VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 21.06.2007 - W 3 K 04.31057 - asyl.net: M17494
https://www.asyl.net/rsdb/M17494
Leitsatz:

Einem Mädchen aus dem Ogun-State in Nigeria droht die Genitalverstümmelung.

Schlagwörter: Nigeria, Ogun-State, Frauen, Genitalverstümmelung, geschlechtsspezifische Verfolgung, Mädchen, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Yoruba, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4,
Auszüge:

[...]

Bei der Klägerin zu 2) liegen diese Voraussetzungen vor. Sie hat einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten festzustellen, dass in ihrem Fall ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 Satz 1, Satz 3 AufenthG vorliegt wegen der Gefahr, in Nigeria Maßnahmen der Genitalverstümmelung ausgesetzt zu sein. Durch § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG sind Fälle von Genitalverstümmelung eindeutig in den Schutzbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG einbezogen.

Die Mutter der Klägerin zu 2) hat für ihre Tochter glaubhaft vorgetragen, dass dieser im Falle ihrer Rückkehr nach Nigeria von Seiten des leiblichen Vaters eine zwangsweise Beschneidung drohe.

Nach dem zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 6. Mai 2006 ist die Genitalverstümmelung von Frauen und Mädchen in Nigeria in allen bekannten Formen besonders in ländlichen Gebieten weit verbreitet. Das Auswärtige Amt führt weiter aus, dass Regierungsstatistiken zufolge etwa 30 Millionen Frauen verstümmelt seien (Gesamtbevölkerung ca. 130 Millionen). Nicht-Regierungsorganisationen würden schätzen, dass 50% bis 60% der Frauen Opfer von Genitalverstümmelungen seien. Verbreitung und Art der Verstümmelung würden nach Region und sogar von Gemeinde zu Gemeinde variieren. Sie sei am meisten verbreitet im Südwesten in den Bundesstaaten Osun, Oyo und Ondo sowie in Edo, gefolgt von den Bundesstaaten im Süden und denen im Norden. Einige Bundesstaaten hätten Gesetze erlassen, welche die Genitalverstümmelung ausdrücklich unter Strafe stellen würden. Über die tatsächliche Umsetzung dieser Gesetze sei nichts bekannt. Angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse vor Ort müsse ein effektiver Schutz von Mädchen und Frauen durch solche Gesetze bezweifelt werden, es werde jedoch von einem Rückgang der Eingriffe berichtet. Erfolgversprechender erscheine die Aufklärung junger Mütter, die inzwischen vereinzelt betrieben würde.

Der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Information des Bundesamtes "Frauen in Nigeria" ist zu entnehmen, dass die Verbreitung der weiblichen Genitalverstümmelung in Ogun-State, aus der die Klägerin zu 2) stammt, nach der 2001 und 2002 erfolgten Studie des Nigerian Center for Gender, Health and Human Rights (NCGHHR) 35% und nach der 1997 erfolgten Studie des Center for Gender and Social Policy Studies (CGSPS) der Obafemi Awolowo Universität in Ile-Ife in Kooperation mit einer Vielzahl von Organisationen wie WHO, Unicef, UNDP, UNFPA und dem Nigerianischen Ministerium für Frauenangelegenheit sowie für Gesundheit 35% bis 45% beträgt. In der Information ist weiter ausgeführt, dass im DHS Nigeria 2003 eine Aufgliederung der Verbreitung der Genitalverstümmelung nach den 6 geopolitischen Zonen Nigerias erfolgt sei und in der Zone Südwest, zu der Ogun-State gehört, die Verbreitung bei 56,9% liege. Ferner sei im DHS 2003 die Verbreitung der Genitalverstümmelung für die Ethnie der Yoruba mit 60,7% angegeben. In Ogun-State sei das Verbot der weiblichen Genitalverstümmelung im Jahr 2000 erlassen worden. Laut Angaben von Nicht-Regierungsorganisationen hätten sie nach Erlass dieser Gesetze die jeweiligen örtlichen Behörden erst von der Anwendung der Gesetze in deren Zuständigkeitsbereich überzeugen müssen. Amnesty International berichte, dass der nigerianische Staat bisher keinen effektiven Schutz gegen weibliche Genitalbeschneidung biete, die landesweit trotz regional bestehender Verbote weitgehend verbreitet sei. Laut Angabe des Instituts für Afrika-Kunde zeigten nicht zuletzt die Erfahrung mit ähnlichen gesetzlichen Verboten in anderen afrikanischen Staaten, dass diese Verbote keine signifikanten Auswirkungen auf die aktuelle Beschneidungspraxis haben würde, die sich allenfalls durch geduldige Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit über mehrere Generationen zurückdrängen lassen würde. Harneit-Sievers von der Heinrich-Böll-Stiftung Nigeria gebe zu bedenken, dass sich die weibliche Genitalverstümmelung vor allem in der lokalen bzw. "traditionellen" Sphäre abspiele. Insofern hätten Gesetze eher einen "moralisch ermahnenden" Charakter, könnten aber nicht notwendigerweise durchgesetzt werden, da die Fälle den Autoritäten gar nicht bekannt würden. Wichtig sei hier eher die Rolle von Frauengruppen und traditionellen Autoritäten, die im lokalen Raum Druck zum Abbau der Genitalverstümmelung ausüben könnten.

