OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 17.08.2010 - 1 B 175/10; 1 S 176/10 - asyl.net: M17426
https://www.asyl.net/rsdb/M17426
Leitsatz:

Kein Anspruch auf humanitäres Aufenthaltsrecht, da keine sog. Verwurzelung in Deutschland stattgefunden hat (fehlende berufliche und wirtschaftliche Integration, Straftaten). Da die in Deutschland lebenden sechs Kinder im Alter von 2 bis 12 Jahren und die religiös angeheiratete Frau des Antragstellers auch kein Aufenthaltsrecht in Deutschland haben, kann die Familieneinheit auch in der Türkei hergestellt werden. Unerheblich ist insofern auch, dass die Familie lediglich die arabische und nicht die türkische Sprache beherrscht, da in der Türkei von ca. 1 Million Menschen Arabisch als Minderheitensprache gesprochen wird.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Duldung, vorläufiger Rechtsschutz, Beschwerdeverfahren, Achtung des Privatlebens, Schutz von Ehe und Familie, Verhältnismäßigkeit, Türkei, Schulbesuch, Integration, wirtschaftliche Integration, Straftat
Normen: VwGO § 123, EMRK Art. 8 Abs. 1, AufenthG § 25 Abs. 4 S. 2, AufenthG § 25 Abs. 5, GG Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Es kann nicht angenommen werden, dass dem Antragsteller zu 2. wegen einer sog. Verwurzelung in die hiesigen Lebensverhältnisse ein humanitäres Aufenthaltsrecht zusteht.

Ein in Deutschland geborener oder aufgewachsener Ausländer kann, wenn die beabsichtigte Aufenthaltsbeendigung sein durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Recht auf Privatleben verletzt, aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 4 S. 2 bzw. 25 Abs. 5 S. 2 AufenthG ein Aufenthaltsrecht besitzen. Unter Privatleben i.S.v. Art. 8 Abs. 1 EMRK ist die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen zu verstehen, die für jeden Menschen konstitutiv sind. Haben diese Beziehungen zu einer sog. Verwurzelung in die hiesigen Verhältnisse geführt, kann die Aufenthaltsbeendigung unverhältnismäßig i.S.v. Art. 8 Abs. 2 EMRK sein. Im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit sind das Ausmaß der Verwurzelung bzw. die für den Ausländer mit einer "Entwurzelung" verbundenen Folgen zu ermitteln, zu gewichten und mit den Gründen, die für eine Aufenthaltsbeendigung sprechen, abzuwägen. Maßgeblich sind stets die Verhältnisse des Einzelfalls (vgl. BVerwG, B. v. 19.01.2010 - 1 B 25/09 - NVwZ 2010, 707; OVG Bremen, B. v. 11.05.2010 - 1 B 90/10 - jeweils m.w.N.).

Das Verwaltungsgericht ist zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Aufenthaltsbeendigung des Antragstellers zu 2. nach diesem Maßstab nicht unzulässig ist. Hierzu hat das Verwaltungsgericht u.a. ausgeführt, dass es dem Antragsteller zu 2., der 1988 als 13-jähriger in das Bundesgebiet eingereist ist, bis zu seiner am 07.06.2004 erfolgten Abschiebung in die Türkei nicht gelungen war, hier wirtschaftlich und beruflich Fuß zu fassen. Die Aufenthaltsbeendigung erfolgte seinerzeit, weil wegen wiederholter Straftaten am 06.03.2001 eine Ausweisungsverfügung gegen ihn ergangen war. Stabile gesellschaftliche oder wirtschaftliche Bindungen sind damit bis 2004 ersichtlich nicht aufgebaut worden. In der Folgezeit hat der Antragsteller in der Türkei gelebt und hat dort nach seinen Angaben vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auch gearbeitet. Nach seiner am 16.06.2008 erfolgten erneuten - unerlaubten - Einreise nach Deutschland wird er hier geduldet. Von einem Aufenthaltsanspruch wegen Verwurzelung kann bei dieser Sachlage nicht ausgegangen werden.

2. Ein Aufenthaltsanspruch ergibt sich auch nicht im Hinblick auf den in Art. 8 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 6 Abs. 1 GG verankerten Schutz des Familienlebens.

Die sechs Kinder des Antragstellers zu 2., die zwischen 2 und 12 Jahre alt sind, leben mit ihrer Mutter, mit der er nicht standesamtlich, sondern nur nach religiösem Ritus verheiratet ist, in Bremen. Ihr Aufenthalt wird von der Antragsgegnerin geduldet, weil sie noch nicht im türkischen Personenstandsregister nachregistriert sind. Ein Aufenthaltsrecht besitzen die Mutter und die Kinder nicht. Es ist nicht erkennbar, weshalb es ihnen unzumutbar sein sollte, die Familieneinheit mit dem Antragsteller zu 2. in der Türkei herzustellen.

Soweit die Beschwerde geltend macht, die Kinder könnten verlangen, dass ihnen bis zur Erlangung eines Schulabschlusses der Aufenthalt ermöglicht werde, und auch dem Antragsteller zu 2. - davon abgeleitet - als Vater ein Aufenthaltsrecht zustehe, kann dem nicht gefolgt werden. Für ein solches Aufenthaltsrecht der Kinder fehlt ersichtlich die Grundlage. Ein Schulbesuch kann, wenn der Abschluss der Schulausbildung absehbar ist, einen dringenden persönlichen Aufenthaltsgrund i.S.v. § 24 Abs. 4 S. 1 AufenthG darstellen. Insoweit kommt es maßgeblich darauf an, ob der Abschluss in einer überschaubaren Zukunft liegt. Selbst bei Vorliegen eines solchen persönlichen Aufenthaltsgrundes darf die Behörde aber im Rahmen des ihr in § 24 Abs. 4 S. 1 AufenthG eingeräumten Ermessens als gegenläufigen Belang berücksichtigen, dass die Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels in diesen Fällen bei vielköpfigen Familien u.U. zu einer längeren "Kette" von persönlichen Härtegründen führen kann (vgl. OVG Bremen. B. v. 21.07.2006 - 1 B 158/06 - ZAR 2007, 72). Im vorliegenden Fall kann wegen des Alters der Kinder bereits nicht angenommen werden, dass der Abschluss der schulischen Ausbildung in überschaubarer Zukunft zu erwarten ist, so dass schon die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 24 Abs. 4 S. 1 AufenthG nicht erfüllt sind.

Den Kindern steht auch nicht deshalb aus humanitären Gründen ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu, weil sie lediglich die arabische und nicht die türkische Sprache beherrschen. Die Familie gehört der arabischen Minderheit in der Türkei an. Arabisch ist dort eine der Minderheitensprachen, die von ca. 1 Millionen Menschen gesprochen wird (OVG Bremen, B. v. 09.06.2000 - 1 B 122/00 - NordÖR 2001, 258; B. v. 22.08.2002 - 1 B 216/02 -; vgl. auch Wikepedia - Volksgruppen in der Türkei). Damit ist dort ein Umfeld vorhanden, in dem die Kinder sich sprachlich verständigen können. Es ist nicht ersichtlich, weshalb es ihnen unzumutbar sein sollte, darüber hinaus die türkische Landessprache zu erlernen. [...]