OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 21.07.2009 - A 4 B 554/07 - asyl.net: M17401
https://www.asyl.net/rsdb/M17401
Leitsatz:

Eine Verfolgungsdichte, die die Regelvermutung eigener Verfolgung begründet, lässt sich für Angehörige der Roma weder in Serbien noch im Kosovo feststellen.

Schlagwörter: nichtstaatliche Verfolgung, Roma, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Serbien, Kosovo, Minderheiten, Übergriffe, Polizei,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Nach diesem Maßstab droht der Klägerin Verfolgung weder in Serbien noch im Kosovo. Eine Verfolgung als Angehörige der Roma durch den Staat oder durch Parteien und Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des serbischen oder kosovarischen Staatsgebiets beherrschen, macht die anwaltlich vertretene Klägerin nicht geltend. Sie verweist ausschließlich auf eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure wegen der Zugehörigkeit zur ethnischen Minderheit der Roma. Die Annahme einer solchen Verfolgung setzt voraus, dass die Klägerin als Angehörige dieser Minderheit wegen ihrer "Rasse" bedroht ist (§ 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG), dass der Staat, die Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staates beherrschen, erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten und dass keine innerstaatliche Fluchtalternativen bestehen (§ 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG).

Nicht anders als eine staatliche Gruppenverfolgung setzt die von der Klägerin geltend gemachte Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure voraus, dass jedes im Verfolgungsgebiet lebende Gruppenmitglied wegen der Gruppenzugehörigkeit von Verfolgung betroffen ist. Dies erfordert Verfolgungshandlungen gegen die Gruppe, die so intensiv und zahlreich sind, dass jedes einzelne Mitglied der Gruppe daraus die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit ableiten kann; daran hat die Qualifikationsrichtlinie nichts geändert (siehe BVerwG, Urt. v. 21.4.2009 - 10 C 11.08 -, juris, m.w.N.). Eine solche Verfolgungsdichte, die die Regelvermutung eigener Verfolgung begründet, lässt sich für Angehörige der Roma weder in Serbien noch im Kosovo feststellen (so bereits SächsOVG, Urt. v. 19.5.2007 - A 4 B 229/07 -, juris).

Für Serbien weist der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 22.9.2008 aus, dass die Anzahl der Angehörigen der Roma-Minderheit nach grober Schätzung von Roma-Verbänden und internationalen Nicht-Regierungs-Organisation über 500.000 liege (Lagebericht S. 14). Nach dem Lagebericht soll die Polizei nicht aktiv genug gegen Übergriffe auf Minderheiten vorgehen, wobei "Einzelfälle" immer wieder über die Medien bekannt würden. Anzeigen von Roma wegen Körperverletzungen führten nicht nur nach geltendem Recht, sondern auch in der Praxis zu Gerichtsprozessen, wobei Übergriffe nur zögerlich verfolgt würden. Angehörige von diskriminierten Minderheiten hätten Ausweichmöglichkeiten innerhalb Serbiens, wobei Belgrad als "Auffangbecken" gelte. 12 % der Einwohner Belgrads gehörten Minderheiten an; auch die Großstädte der Wojwodina gälten als tolerant (Lagebericht S. 17). Andere Erkenntnismittel, die eine Gruppenverfolgung von Roma in Serbien auch nur ansatzweise belegen könnten, liegen nicht vor. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Positionspapier vom 10.10.2008) hält eine zwangsweise Rückkehr von Roma nach Serbien wegen der schwierigen Lebensverhältnisse für unzumutbar, belegt aber keine Fälle der asylrelevanten Verfolgung.

