OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 08.06.2010 - 11 S 69.09 - asyl.net: M17279
https://www.asyl.net/rsdb/M17279
Leitsatz:

Die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ist nicht ausgeschlossen. Zwar wird der Lebensunterhalt nicht gesichert und es liegt auch ein Ausweisungsgrund vor (Verurteilung wegen Drogendelikts), es könnte aber ein atypischer Ausnahmefall vorliegen. Die Ehefrau reiste im Alter von fünf Jahren ein und lebt seit mehr als vierzig Jahren in Deutschland, der 14-jährige Sohn ist in Deutschland geboren und auch der Antragsteller lebt seit ca. zwanzig Jahren hier. Eine Fortsetzung der familiären Lebensgemeinschaft in der Türkei dürfte unzumutbar sein (Art. 6 GG, Art. 8 EMRK).

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Verlängerungsantrag, vorläufiger Rechtsschutz, Suspensiveffekt, Beschwerde, Sicherung des Lebensunterhalts, Ausweisungsgrund, Drogendelikt, Straftat, atypischer Ausnahmefall, Schutz von Ehe und Familie, familiäre Lebensgemeinschaft, Achtung des Privatlebens, Integration, Ermessen, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei,
Normen: AufenthG § 30 Abs. 3, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, GG Art. 6, EMRK Art. 8, AufenthG § 27 Abs. 3 S. 2
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg. Das nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu berücksichtigenden Beschwerdevorbringen rechtfertigt es, den angefochtenen Beschluss zu ändern und die aufschiebende Wirkung der gegen den aufenthaltsbeendenden Bescheid vom 13. Mai 2009 anhängigen Klage anzuordnen, denn es zeigt ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids auf, deren Klärung dem Hauptsacheverfahren vorzubehalten ist und die seine sofortige Vollziehung derzeit nicht zulassen.

Zwar dürfte davon auszugehen sein, dass die für die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 30 Abs. 3 in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG im Regelfall erforderliche Sicherung des Lebensunterhalts ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse bis zum maßgeblichen Zeitpunkt des Ablaufs der Beschwerdebegründungsfrist am 4. Januar 2010 nicht hinreichend verlässlich gesichert war. Der Antragsteller selbst hat erstmals zum 1. Mai 2009, d.h. nach Anhörung zur beabsichtigten Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis Ende Januar 2009, eine nicht den familiären Lebensunterhalt deckende Tätigkeit im Rahmen einer sogenannten MAE-Maßnahme mit einer Mehraufwandsentschädigung von 1,50 EUR pro Stunde und 30 Stunden wöchentlich aufgenommen. Soweit mit der weiteren Beschwerdebegründung vom 17. März 2010 nunmehr nach deren Ablauf zum 31. Januar 2010 auf Erwerbseinkommen des Antragstellers von 1200,00 € brutto verwiesen wird, ist dies schon wegen des zwischenzeitlichen Ablaufs der Begründungsfrist nicht zu berücksichtigen. Auch seine Ehefrau hat nach seiner Einreise - von vereinzelten sehr kurzfristigen Beschäftigungen abgesehen - über viele Jahre keinerlei Erwerbstätigkeit ausgeübt und erst zum April 2009 eine auf acht Monate befristete Arbeit als Teilnehmerin einer RBM-Maßnahme aufgenommen und ab 1. Dezember 2009 eine dreimonatige Weiterbildung absolviert.

Ferner hat der Antragsteller aufgrund seiner strafgerichtlichen Verurteilung wegen eines Betäubungsmitteldelikts - unstreitig – einen Ausweisungstatbestand gesetzt, so dass auch die Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht erfüllt ist.

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts weist der Fall jedoch Besonderheiten auf, die eine Abweichung von der gesetzlichen Regelfolge des § 5 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG nicht von vornherein ausschließen. Ein Ausnahmefall ist gegeben, wenn besondere, atypische Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigen. Solche Umstände könnten sich hier aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK im Hinblick darauf ergeben, dass die Aufenthaltsbeendigung des Antragstellers der Fortsetzung seiner familiären Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau und dem gemeinsamen minderjährigen Kind entgegenstünde und ihm allenfalls Besuchsaufenthalte ermöglichen würde. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die bereits im Alter von fünf Jahren eingereiste Ehefrau des Antragstellers mittlerweile mehr als 40 Jahre in Deutschland lebt und über einen verfestigten Aufenthaltsstatus in Form einer Niederlassungserlaubnis verfügt. Es liegt nahe, dass es sie vor besondere Schwierigkeiten stellen würde, dem Antragsteller in die Türkei zu folgen, um die familiäre Lebensgemeinschaft dort fortzusetzen. Entsprechendes gilt mindestens ebenso für den jetzt 14-jährigen gemeinsamen Sohn, der seit seiner Geburt in Deutschland lebt. Auch ist nicht zu vernachlässigen, dass der Antragsteller selbst sich mittlerweile ebenfalls seit ca. zwanzig Jahren hier erlaubt aufhält. All dem steht zwar gegenüber, dass der Antragsteller wegen eines Betäubungsmitteldelikts verurteilt werden musste, und es beiden Eheleuten nicht gelungen ist, ihren Unterhaltsbedarf aus eigener Kraft nachhaltig zu sichern. Jedoch ist auch in Rechnung zu stellen, dass die Verurteilung des Antragstellers zu einem deliktspezifisch eher geringen Strafmaß von 120 Tagessätzen Geldstrafe führte, und dass sich jedenfalls in jüngerer Zeit beide Eheleute teilweise erfolgreich um die Ausübung einer Erwerbstätigkeit bemüht haben.

Eine abschließende Gewichtung der widerstreitenden Belange ist dem Hauptsacheverfahren vorzubehalten, in dem im Übrigen auch der - vom Antragsteller nicht gerügte und deshalb hier nicht entscheidungstragende - Umstand zu würdigen sein wird, dass der angefochtene Bescheid die mit der Beschwerdeerwiderung reklamierte Ermessensausübung nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zumindest bei summarischer Prüfung nicht erschließt. Für die im Rahmen von § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Abwägung ist dem Interesse des Antragstellers, seine im Bundesgebiet bestehende familiäre Lebensgemeinschaft vorläufig fortzuführen, gegenüber dem vom Antragsgegner geltend gemachten öffentlichen Interesse an einer sofortigen Aufenthaltsbeendigung der Vorrang einzuräumen. Ob die vom Antragsteller ferner geltend gemachten assoziationsrechtlichen Ansprüche bestehen, bedarf hier keiner Entscheidung. [...]