VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 19.06.2008 - A 3 K 886/06 - asyl.net: M17468
https://www.asyl.net/rsdb/M17468
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung einer westlich orientierten irakischen Frau wegen drohender geschlechtsspezifischer Verfolgung.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Irak, Nordirak, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die allgemeinkundig prekäre Sicherheitslage im Irak ist das erkennende Gericht davon überzeugt, dass der Klägerin damit im Irak landesweit auf absehbare Zeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG drohen würde.

Die Klägerin ist, wovon sich das Gericht in der mündlichen Verhandlung einen umfassenden Eindruck verschafft hat, mittlerweile in allen ihren Lebensbereichen westlich orientiert. Sie ist ledig, praktiziert ihre formelle sunnitisch-islamische Religionszugehörigkeit nicht und lehnt es aus innerer Überzeugung ab, sich den nunmehr fast flächendeckend im Irak geltenden islamischen Bekleidungsvorschriften zu unterwerfen und den nunmehr dort herrschenden Moral- und Lebensvorstellungen anzupassen. Die Situation einer solchen jungen Frau in Irak ist nach den o.a. Anmerkungen von UNHCR bedrohlich verschlechtert und daher mehr als prekär. Insbesondere alleinstehende Frauen, die sich geweigert haben, Verhaltensanweisungen streng konservativer, islamischer Kreise Folge zu leisten, haben danach mit Bedrohungen, Vergewaltigungen, Entführungen und dem Tod zu rechnen. Frauen, die sich nicht den traditionellen Kleidungs-, Moral- und Verhaltensvorschriften anpassen, unterliegen unabhängig von ihrem familiären Status einem beachtlichen Risiko, Opfer schwerwiegender Angriffe in ihre physische Integrität zu werden. Ohne den Schutz eines Mannes oder des Familienverbundes ist das wirtschaftliche Überleben der Frauen nicht gesichert. Gegen die - im Zweifel auch mit Gewalt - erzwungene Anpassung an die in Irak herrschende und zunehmend fundamentalistisch geprägte weibliche Geschlechterrolle kann auch die Familie keinen effektiven Schutz gewährleisten. Dies gilt umso mehr, wenn Frauen nach längerem Aufenthalt im westlichen Ausland nach Irak zurückkehren. Die Klägerin müsste in kürzester Zeit mit Bedrohungen, Belästigungen und Angriffen rechnen. Die geschlechtsspezifische Benachteiligung von Frauen in Irak hat durch die religiös-extremistischen muslimischen Bestrebungen eine neue Dimension erhalten. Diese Verschlechterung der Situation bekommen Frauen, die sich schon äußerlich, also nach Kleidung, Verhalten und Gebräuchen, nicht den Landesgewohnheiten anpassen, ganz besonders zu spüren (siehe AA, Lagebericht Irak, Januar 2007, S. 25). Eine Frau wie die Klägerin wird nach Überzeugung des Gerichts mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb eines absehbaren Zeitraums Opfer eines gegen ihre physische Integrität gerichteten Angriffs. Von staatlicher Seite hätte die Klägerin in Anbetracht der Tatsache, dass die staatlichen Institutionen - insbesondere die Sicherheitskräfte und das Justizwesen - derzeit nicht in der Lage sind, Frauen effektiv vor diskriminierender Behandlung und gezielten Übergriffen zu schützen, keinerlei Unterstützung zu erwarten (vgl. UNHCR vom November 2005 a.a.O.).

Hinzu kommt, dass die Klägerin glaubhaft dargelegt hat, im Irak über keinerlei Familienrückhalt mehr zu verfügen. Ihre Mutter ist im Oktober 2001 verstorben, ihr Vater lebt seit seiner Scheidung in Jordanien, ihr einziger Bruder hält sich als Flüchtling im Libanon auf, ihr zum Zeitpunkt ihrer Flucht noch im Bagdad lebender Onkel ist zwischenzeitlich nach Syrien geflohen, und der Aufenthalt von Familienangehörigen im weiteren Sinne ist ihr nicht bekannt.

Der Klägerin ist auch in Nordirak keine innerstaatliche Fluchtalternative eröffnet (§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst, c AufenthG). [...]