VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 12.05.2010 - 8 A 889/06 - asyl.net: M17341
https://www.asyl.net/rsdb/M17341
Leitsatz:

Der Kläger kann es nicht mehr ablehnen, den Schutz des irakischen Staates in Anspruch zu nehmen.

Erforderlich und ausreichend ist, dass der Kläger auch nicht aus anderen Gründen als den weggefallenen Umständen der Gefahr einer Verfolgung nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Anzuwenden ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 - DVBl 2008, 1255; EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - C-175/08 - juris).

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Irak, Sunniten, religiöse Verfolgung, Anbar, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, erhebliche individuelle Gefahr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 2 Bst. c, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

[...]

Die vorausgesetzte beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung besteht nicht. Insbesondere ist der Kläger nicht wegen seiner Zugehörigkeit zur religiösen Gruppe der Sunniten oder seiner Zugehörigkeit zur ethnischen Gruppe der Araber einer landesweiten Verfolgung ausgesetzt (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 25. März 2010 – A 2 S 364/09 – juris; VGH München, Beschluss vom 9. Februar 2010 – 13a ZB 10.30007 – juris). Zwar gehört der Kläger als Sunnit landesweit einer religiösen Minderheit an. Doch gehört er in seiner Herkunftsprovinz Anbar und im so genannten Sunnitischen Dreieck zur konfessionellen und ethnischen Mehrheit der sunnitischen Araber. Die Bedrohung der Sunniten durch die schiitische Mahdi-Miliz des radikal-populistischen Predigers Muqtada As-Sadr mit Zentrum im Bagdader Elendsviertel Sadr-City ist dadurch entscheidend verringert, dass As-Sadr ausweislich des Lageberichts des Auswärtigen Amtes vom 11. April 2010 angekündigt hat, stärker politisch (in der "Irakischen Nationalen Allianz") zu agieren. Die Folge der fortschreitenden Islamisierung ist zwar eine wachsende Ausgrenzung von Angehörigen nicht ausdrücklich unter dem Schutz der islamischen Religion stehender Glaubensrichtungen. Indes ist es gelungen, die Gefahr eines offenen Bürgerkrieges zwischen der jahrzehntelang diskriminierten schiitischen Mehrheit und der bisherigen sunnitischen Führungsschicht abzuwenden. Seit dem Durchgreifen der Regierung gegenüber schiitischen Milizen ist eine politische Annäherung zwischen Teilen des sunnitischen und schiitischen Spektrums zu verzeichnen. Die starke Unterwanderung der Polizei durch Aufständische und (meist schiitische) Milizen ist zwar problematisch. In vielen Fällen sollen insbesondere Polizeibeamte unmittelbar an der Planung und Durchführung von Terroranschlägen, Entführungen und gezielten Morden beteiligt sein. Konfessionell motivierte Verbrechen wie Ermordungen, Folter und Entführungen von Angehörigen der jeweils anderen Glaubensrichtung ereignen sich landesweit. Gezielt greifen sich Täter Angehörige der einen oder anderen Glaubensrichtung aus einer Gruppe heraus. Doch haben diese Gewalttaten seit 2008 nachgelassen. Es ist nicht hinreichend wahrscheinlich, dass der Kläger solchen (gegebenenfalls an die Merkmale des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG anknüpfende) Verbrechen zum Opfer fallen wird. Der Kläger ist nicht als Soldat, Polizist, Politiker, Offizieller, Intellektueller, Repräsentant des früheren Regimes, Intellektueller, Bartschneider, Alkoholhändler, Mediziner, Ausländer, Christ oder Jeside eine erhöhten Gefährdung ausgesetzt. Als sunnitischer Araber erfährt der Kläger auch durch die im Irak agierenden internationalen sunnitisch-panislamistischen Terroristen (Jihadisten, Al-Qaida im Irak, Ansar as-Sunna, Ansar ar-Islam) und arabisch-nationalistischen Kräfte (Neobaathisten) keine spezifische Gefährdung. Die kurdischen Peshmerga-Milizen operieren in der Herkunftsprovinz des Klägers nicht, so dass er auch insoweit nicht bedroht ist. [...]

a) Ein Abschiebungsverbot folgt nicht aus § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Nach dieser Vorschrift, mit der die sich aus Art. 18 in Verbindung mit Art. 15 Buchst. c der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines "subsidiären Schutzes" in nationales Recht umgesetzt werden, ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. An diesen Voraussetzungen fehlt es im vorliegenden Fall. Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u.a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wofür Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe typische Beispiele sind (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 25. März 2010 – A 2 S 364/09 – juris). Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional (z.B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 – 10 C 43.07 – BVerwGE 131, 198).

