VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 17.11.2009 - AN 9 K 09.30067 - asyl.net: M17442
https://www.asyl.net/rsdb/M17442
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG wegen innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Irak (Provinz Tamim, Kirkuk).

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, subsidiärer Schutz, Irak, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Tamim, Kirkuk, Sicherheitslage, willkürliche Gewalt, westlicher Lebensstil,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, RL 2004/83/EG Art. 18, RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

[...]

Für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegen die notwendigen hinreichenden Anhaltspunkte jedoch nicht vor. Nach dieser Bestimmung ist von einer Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Diese Vorschrift setzt die sich aus Art. 18 i.V.m. Art. 15 c der Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines subsidiären Schutzstatus in nationales Recht um. Der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist dabei unter Berücksichtigung der Bedeutung dieser Begriffe im humanitären Völkerrecht, insbesondere unter Heranziehung von Art. 3 der Genfer Konvention zum humanitären Völkerrecht von 1949 und des zur Präzisierung erlassenen Zweiten Zusatzprotokolls von 1977 auszulegen. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt in diesem Sinn liegt hiernach jedenfalls dann vor, wenn es sich um bewaffnete Auseinandersetzungen handelt, die im Hoheitsgebiet eines Staates zwischen den Streitkräften dieses Staates und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen stattfinden, die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebietes des Staates ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt liegt hiernach hingegen nicht vor, wenn es sich "nur" um innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen handelt. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 c der Qualifikationsrichtlinie nicht von vorneherein aus. Der Konflikt muss hierfür aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerilla-Kämpfen zu sehen sind. Ein sogenannter "Low-Intensity-War" erfüllt die Qualität eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 c der Qualifikationsrichtlinie hingegen nicht. Auch kriminelle Gewalt dürfte bei der Feststellung, ob ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegt, jedenfalls dann keine Berücksichtigung finden, wenn sie nicht von einer der Konfliktparteien begangen wird (siehe zum Ganzen: BVerwG, Urteil vom 24.6.2008, Az. 10 C 43.07, Juris). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 17.2.2009, Rechtssache C-465/07, Juris) setzt das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung der subsidiären schutzsuchenden Person nach Art. 15 c der Qualifikationsrichtlinie nicht voraus, dass diese Person beweist, dass sie auf Grund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. Das Vorliegen einer solchen Bedrohung kann vielmehr auch dann ausnahmsweise als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen nationalen Behörden bzw. Gerichte ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das betroffene Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch die Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Diese Auslegung entspricht im Wesentlichen derjenigen, die auch das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 24. Juni 2008 (a.a.O.) vorgenommen hat (vgl. hierzu auch: Urteil des BVerwG vom 14.7.2009, Az. 10 C 9.08, Juris), wonach eine Schutzgewährung nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG als der Umsetzungsnorm zu Art. 15 c der Qualifikationsrichtlinie dann in Betracht kommt, wenn sich die allgemeine, von einem bewaffneten Konflikt ausgehende Gefahr so verdichtet, dass sie eine erhebliche individuelle Gefahr darstellt.

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist es zu verneinen, dass die derzeitige Situation im Irak oder jedenfalls in der Provinz Tamim, der Herkunftsregion der Klägerin, deren Provinzhauptstadt Kirkuk ist, von Kampfhandlungen geprägt ist, die die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zu rechtfertigen vermögen (wie hier auch: VG Ansbach vom 5.3.2009, Az. AN 3 K 08.30378, Juris; VG München vom 23.6.2009, Az. M 4 K 08.50041, Juris; offen gelassen vom Verwaltungsgericht des Saarlandes, Urteil vom 24.4.2009, Az. 2 K 285/08, Juris). Ungeachtet dessen, dass sich die Sicherheitslage im Irak insgesamt als noch immer äußerst kritisch erweist, ist seit Mitte 2007 die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Irak nach übereinstimmender Auskunftslage deutlich zurückgegangen. Auch die interkonfessionellen Übergriffe haben seit dem Frühjahr 2008 erheblich nachgelassen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12.8.2009, S. 6). Die Durchführung der landesweiten Provinzwahlen Anfang 2009 ist weitgehend friedlich und ohne bewaffnete Auseinandersetzungen und Anschläge verlaufen. Die Anschlagszahlen sind insgesamt deutlich rückläufig. Im Jahr 2007 gab es nach den allgemein als relativ zuverlässig angesehenen Schätzungen der Organisation "Iraq Body Count" (vgl. www.iraqbodycount.org/database) im Irak insgesamt 24.518 zivile Opfer (dies entspricht ca. 0,089 % der geschätzten Gesamtbevölkerung). Im Jahr 2008 sanken die Opferzahlen in der Zivilbevölkerung auf 9.204 (0,033 %). In der Provinz Tamim, der Herkunftsprovinz der Klägerin, gab es 2008 je 100.000 Einwohner rund 29 Tote; dies entspricht einer zivilen Opferzahl von 0,029 % (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und Migration, Irak, Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte, Februar 2009, S. 23 f.). Vergleicht man die von "Iraq Body Count" geschätzten Zivilopfer von Januar 2009 bis Oktober 2009 (etwa 3.775 zivile Opfer) mit den entsprechenden Zahlen des Vorjahres (von Januar bis Oktober 2008 rund 8.231 Opfer), so sind die Opferzahlen nochmals um mehr als die Hälfte gesunken. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Zahlen auch rein kriminelle Verbrechen beinhalten. Fehlt es hiernach am Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, kommt eine erhebliche individuelle Gefahr für die Klägerin im Rahmen eines derartigen Konflikts schon im Ansatz nicht in Betracht. Hinsichtlich der Klägerin, die in der mündlichen Verhandlung nicht erschienen ist, kommt im Übrigen hinzu, dass diese offenbar selbst nicht - auch nicht vor dem Hintergrund der vorgetragenen westlichen Prägung und des unehelichen Kindes - von einem Hinderungsgrund für eine Rückkehr in den (Nord-)Irak ausgegangen ist. Dies ergibt sich aus den oben dargestellten zwischenzeitlichen Rückkehrplänen der Klägerin. Insoweit ist auch der klägerische Vortrag, im (Nord-)Irak nicht überleben zu können, schon im Ansatz nicht nachvollziehbar, zumal die Klägerin nach eigenen Angaben auch Verwandtschaft im Irak hat. [...]