VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 24.08.2010 - 11 B 08.30320 - asyl.net: M17499
https://www.asyl.net/rsdb/M17499
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG bei frühkindlichem Autismus. In der Türkei gibt es für autistische Kinder keine Förderschulen mit heilpädagogischem Ansatz oder vergleichbare Einrichtungen, in denen die Unterrichtssprache Kurdisch ist.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Türkei, Kurden, Wiederaufnahme, Asylfolgeantrag, Autismus, allgemeine Gefahr, Sperrwirkung, erhebliche individuelle Gefahr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AsylVfG § 71 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2
Auszüge:

[...]

Die Berufung ist begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung durch die Beklagte, dass in seiner Person ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf die Türkei vorliegt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

Nach diesen Grundsätzen kann im Fall des Klägers angesichts des eher singulären Charakters seiner Erkrankung (frühkindlicher Autismus) deren zielstaatsbezogene Verschlimmerung nicht als allgemeine Gefahr qualifiziert werden, die der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG unterliegt und nur im Falle einer extremen Zuspitzung zu einer Feststellung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch das Bundesamt führt, sondern sie ist nach dem Maßstab der "erheblichen konkreten Gefahr" in unmittelbarer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu beurteilen.

Es steht zur Überzeugung des Senats fest, dass im Fall der Abschiebung des Klägers sich seine Erkrankung wesentlich verschlimmern würde und sogar zur Herbeiführung einer lebensbedrohlichen Situation verdichten könnte.

Ausweislich des vom Senat im Rahmen der Beweiserhebung eingeholten kinderpsychiatrischen Gutachtens des Heckscher-Klinikums (Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie) vom 19. Januar 2009 liegt beim Kläger eine autistische Störung im Sinne eines frühkindlichen Autismus vor. Aufgrund der massiven Interaktions- und Kommunikationsstörung sowie der zusätzlichen unterdurchschnittlichen kognitiven Leistungsfähigkeit ist der Schweregrad dieser psychischen Erkrankung als sehr hoch zu bewerten. Der Kläger ist auf eine kontinuierliche, spezifische und intensive Förderung sowie therapeutische Behandlung angewiesen. Damit ist eine umfassende Förderung im Rahmen einer heilpädagogischen Tagesstätte mit dem Förderschwerpunkt geistiger Entwicklung, mit klaren strukturierten Tagesabläufen, festen Regeln und Grenzen gemeint. Er benötigt verhaltenstherapeutische Anleitung zum Erlernen sozialer Kompetenzen, um im sozialen Umfeld zurecht zu kommen. Auch die Eltern benötigen stetige Beratung und Anleitung, um die neu erlernten Verhaltensweisen auf den Alltag übertragen zu können. Zudem sind die Behandlung seiner motorischen Defizite sowie die sprachtherapeutische Förderung sehr wichtige Bestandteile der Gesamttherapie. Ohne eine speziell auf autistische Kinder ausgerichtete Förderung und therapeutische Behandlung würden sich die autistischen Verhaltensweisen sehr bald erheblich verschlimmern. Bei Abbruch der Therapie würde er mit bestimmter Sicherheit auf den Entwicklungsstand vor Beginn der Maßnahme zurückfallen, und bei längerem Ausbleiben der Förderung wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer darüber hinausgehenden Verschlechterung seines Zustands zu rechnen. Es käme zu einer deutlich verstärkten Kommunikationsstörung und Interaktionsstörung. Zudem bestünde die Gefahr für die Entwicklung weiterer psychischer Erkrankungen in Form von emotionalen Anpassungsstörungen sowie Zunahme der bereits vorher beschriebenen Unruhe, Eigensteuerung, auto- und fremdaggressiven Verhaltensweisen. Bei sehr unruhigen und eigengesteuerten Kindern mit autistischen Störungen kommt es häufig zu impulsiven Weglauftendenzen. Bei eingeschränkter Gefahreneinschätzung, wie es beim Kläger ebenso der Fall ist, könnte dies schwerwiegende Gefährdungen für Leib und Leben bedeuten.

Weiter steht es aufgrund der vom Senat eingeholten Stellungnahme von amnesty international unter Bezugnahme auf die TOHUM fest, dass es in der Türkei keine Förderschulen für autistische Kinder mit heilpädagogischem Ansatz oder vergleichbare Einrichtungen gibt, in denen die Unterrichtssprache kurdisch ist.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 3. Mai 2010 hat sich ergeben, dass der - neben Deutsch - nur Kurdisch sprechende Kläger seit 2006 nahezu ausschließlich heilpädagogisch ausgerichtete Fördereinrichtungen in Amberg besucht und daneben keine ins Gewicht fallende sonstige Therapie erhält. Infolge des Besuchs dieser Einrichtungen hat sich seine Krankheit deutlich gebessert. Die ihm hierbei zukommende Betreuung erfüllt auch die Anforderung an eine kontinuierliche, spezifische und intensive Förderung sowie therapeutische Behandlung, die in dem Gutachten der Heckscher-Klinik formuliert wurden. Im Fall einer Rückkehr in die Türkei wäre der Kläger zur Vermeidung einer alsbaldigen Verschlimmerung seiner Krankheit mit der möglichen Verdichtung hin zu lebensbedrohlichen Situationen aber darauf angewiesen, eine entsprechende Förderung zu erhalten. Voraussetzung hierfür wäre, dass die Einrichtung kurdischsprachig ist, da der Kläger kein Türkisch spricht und aufgrund seiner spezifischen Erkrankung und der im oben genannten Gutachten festgestellten sprachlichen Entwicklungsdefizite und nur sehr eingeschränkten Möglichkeiten zum Erlernen unbekannter Sprachen nicht darauf verwiesen werden kann, eine türkischsprachige Einrichtung zu besuchen. Denn hierdurch würde es wenigstens zu einem längeren Ausbleiben der Förderung und Behandlung - und zwar so lange, bis der Kläger ausreichend Türkisch spricht, um überhaupt an der Förderung und Behandlung teilnehmen zu können, was aber vor dem Hintergrund der eben dargestellten Defizite völlig offen ist - oder aber zu einem vollständigen Wegfall der Förderung und Behandlung kommen, was ausweislich des genannten Gutachtens mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer deutlichen Verschlechterung seines Zustands und damit im Rechtssinn zu einer erheblichen Gefahr für Leib oder Leben führen würde. Nachdem die Notwendigkeit der Teilnahme an Förderung und Behandlung in der Person des Klägers kontinuierlich besteht, kann auch kein vernünftiger Zweifel daran aufkommen, dass die hieraus resultierende Verschlechterung seines Zustandes in relativ kurzer Zeit und damit "alsbald" im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nach seiner Rückkehr in die Türkei stattfinden würde. Auch der Umstand, dass der Kläger damit (nur) das Schicksal aller kurdischsprachigen, an frühkindlichem Autismus Erkrankten in der Türkei teilen würde, führt nicht dazu, dass er sich aus diesem Grund nicht auf das Bestehen eines Abschiebungsverbots berufen kann, weil es sich dennoch um eine individuelle Leibes- oder Lebensgefahr handelt (BVerwG vom 18. Juli 2006 Az. 1 C 16.05).

Nach alledem besteht in der Person des Klägers ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf die Türkei. [...]