Die nachstehenden Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim (a.a.O.) für die (zwischen Kurden und Arabern umstrittenen) Provinz Tamim lassen sich im Falle des Klägers auf die (von der Bevölkerungsgruppe des Klägers dominierte) Herkunftsprovinz Anbar übertragen. Danach dürfte die Frage, ob die derzeitige Situation im Irak die landesweit oder auch nur regional gültige Annahme eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts rechtfertigt, zu verneinen sein. Die Frage kann jedoch auf sich beruhen, da selbst bei der Annahme eines solchen Konflikts ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur besteht, wenn der Ausländer einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben "im Rahmen" dieses Konflikts ausgesetzt ist. Eine solche Gefahr lässt sich im Fall des Klägers nicht feststellen. Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Juli 2009 – 10 C 9.08 – (BVerwGE 134, 188) kann sich die nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erforderliche Individualisierung der sich aus einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt ergebenden allgemeinen Gefahr nicht nur aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Sie kann vielmehr unabhängig davon ausnahmsweise auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Gefahrerhöhende Umstände in seiner Person werden vom Kläger nicht geltend gemacht. Für das Vorliegen solcher Umstände ist nichts zu erkennen. Die erforderliche Individualisierung könnte sich daher nur durch einen besonders hohen Grad der dem Kläger in seiner Heimatregion drohenden Gefahren ergeben, vor denen er auch in den übrigen Teilen des Irak keinen Schutz finden kann. Ein so hoher Gefahrengrad, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, lässt sich jedoch für die Provinz Anbar, aus welcher der Kläger nach seinen Angaben stammt, nicht feststellen. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 11. April 2010 ist davon auszugehen, dass die Sicherheitslage im Irak nach wie vor verheerend ist. Zwar hat seit Frühsommer 2007 die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle um ca. 80 % abgenommen. Besonders gefährdet sind jedoch nach wie vor Polizisten, Soldaten, Intellektuelle und alle Mitglieder der Regierung bzw. Repräsentanten des früheren Regimes, die inzwischen mit der neuen Regierung zusammenarbeiten, Mitglieder politischer Parteien, Mitarbeiter von Medien und freie Journalisten sowie Ärzte und medizinisches Personal. Dabei überlagern sich mehrere ineinander greifende Konflikte: der Kampf der irakischen Regierung und der multinationalen Streitkräfte gegen Aufständische; Terroranschläge gegen die Zivilbevölkerung; konfessionell-ethnische Auseinandersetzungen sowohl zwischen den großen Bevölkerungsgruppen (arabische Sunniten, arabische Schiiten und Kurden) als auch mit den Minderheiten (vor allem Christen und Jesiden); Kämpfe zwischen Milizen um Macht und Ressourcen. Insgesamt hat aber die interkonfessionelle Gewalt seit dem Durchgreifen der irakischen Regierung gegen die Milizen seit dem Frühjahr 2008 nachgelassen. Auch nach der Ausarbeitung des Informationszentrums Asyl und Migration des Bundesamts "Irak, Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte" vom Januar 2010 besteht für die irakische Bevölkerung weiterhin die Gefahr, das Opfer von Anschlägen zu werden, deren Urheber meist nicht eindeutig identifizierbar seien. Insbesondere in den Provinzen Bagdad, Diyala und Ninive komme es weiterhin zu zahlreichen Vorfällen mit Todesopfern. Die Gefahr, durch militärische Aktionen im klassischen Sinne zu Schaden zu kommen, sei jedoch zurückgegangen. Ebenso hat sich nach den Erkenntnissen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom November 2009 die Sicherheitslage im Zentral- und Südirak seit 2007 allgemein verbessert. Dennoch komme es weiterhin zu Anschlägen auf Militär, Polizei und Zivilisten. Die militanten Gruppierungen seien zwar geschwächt, jedoch noch immer in der Lage, Anschläge mit hohen Opferzahlen zu verüben. Bombenanschläge, Selbstmordanschläge und Sprengfallen gegen die Zivilbevölkerung führten zu Hunderten von Toten. Gezielten Anschlägen fielen vor allem Sicherheitspersonal, Beamte, religiöse und politische Führer, spezielle Berufsgruppen wie Journalisten, Lehrer, medizinisches Personal, Richter und Anwälte, aber auch Angehörige von Minderheiten zum Opfer. Die Sicherheitslage in den sogenannten umstrittenen Gebieten habe sich verschlechtert. Ein Großteil der Gewalt sei in Provinzen mit gemischt ethnischer/religiöser Bevölkerung zu verzeichnen gewesen, insbesondere in den Gebieten in und um Bagdad sowie in den nördlichen Provinzen Ninive, Tamim und Diyala, wobei hier häufig Minderheiten betroffen gewesen seien. Diese Einschätzung deckt sich im Wesentlichen mit der in der genannten Ausarbeitung des Informationszentrums ebenfalls wiedergegebenen Lagebeschreibung des amerikanischen Verteidigungsministeriums, wonach sich die Sicherheitslage im Irak verbessert habe, wenn auch unsicher sei, ob dieser Fortschritt bzw. Zustand erhalten werden könne. Die Aufständischen blieben aber in der Lage, sog. "High Profile Attacks" durchzuführen, die die Zivilbevölkerung und die irakischen Sicherheitskräfte zum Ziel hätten. Unter diese "High Profile Attacks" fielen Autobombenanschläge, Selbstmordanschläge mit Autobomben und sonstige Selbstmordattentate, die überwiegend gemischte Gebiete, wie Bagdad, Diyala, Mossul und Kirkuk beträfen.

