VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 11.08.2010 - 11 S 1521/10 - asyl.net: M17471
https://www.asyl.net/rsdb/M17471
Leitsatz:

Ist der Ausländer nur deshalb nicht vollziehbar ausreisepflichtig, weil sein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels die Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG ausgelöst hat, so steht dies der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG nicht entgegen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, vollziehbar ausreisepflichtig, Fiktionswirkung, Achtung des Privatlebens, Verwurzelung, faktischer Inländer
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 84 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 58 Abs. 2 S. 2, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG liegen nicht vor. Der Senat prüft allein dessen Voraussetzungen, da mit Anwaltsschriftsatz vom 26.01.2010 ausschließlich ein solcher Titel beantragt worden war (vgl. zum sog. Trennungsprinzip BVerwG, U.v. 09.06.2009 - 1 C 11.08 - NVwZ 2009, 1432).

Allerdings steht der Erteilung nicht schon entgegen, dass der Antragsteller zum Zeitpunkt der Entscheidung des Antragsgegners nicht vollziehbar ausreisepflichtig war. Denn zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgericht war er vollziehbar ausreisepflichtig, wie sich unschwer aus § 81 Abs. 4 i.V.m. § 84 Abs. 1 Nr. 1 und § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ablesen lässt. Dieser Umstand ist auch noch im laufenden Widerspruchs- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu berücksichtigen, da maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist. Abgesehen davon bedarf § 25 Abs. 5 AufenthG weitergehend einer restriktiven Auslegung, will man nicht, wie die vorliegende typische Fallkonstellation zeigt, ungereimte Ergebnisses erzielen. Ein allein verfahrenssicherndes Aufenthaltsrecht nach § 81 Abs. 4 AufenthG kann der Annahme einer vollziehbaren Ausreisepflicht nicht entgegen stehen, weil mit Wirksamwerden der ablehnenden ausländerbehördlichen Entscheidung diese Voraussetzung geschaffen wäre und - unter der Voraussetzung, dass alle sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind - der oder die Betroffene nur Widerspruch einlegen müsste, um den Titel beanspruchen zu können. Es kann aber nicht Sinn und Zweck von § 25 Abs. 5 AufenthG sein, die Ausländerbehörde sehenden Auges zu einer Ablehnung zu zwingen, die unmittelbar nach Einlegung des Widerspruchs wieder aufgehoben werden müsste. [...]

Ein atypischer Ausnahmefall ist auch nicht deshalb gegeben, weil Frau ... mit Rücksicht auf Art. 8 EMRK eine Rückkehr in das Heimatland nicht zugemutet werden könnte. Die Verweigerung eines weiteren Aufenthalts stellt keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das geschützte Privatleben dar. Ein solcher kann nur dann angenommen werden, wenn bei einer ausreichenden und tiefgehenden Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse ("Verwurzelung") gleichzeitig eine weitgehende Entfremdung von den Lebensverhältnissen im Heimatland ("Entwurzelung") erfolgt ist, die dazu geführt hat, dass die Betroffene faktisch zur Inländerin geworden ist und sie nur noch das rechtliche Band ihrer Staatsangehörigkeit mit der Heimat verbindet und deshalb ein Rückkehrverlangen sich als unverhältnismäßig, weil unzumutbar erweist (vgl. Senatsb. v. 25.10.2007 - 11 S 2091/07 - NVwZ 2008, 344; GK-AufenthG § 60a Rdn. 171 ff.). Weder das eine noch das andere ist hier festzustellen. An einer ausreichenden Verwurzelung fehlt es, worauf der Antragsgegner zutreffend hingewiesen hat, schon deshalb, weil Frau ... keinen Schulabschluss hat, über keine Berufsausbildung verfügt und, wie bereits ausgeführt, praktisch keinerlei Erwerbstätigkeit nachgegangen ist und seit April 2007 durchgängig von Sozialleistungen lebt, ohne dass ersichtlich ist, dass sie dieses nicht zu vertreten hätte. Der Umstand, dass Frau ... im September 2005 unter Inanspruchnahme von IOM-Geldern endgültig in das Heimatland zurückgekehrt war und dort jedenfalls bis zum Frühjahr 2006 lebte, in der Folgezeit auch besuchsweise in das Heimatland gereist war und insbesondere dort auch den Antragsteller kennengelernt hatte, der selbst erst im Herbst letzten Jahres in die Bundesrepublik Deutschland gekommen war und bis dahin im Heimatland seinen ständigen Aufenthalt hatte, zeigt, dass sie über vielfältige Kontakte und Beziehungen verfügt, die bei auch ausreichenden Sprachkenntnissen der Annahme einer rechtserheblichen Entwurzelung entgegenstehen, zumal bei der Bewertung, ob die Rückkehr zumutbar ist oder nicht, nicht unberücksichtigt bleiben kann, dass der Antragsteller, mit dem sie hier zusammenlebt, bislang seinen ständigen Aufenthalt in ihrem Heimatland hatte. [...]