht hinreichend gesicherten Annahmen beruhen. Im Bericht ist nachvollziehbar dargestellt, dass die Diagnose aufgrund einer Vielzahl von psychotherapeutischen sowie kunst- und ausdruckstherapeutischen Sitzungen mit dem Kläger gestellt worden ist. Es findet sich dort eine detaillierte Aufstellung der vom Kläger geschilderten Symptome, die durch die Beobachtungen bei den zahlreichen Sitzungen bestätigt wurden. Der Bericht schließt mit der nachvollziehbaren Prognose, dass eine positive Beeinflussung des Patienten durch Therapie zu erwarten sei. Wichtig sei vor allem eine als sicher empfundene, ruhige Umgebung und die konstante therapeutische Beziehung in einem sicheren Vertrauensverhältnis. Ohne Therapie sei die Gefahr einer weiteren Chronifizierung mit der Möglichkeit der Entwicklung einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastungen gegeben. Bei der vorliegenden klinischen Symptomatik sei mit einer erheblichen Verschlechterung des Krankheitsbildes zu rechnen, wenn belastende Auslösereize im Herkunftsland wirken würden und sicher empfundene Lebensumstände verloren gingen. Dabei sei das Risiko autoaggressiver Handlungen mit tödlichem Ausgang eingeschlossen. Der Kläger habe angegeben, sich bei einer potenziellen Gefährdung im Heimatland das Leben nehmen zu wollen. Eine Therapie im Herkunftsland sei aufgrund der konstant dort vorhandenen Auslösereize nicht möglich. Eine Gesundheitsbeeinträchtigung und eine Notsituation von besonderer Intensität sei im Falle einer Rückkehr zu befürchten.

Für das Gericht steht aufgrund des vorgelegten Befundberichts fest, dass eine Rückkehr des Klägers nach Sierra Leone oder Gambia zumindest eine wesentliche Verschlechterung seines Gesundheitszustands bewirken würde, da weder in Sierra Leone noch in Gambia eine adäquate medizinische Betreuung für den Kläger vorhanden wäre.

Die medizinische Versorgung der Bevölkerung in Sierra Leone ist schlecht. Sie ist mit der Versorgung in Europa nicht zu vergleichen und vielfach technisch, apparativ und/oder hygienisch hochproblematisch. Es besteht ein ausgeprägter Mangel an Fachärzten. Selbst in Freetown ist die ärztliche Versorgung gegenwärtig sehr begrenzt. Dies gilt insbesondere für das psychiatrische Versorgungsangebot des öffentlichen/privaten Gesundheitssektors. Insoweit besteht sowohl quantitativ als auch qualitativ ein außenordentlich schlechter Zustand. Es gibt landesweit nur einen qualifizierten Psychiater und ein staatliches Psychiatrie-Hospital (Kissy Mental Hospital in Freetown mit 150 Betten) für Personen mit "traditionellen" und/oder "kriegsbedingten" psychischen/psychiatrischen Problemen. Es bieten zwar nationale/internationale Hilfsorganisationen in Sierra Leone vereinzelt psychosoziale/psychiatrische Dienste an, jedoch entspricht das Angebot nicht dem Bedarf an psychiatrischem Fachpersonal und Institutionen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe - Michael Kirschner, Sierra Leone: Psychiatrische Versorgung und sozioökonomische Grundlagen bei Rückkehr einer Frau - Auskunft der SFH Länderanalyse vom 27.9.2005; Auswärtiges Amt, Sierra Leone: Reise- und Sicherheitshinweise (Medizinische Hinweise), Stand: Januar 2010; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 6.9.2007, Az. 11 A 633/05.A, in: Juris).

Ähnlich stellt sich die Situation in Gambia dar. Gemessen am europäischen Standard ist die Gesundheitsversorgung in Gambia dürftig und auf primärer, sekundärer und tertiärer Ebene nicht mit europäischen Standards vergleichbar. Der Zugang, die Qualität, Quantität, Stabilität und Kosten der medizinischen Versorgung variieren in Gambia innerhalb von Städten, zwischen Stadt und Land sowie zwischen privatem und öffentlichem Sektor. Aus einer Gesamtbevölkerung von 1.478 Millionen Menschen bedürften nach Schätzungen der WHO 120.000 Personen Zugang zu psychiatrischer Behandlung, 27.000 davon leiden an schweren psychischen Störungen. Pro Jahr werden jedoch nur 3.000 Patienten und Patientinnen behandelt, was bedeutet, dass 90 % entweder keinen Zugang zu den benötigten Behandlungen haben oder aus anderen Gründen die Institutionen nicht aufsuchen. Die einzigen ausgebildeten Fachkräfte in psychiatrischem Bereich arbeiten im Campana Psychiatric Unit und im Royal Victoria Teaching Hospital. Gemäß WHO gab es im April 2007 zwei Psychiater in Gambia, d.h. 0,08 pro 100.000 Einwohner (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe - Alexandra Geisler, Gambia: Psychiatrische Versorgung - Gutachten der SFH-Länderanalyse, Bern, 15.7.2008).

Nach alledem muss davon ausgegangen werden, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Sierra Leone oder Gambia keine ausreichende medizinische Versorgung erlangen könnte und eine alsbaldige wesentliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes zu befürchten wäre. Die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen daher vor. [...]