OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 12.07.2010 - 8 LA 154/10 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 338 f.] - asyl.net: M17264
https://www.asyl.net/rsdb/M17264
Leitsatz:

§ 60 Abs. 5 AufenthG ist ein deutsches (nationales) und kein europarechtliches Abschiebungsverbot. Bei der Anwendung und Auslegung dieses nationalen Abschiebungsverbots sind die Behörden daher nicht an die Bestimmungen der GR-Charta gebunden. Art. 24 Abs. 2 GR-Charta, wonach bei allen Maßnahmen öffentlicher Stellen, die Kinder betreffen, das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss, steht der Berücksichtigung allein zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG daher nicht entgegen.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, subsidiärer Schutz, zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, Kosovo, Berufungszulassungsantrag, Grundsätzliche Bedeutung, Europäische Grundrechtecharta, Achtung des Privatlebens, Kindeswohl
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1, GR-Charta Art. 24 Abs. 2, EMRK Art. 8, AufenthG § 60 Abs. 5, GG Art. 6
Auszüge:

[...] Geht man zugunsten der Kläger davon aus, dass die Frage darauf gerichtet ist, allgemein zu klären, ob es bei Entscheidungen über die Abschiebung von Kindern mit dem Vorrang des Kindeswohls aus Art. 24 Abs. 2 GR-Charta und dem Recht von Kindern auf Schutz und Fürsorge vereinbar ist, das Recht der Kinder auf Privatleben nicht bzw. nicht eigenständig neben dem Recht der Eltern auf Privatleben zu prüfen, bedarf es zur Klärung dieser Frage keines Berufungsverfahrens.

In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Senats ist geklärt, dass der auch im vorliegenden Fall vom Verwaltungsgericht geprüfte § 60 Abs. 5 AufenthG nur insoweit auf die Europäische Menschenrechtskonvention verweist, als sich aus ihm Abschiebungshindernisse ergeben, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen ("zielstaatsbezogene" Abschiebungshindernisse). Hindernisse, die einer Vollstreckung der Ausreisepflicht entgegenstehen, weil andernfalls ein geschütztes Rechtsgut im Bundesgebiet verletzt würde ("inlandsbezogene" Vollstreckungshindernisse), fallen dagegen nicht unter § 60 Abs. 5 AufenthG (vgl. BVerwG, Beschl. v. 3.3.2006 - 1 B 126/05 -, DVBl. 2006, 850 f.; BVerwG, Urt. v. 11.11.1997 - 9 C 13.96 -, juris Rn. 8 ff. (zu § 53 Abs. 4 AuslG); Senatsbeschl. v. 1.9.2006 - 8 LA 101/06 -, juris Rn. 3; vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 18.11.2009 - 13 S 1469/09 -, juris Rn. 20; OVG Berlin, Urt. v. 11.3.2005 - 6 B 6.04 -, juris Rn. 14 ff.; OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 24.2.2006 - 7 B 10020/06 -, InfAuslR 2006, 274; Hessischer VGH, Beschl. v. 15.2.2006 - 7 TG 106/06 -, NVwZ-RR 2006, 826; GK-AufenthG, Stand: Mai 2010, § 25 Rn. 34; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: April 2010, AufenthG, § 60 Rn. 145).

Beeinträchtigt eine Abschiebung das Recht auf ein eheliches oder familiäres Zusammenleben im Bundesgebiet nach Art. 6 GG oder - wie hier von den Klägern behauptet - das Recht auf Achtung eines im Bundesgebiet geführten Familien- oder Privatlebens nach Art. 8 EMRK, kann sich hieraus lediglich ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis ergeben (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.11.1998 - 2 BvR 140/97 -, juris Rn. 1; BVerwG, Urt. v. 11.11.1997 - 9 C 13/96 -, BVerwGE 105, 322, 327 f.; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 18.11.2009 - 13 S 1469/09 -, juris Rn. 20; OVG Berlin, Urt. v. 11.3.2005 - 6 B 6.04 - juris Rn. 14 ff.).

Dieses vermag zwar von vornherein kein - gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geltend zu machendes - Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu begründen. Es kann aber zur rechtlichen Unmöglichkeit der Ausreise führen und damit einen - gegenüber der Ausländerbehörde geltend zu machenden - Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG oder auf Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG begründen.

Entgegen der mit der Frage zu 1. verbundenen Annahme der Kläger, ein Recht von Kindern auf Achtung des Privatlebens werde in einer ihre Abschiebung betreffenden Entscheidung nicht geprüft, erfolgt grundsätzlich eine solche Prüfung, und zwar im aufenthaltsrechtlichen Verfahren gegenüber der Ausländerbehörde.

Dass eine gleichlaufende Prüfung nicht auch im asylrechtlichen Verfahren vor dem Bundesamt, hier bei der Beurteilung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG, erfolgt, begegnet vor dem Hintergrund der Regelung in Art. 24 Abs. 2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union - Europäische Grundrechtecharta - GR-Charta - (ABl. EU 2007 Nr. C 303, S. 1) entgegen der klägerischen Ansicht keinen Bedenken und wirft auch keine klärungsbedürftige Rechtsfrage auf.

Die Bestimmungen der GR-Charta sind durch Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EUV (in der Fassung des Lissaboner Vertrages, ABl. EU 2008 Nr. C 115, S. 13) verbindlicher Teil der europäischen Verträge und damit des Primärrechts geworden (vgl. Lenz/Borchardt, EUV, 5. Aufl., Anhang zu Art. 6 Rn. 19; Pache/Rösch, Europäischer Grundrechtsschutz nach Lissabon - die Rolle der EMRK und der Grundrechtecharta in der EU, in: EuZW 2008, 519). Sie binden nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GR-Charta - neben den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union - die Mitgliedstaaten, diese indes nur bei der Durchführung des Rechts der Union (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.3.2010 - 1 C 8/09 -, juris Rn. 35; Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl., GR-Charta, Art. 51 Rn. 13). Das Unionsrecht in diesem Sinne umfasst neben dem europäischen Primärrecht auch das Sekundärrecht, mithin das von den Organen der EU aufgrund von Kompetenzzuweisungen in den Verträgen erlassene Recht, insbesondere Rechtsakte nach Art. 249 EGV (vgl. Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Stand: Oktober 2006, EGV Art. 249 Rn. 12). