VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Urteil vom 15.12.2009 - 4 K 1756/09.A - asyl.net: M17322
https://www.asyl.net/rsdb/M17322
Leitsatz:

Kein Anspruch auf Selbsteintritt im Dublin-Griechenland-Verfahren.

1. Ausweislich der Daten in der Eurodac-Datenbank hat der Kläger in Griechenland Asyl beantragt; es ist nicht glaubhaft, dass die griechischen Behörden ihn unter Verletzung libyscher Hoheitsrechte an die Küste von Libyen zurückgebracht haben könnten, wie der Kläger behauptet.

2. Nach Auskunft des BAMF entspricht es der Praxis sämtlicher Mitgliedstaaten, dass die (fristgerechte) Information über das Untertauchen genüge, um die Verlängerung der Überstellungsfrist auszulösen, ohne dass ihr durch eine ausdrückliche Erklärung zugestimmt werden müsste. Der Kläger war flüchtig, da er am Tag der beabsichtigten Überstellung sich möglicherweise deshalb nicht in seiner Unterkunft aufgehalten habe, weil er, wie häufig, einen Freund aus seiner Heimatstadt in Herne besucht habe.

3. Kein Selbsteintritt durch Anhörung.

4. Keine Ermessensfehler des BAMF bei Ablehnung eines Selbsteintritts wegen der allgemeinen Situation für Asylsuchende in Griechenland.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Griechenland, Untertauchen, flüchtig, Überstellungsfrist, Verlängerung, Anhörung, Selbsteintritt, Ermessen
Normen: AsylVfG § 27a, VO 343/2003 Art. 20 Abs. 1 Bst. c, VO 343/2003 Art. 16 Abs. 1 Bst. c
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat entgegen seinen Angaben gegenüber dem Bundesamt und der Kammer am 27. März 2007 in Heraklion/Kreta einen Asylantrag im Sinne des Art. 2 lit. c) Dublin II-VO gestellt. Das ergibt sich aus der im Tatbestand mitgeteilten Kennziffer, die in der zentralen Eurodac-Datenbank gespeichert ist. Die Buchstabenkombination GR steht für Griechenland, die nachfolgende Zahl "1" für einen Asylantrag (vgl. Art. 2 Abs. 3 Satz 4 der Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 2725/2000, ABl L 316 vom 15.12.2000). [...]

Die Zuständigkeit Griechenlands ist in der Folgezeit nicht entfallen. Die Bundesrepublik Deutschland hat nach der Stellung des Asylantrages durch den Kläger am 12. November 2008 unter dem 24. November 2008 und damit innerhalb der Frist des Art. 17 Abs. 1 Dublin II-VO Griechenland um (Wieder-)Aufnahme des Klägers ersucht. Die Wiederaufnahme des Klägers durch Griechenland gilt gemäß Art. 20 Abs. 1 lit. c) in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1 lit. c) Dublin II-VO als akzeptiert, weil Griechenland auf das Wiederaufnahmegesuch keine Antwort erteilt hat. Die zuständige Stelle des griechischen Innenministeriums hat dem Bundesamt im Übrigen unter dem 7. Juni 2009 die Wiederaufnahme ausdrücklich bestätigt. Griechenland hat sich damit nicht auf Art. 16 Abs. 3 Dublin II-VO berufen, wonach die Wiederaufnahmepflicht entfällt, wenn der Drittstaatsangehörige das Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten für mindestens 3 Monate verlassen hat. Zwar behauptet der Kläger dergleichen; er will von der griechischen Polizei nach einem Aufenthalt von weniger als 24 Stunden auf Kreta nach Libyen zurückgebracht worden sein, von wo aus er nach Syrien zurückgekehrt sei. Dieses Vorbringen ist indessen unglaubhaft. Die Angaben des Klägers im Verlaufe des Asylverfahrens gegenüber dem Bundesamt und gegenüber der Kammer sind von der Tendenz geprägt, zu verschleiern, auszuweichen und letztlich nur das einzuräumen, was ihm nachgewiesen wird. [...] Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass die griechischen Behörden den Kläger unter Verletzung libyscher Hoheitsrechte an die Küste von Libyen zurückgebracht haben könnten, wie der Kläger behauptet. Da die Angaben des Klägers zu den Einreise- und Ausreisemodalitäten im Jahre 2007 Griechenland betreffend auch auf konkrete Nachfragen in besonderer Weise substanzarm und vage geblieben sind, kann dem Kläger nicht abgenommen werden, dass er im März/April 2007 nach Syrien zurückgekehrt und von dort aus erst im Oktober 2008 wieder ausgereist ist.