Im Hinblick auf die den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Unterlagen zu entnehmende hohe Gefahr der Genitalverstümmelung für die Klägerin zu 2) hat das Gericht keine Zweifel daran, dass das klägerische Vorbringen in diesem Punkt der Wahrheit entspricht und der Klägerin zu 2) im Fall der Rückkehr mit der für den Flüchtlingsschutz hohen Wahrscheinlichkeit tatsächlich Genitalverstümmelung droht.

Schutz durch die in § 60 Abs. 1 Satz 4 a) und b) AufenthG genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen kann die Klägerin zu 2) nach den oben zitierten Erkenntnismitteln nicht erhalten. Dies ist sowohl dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 6. Mai 2006 als auch der Information des Bundesamtes "Frauen in Nigeria" zu entnehmen. Auf die obigen Ausführungen hierzu wird Bezug genommen.

Für die Klägerin zu 2) besteht auch keine inländische Fluchtalternative i.S. des § 60 Abs. 1 Satz 4c AufenthG, wobei eine Rückkehr mit ihrer Mutter, der Klägerin zu 1), zu unterstellen wäre.

Nach den insoweit glaubhaften Angaben der Klägerin zu 1) geht die Gefahr der Genitalverstümmelung für die Klägerin zu 2) von der Familie des Vaters aus. Im Hinblick auf die Stellung des Vaters in der Familie kann realistisch ein Schutz durch die Familie der Mutter nicht erwartet werden, unabhängig davon, ob die Angaben der Mutter zu ihrer Familie insgesamt glaubhaft sind. Der Klägerin zu 2) verbliebe damit nur die Möglichkeit, mit ihrer Mutter an einen anderen Ort zu ziehen. Dies ist jedoch im Fall der Klägerin zu 2) nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Unterlagen unzumutbar. Zwar ist den Ausführungen der Information "Frauen in Nigeria" des Bundesamtes zu entnehmen, dass sowohl das Auswärtige Amt als auch die National Human Rights Commission (NHRC) die Möglichkeit sehen, sich in Lagos niederzulassen. Im Hinblick auf die Nähe zum Wohnort des Vaters scheidet diese Möglichkeit für die Klägerinnen nach Überzeugung des Gerichts jedoch aus. Unzumutbar erscheint dem Gericht, die Klägerinnen auf irgendeinen anderen Wohnort in Nigeria verweisen zu wollen, ohne dass ersichtlich ist, wie sich die Klägerinnen zu 1) und 2) sowie die in Deutschland geborene Tochter bzw. Schwester dort ihre Existenz sichern sollen. Ein Kontakt zur Familie dürfte ja nicht erfolgen, um zu vermeiden, dass hierüber wiederum der Familie des Vaters der Aufenthalt bekannt würde. [...]