Im Kosovo gibt es nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 2.2.2009 mehr als 30.000 Angehörige der Roma (davon wohl 23.000 Ashkali und Ägypter), wobei der UNHCR Ashkali und Ägypter nicht mehr zur Gruppe der Personen mit einem fortbestehenden Bedürfnis nach internationalem Schutz zählt (Lagebericht S. 16). Eine Volkszählung im Jahr 1991 habe 42.000 Roma auf dem Gebiet des Kosovo ergeben, nach Angaben von Roma-Verbänden habe die Anzahl der Roma mit rund 120.000 deutlich höher gelegen. Nach Amnesty International (Asyl-Info 3/2009, S. 6) wurden im März 2004 4.100 Angehörige von Minderheiten durch ethnisch motivierte Gewalttaten vertrieben, darunter auch Roma. Im Anschluss an den Einsatz der NATO hätten Albaner zahlreiche Häuser der Roma zerstört. Viele Angehörige der Roma lebten heute in extremer Armut, nahezu alle Roma seien von Arbeitslosigkeit betroffen. Seit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Februar 2008 habe sich die Lage der Roma nicht verbessert; Roma seien von den sozialen Sicherungssystemen faktisch ausgeschlossen und kaum in der Lage, sich eine medizinische Grundversorgung zu leisten. Aktionspläne zur Integration von Roma, Ashkali und Ägyptern seien im Kosovo bislang nicht umgesetzt werden. Auf gewaltsame Repressionen durch nichtstaatliche Akteure - wie sie von der Klägerin geltend gemacht wird - verweist Amnesty International dagegen nicht mehr. Das Positionspapier der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 10.10.2008 führt aus, dass es seit den progromartigen Ausschreitungen von März 2004 zu keinen größeren Übergriffen gegen Roma-Gemeinschaften gekommen sei. Angehörigen der Roma, Ashkali und Ägypter drohe "in Einzelfällen" noch asylrelevante Verfolgung, wenn sie im Verdacht der Kollaboration mit der ehemaligen serbischen Verwaltung oder der Teilnahme an Plünderungen stünden. Während der vergangenen Jahre habe sich die Sicherheitssituation der Roma-Gemeinschaften allmählich verbessert. Die Sicherheitslage im Kosovo sei insgesamt auch für ethnische Minderheiten stabil. Im Bereich ihrer Siedlungen drohten den Angehörigen der Roma im Allgemeinen keine Gewaltakte. Diese Einschätzung wird durch den Lagebericht des Auswärtigen Amts bestätigt, nach dem die Anzahl ethnisch motivierter Vorfälle von 62 im Jahr 2006 auf 24 im Jahr 2007 gefallen sei (S. 14). Im Rahmen groß angelegter Wiederaufbauprojekte seien umfangreiche Baumaßnahmen durchgeführt worden, um eine dauerhafte Rückkehr von Roma etwa in der Siedlung Roma Mahala zu ermöglichen (Lagebericht S. 16 f.). Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Positionspapier vom 10.1.2008), die eine Rückkehr von Roma in den Kosovo als unzumutbar ansieht, beschreibt die Lage der abgeschottet von der "Außenwelt" lebenden Roma-Gemeinschaften als relativ sicher, wobei eine "asylrelevante Verfolgung" in "Einzelfällen" nur solchen Angehörigen von Minderheiten drohe, die im Verdacht der Kollaboration mit der früheren serbischen Verwaltung oder der Teilnahme an Plünderungen stünden. Zu diesem Personenkreis gehört die Klägerin nicht.

Ausgehend von diesen Erkenntnismitteln bestehen jedenfalls im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch hinsichtlich des Kosovo keine greifbaren Anhaltspunkte für die Annahme einer Gruppenverfolgung der Roma (ebenso für Ashkali VGH BW v. 24.4.2008 - A 6 S 1026/05 -, juris). Soweit der Prozessbevollmächtigte der Klägerin in der Berufungsverhandlung auf eine Pressemitteilung der Gesellschaft für bedrohte Völker vom 6.2.2009 verwiesen hat, die als Anlage zum Protokoll der mündlichen Verhandlung genommen wurde, rechtfertigt dies keine andere Beurteilung. Die Pressemitteilung bietet keine Hinweise für eine politische Verfolgung von Roma und Askali, sondern verweist auf die besorgniserregende gesundheitliche Lage von Angehörigen der genannten Volksgruppen (insbesondere Kindern) in zwei näher benannten Flüchtlingslagern, die mit Blei und anderen Schwermetallen verseucht sind. Aktuelle Stellungnahmen des UNHCR oder andere Erkenntnismittel, die eine Gruppenverfolgung von Angehörigen der Roma im Kosovo nahelegen, hat auch die Klägerin nicht benannt.

Ein Anspruch der Klägerin auf Flüchtlingsanerkennung im Folgeverfahren scheidet danach insgesamt aus. Aus der vom Prozessbevollmächtigten des Klägerin in der mündlichen Verhandlung herangezogenen Qualifikationsrichtlinie lässt sich in diesem Zusammenhang nichts anders ableiten. [...]