Um den sich aus dieser Situation ergebenden Gefahrengrad abschätzen zu können, muss die Zahl der Opfer von Anschlägen in Relation zu der Zahl der gesamten Bevölkerung des Irak gesetzt werden. Nach dem in der Ausarbeitung des Informationszentrums Asyl und Migration des Bundesamts zitierten Bericht der britischen Nichtregierungsorganisation "Iraq Body Count", die seit dem Einmarsch der Koalitionsstreitkräfte in den Irak die Verluste unter der irakischen Zivilbevölkerung zählt, sind diese im Jahr 2009 auf den niedrigsten Stand seit 2003 gefallen. Im Jahr 2009 habe die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei etwa 4.645 gelegen. Im Jahr 2008 habe die Zahl noch über 9.000 betragen. Das Informationszentrum Asyl und Migration zitiert ferner einen Bericht des amerikanischen Verteidigungsministeriums vom Juni 2009, in dem bezogen auf den Zeitraum März bis Mai 2009 eine durchschnittlichen Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung von 9,2 pro Tag genannt wird. In einen späteren Bericht vom September 2009, der sich auf den Zeitraum Juni bis August 2009 beziehe, sei von durchschnittlich 204 Anschlägen pro Woche gegen die Zivilbevölkerung, die irakischen Sicherheitskräfte und die Koalitionstruppen die Rede, die damit um 19 % gegenüber dem vorangegangenen Berichtszeitraum zurückgegangen seien. Die Zahl der Toten unter der Zivilbevölkerung sei in diesem Zeitraum allerdings leicht auf 9,5 Tote pro Tag angestiegen. In der Provinz Anbar mit der Provinzhauptstadt Ramadi sei es im Jahr 2009 zu 78 Anschläge mit insgesamt 389 Toten, d. h. 26 Tote je 100.000 Einwohner, gekommen. Nach diesen Erkenntnissen kann selbst bei Annahme eines innerstaatlichen oder internationalen Konflikts in der Provinz Anbar nicht davon ausgegangen werden, dass der diesen Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist. Dies gilt auch unter der Maßgabe des Europäischen Gerichtshofs (a.a.O.), die Beurteilung der Größe der Gefahr in allen Fällen mit Wachsamkeit und Vorsicht vorzunehmen, da Fragen der Integrität der menschlichen Person und der individuellen Freiheiten betroffen sind, die zu den Grundwerten der Europäischen Union gehören. [...]