VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 12.09.2006 - 10 K 6340/03.A - asyl.net: M17492
https://www.asyl.net/rsdb/M17492
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG für Libanesin aus einer christlichen Familie wegen drohenden "Ehrenmordes", da sie gegen den Willen ihrer Familie zum Islam konvertiert ist und einen staatenlosen Palästinenser moslemischen Glaubens heiraten wollte.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Libanon, Ehrverletzung, geschlechtsspezifische Verfolgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Die Klage ist zulässig und begründet, soweit lediglich noch die Verpflichtung des Bundesamtes zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes bezüglich der Klägerin zu 1. erstrebt wird. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 15. Oktober 2004 ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin zu 1. in ihren Rechten, vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Sie hat nämlich Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG (früher § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG). [...]

Eine solche erhebliche und konkrete Gefahr droht der Klägerin zu 1. für den Fall ihrer Rückkehr In den Libanon. Grundlagen für diese Feststellung sind ihre Schilderungen sowie die ihres Ehemannes anlässlich der persönlichen Anhörung beim Bundesamt sowie in der mündlichen Verhandlung am 29.4.2005. Das Gericht geht nach intensiver Befragung der Klägerin zu 1. und ihres Ehemannes davon aus, dass die Familie der Klägerin zu 1. zur Wiederherstellung der "Familienehre" bis zu deren Ausreise aus dem Libanon alles in ihrer Macht stehende unternommen hat, sie zu töten. Auslöser für den Familienkonflikt war die dem ausdrücklichen Willen der Familie, insbesondere des Vaters, entgegenstehende Entscheidung der Klägerin zu 1., einen staatenlosen Palästinenser moslemischen Glaubens zu heiraten. Die trotz aller Tendenzen zur Verwestlichung im Libanon existierenden religiös-archaischen Strukturen in den Familienverbänden bedingen ein Zusammenleben nach strikten religiösen bzw. traditionellen Gesetzen. Die Heirat einer Frau mit einem Mann einer anderen Konfession oder einer anderen Volkszugehörigkeit wird gemeinhin als ein Verstoß gegen solche Gesetze verstanden. Handelt eine Frau gegen das Verbot der Familie, insbesondere des Vaters, einen bestimmten Mann zu heiraten, so verletzt sie die Ehre der Familie. Ihr droht dann ein Ehrenmord. Eine solche Bedrohung kann nämlich ausgelöst werden, wenn die Frau vor- oder außereheliche Beziehungen unterhält, ihr Lebensstil nicht den traditionell-konservativen Vorstellungen der Familie entspricht, wenn sie mit Männern ausgeht, sich weigert, den ausgesuchten Mann zu heiraten oder wenn auch nur der Verdacht besteht, sie habe Ihre Jungfräulichkeit verloren. Die Vermutung allein, sich eines solchen Verhaltens schuldig gemacht zu haben, reicht oft schon aus, um Opfer eines Ehrenmordes zu werden (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: "Ehrenmorde", Nov. 2005, S. 103-106 (Libanon) und "Nichtstaatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung", April 2005, S. 65 - 67; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Michael Kirschner, Libanon - Ehrenmord -, Gutachten v. 26.2.2004).

Die Schilderungen der Klägerin zu 1. und ihres Ehemannes entsprechen im Wesentlichen diesen tatsächlichen Gegebenheiten im Libanon, wie sie den vorstehenden gutachtlichen Stellungnahmen zu entnehmen sind. Danach geschehen im Libanon monatlich geschätzt zwei bis drei Ehrenmorde, die ein gerichtliches Verfahren gegen die Täter nach sich ziehen. Entsprechend hoch dürfte die Dunkelziffer sein, da die weitaus größere Zahl solcher Taten unaufgeklärt bleibt. Weiter ist festzustellen, dass der libanesische Staat nicht Willens und in der Lage ist, den nötigen Schutz gegen einen angedrohten Ehrenmord zu gewährleisten. Experten berichten davon, dass Gewalt in der Familie als Privatangelegenheit wahrgenommen wird und die libanesische Polizei sich in der Regel nicht in die "Familienangelegenheiten" einmischt. Der Schutz der Familienehre ist im Libanon wichtig und hat dem zuletzt genannten Gutachten zufolge Vorrang vor der Einhaltung der Gesetze.

Bei dieser Sachlage ist glaubhaft vorgetragen, dass dem Willen des Vaters entsprechend ein Bruder der Klägerin zu 1. bei verschiedenen Gelegenheiten versucht hat, die Klägerin zu 1. von ihrem Ehemann zu trennen und zur Familie unter Anwendung körperlicher Gewalt zurückzuführen oder sie - wie dies bei dem geschilderten Vorfall in Tripolis der Fall gewesen sein könnte - bei einem vorsätzlich herbeigeführten "Verkehrsunfall" zu töten. Letzteres entspräche nämlich einer durchaus praktizierten Form, den Tod einer Frau herbeizuführen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, a.a.O., S. 3, 2. Abs.).

Werden Frauen u.U. sogar dann von der Familie weiterhin verfolgt, wenn sie sich ins Ausland absetzen, so besteht erst recht die Gefahr eines erneuten Mordanschlages auf die Klägerin zu 1. für den Fall ihrer Rückkehr in den Libanon. Nichts spricht dafür, dass die Familie von ihrem Vorhaben, die "Familienehre" durch Tötung der Klägerin zu 1. wiederherzustellen, ablassen könnte. Damit ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass die Klägerin zu 1. für den Fall ihrer Rückkehr in den Libanon - erneut - in eine konkrete Gefahr für ihr Leben geraten würde. Bei einer Gesamtbewertung aller Umstände ist nach alledem festzustellen, dass zugunsten der Klägerin zu 1. aufgrund besonderer Umstände ihres Einzelfalls angesichts der politischen und insbesondere der sonstigen gesellschaftlichen Verhältnisse im Libanon ausnahmsweise ein Abschiebungshindernis gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzuerkennen ist. [...]