Die Zuständigkeit für die Behandlung des Asylantrages des Klägers ist nicht deshalb auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen, weil die Überstellung des Klägers nach Griechenland abweichend von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt werden konnte, weil der Kläger am 4. Juni 2009 - vor Ablauf der 6-Monats-Frist am 8. Juni 2009 - von der Ausländerbehörde nicht in der ihm zugewiesenen Unterkunft angetroffen worden ist. Das Bundesamt hat die zuständigen griechischen Behörden noch am 4. Juni und damit entsprechend Art. 9 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vor Ablauf der regulären Frist über den Grund der fehlgeschlagenen Überstellung unterrichtet. Die (Überstellungs-) Frist "kann" aber nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO auf höchstens 18 Monate "verlängert werden", wenn der Asylbewerber "flüchtig" ist. Aus der Wortwahl der Vorschrift kann geschlossen werden, dass insoweit eine einvemehmliche Regelung zwischen den jeweils getroffenen Mitgliedsstaaten getroffen werden muss, um einen Fristablauf nach 6 Monaten zu verhindern. Diese Sichtweise wird durch Art. 9 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission bestätigt, der die "notwendigen Absprachen" durch die beteiligten Mitgliedsstaaten verlangt. [...]

Das Bundesamt hat dem Gericht unter dem 2. November 2009 mitgeteilt, dass es der Praxis sämtlicher Mitgliedsstaaten entspreche, dass die (fristgerechte) Information über das Untertauchen genüge, um die Verlängerung der Überstellungsfrist auszulösen, ohne dass ihr durch eine ausdrückliche Erklärung zugestimmt werden müsste. Da ein Asylsuchender auch dann als "flüchtig" im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO anzusehen ist, wenn er aus von ihm zu vertretenden Gründen für die Behörden des Staates, der die Überstellung durchführen will, nicht auffindbar ist (vgl. Filzwieser/Liebminger, Dublin II-VO, Kommentar, 2. Auflage, Art. 19 K 30), sind hier die Voraussetzungen für eine 18-monatige Überstellungsfrist erfüllt. Der Kläger hat auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung angegeben, er habe sich am 4. Juni 2009 möglicherweise deshalb nicht in seiner Unterkunft aufgehalten, weil er, wie häufig, einen Freund aus seiner Heimatstadt in Herne besucht habe. Die 18-monatige Frist zur Überstellung des Klägers ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) noch nicht abgelaufen.

Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht deshalb zuständig geworden, weil das Bundesamt den Kläger am 13. November 2008 angehört hat. Darin lag keine Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO mit der Folge, dass die Bundesrepublik Deutschland bereits dadurch zum zuständigen Mitgliedsstaat geworden wäre. Ob bereits die Vorbereitung einer asylrechtlichen Sachentscheidung die Ausübung des Selbsteintrittsrechts bedeuten kann (vgl. dazu: Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Oktober 2009, § 27a Rdnr. 80), ist mit Blick auf den Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO zweifelhaft. Die dort angesprochene Prüfung eines Asylantrages bedeutet nach Art. 2 lit. e) Dublin II-VO die Gesamtheit der Prüfungsvorgänge, der Entscheidungen beziehungsweise Urteile der zuständigen Stellen in Bezug auf einen Asylantrag gemäß dem einzelstaatlichen Recht mit Ausnahme der Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates gemäß der Verordnung. Ist danach die Gesamtheit der Prüfungsvorgänge einschließlich ihrer Ergebnisse in Gestalt von Entscheidungen oder Urteilen in den Blick zu nehmen, spricht Vieles dafür, dass in der Anhörung eines Asylsuchenden durch das Bundesamt noch keine Wahrnehmung des Selbsteintrittsrechts gesehen werden kann (vgl. dazu: VG Münster, Beschluss vom 12. Dezember 2008 - 10 L 508/08.A -, juris; VG Saarland, Urteil vom 24. September 2008 - 2 K 94/08 -, juris).

Im vorliegenden Fall ist entscheidend, dass die Anhörung des Klägers durch das Bundesamt erkennbar in erster Linie dem Ziel diente, Angaben zur Identität des Klägers, seine Reisewege und Aufenthalte in anderen Staaten sowie darüber zu erhalten, ob bereits in einem anderen Staat ein Asylverfahren betrieben wird. [...]

Der angefochtene Bescheid vom 26. Februar 2009 ist schließlich auch nicht etwa deshalb rechtswidrig, weil das Bundesamt das ihm bei der Ausübung des Selbsteintrittsrechts zustehende Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt hätte; insbesondere war nicht nur eine Ermessensentscheidung in Richtung auf die Ausübung des Selbsteintrittsrechts zugunsten des Klägers rechtmäßig.

Obgleich weder das Asylverfahrensgesetz noch die Asylzuständigkeitsverordnung ausdrücklich darauf eingehen, ist das Bundesamt für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts zuständig, weil nur das Bundesamt über den Asylantrag sachlich entscheiden darf (vgl. Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Oktober 2009, § 27 a Rdnr. 80). [...]

Die Dublin II-VO sagt nichts dazu aus, nach welchen Kriterien die Behörde das ihr eingeräumte Ermessen auszuüben hat. Die Ermessensausübung kann aber durch nationales Verfassungsrecht (z. B. Art. 6 Abs. 1 GG oder Art. 2 Abs. 2 GG im Falle einer akuten, behandlungsbedürftigen Erkrankung) sowie Völkervertragsrecht (z.B. Art. 3, 8, 13 EMRK) determiniert sein. Zusätzlich können die in Art. 15 Abs. 1 bis 3 Dublin II-VO angesprochenen humanitären Aspekte Berücksichtigung finden. Denn Sinn und Zweck des Selbsteintrittsrechts ist es gerade, die Verordnung in gewissem Umfang für derartige Rechtspositionen flexibel zu öffnen (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O., Rdnr. 135).

Andererseits hat das Bundesamt bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen, dass eine generelle oder nur regelmäßige Ausübung des Selbsteintrittsrechts faktisch dazu führen würde, dass einzelne EU-Mitgliedstaaten vom Anwendungsbereich der Dublin II-Verordnung ausgeschlossen werden würden. Dazu ist der deutsche Gesetz- und Verordnungsgeber - und deshalb auch nicht die Exekutive - aufgrund der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben nicht berechtigt. Deshalb können nur im Einzelfall besondere und inhaltlich umrissene Rechtspositionen des Asylsuchenden die Ermessensausübung durch das Bundesamt beeinflussen. Ob das vom Bundesverfassungsgericht zu § 26 a AsylVfG gewürdigte Konzept der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93 u.a. -, BVerfGE 94, 49) auch den Fall des § 27 a AsylVfG, der erst durch Art. 3 Nr. 20 RL-Umsetzungsgesetz 2007 in das AsylVfG eingefügt worden ist, berührte (verneinend: OVG NRW, Beschluss vom 7. Oktober 2009 - 8 B 1433/09.A -, juris), kann insoweit offen bleiben. [...]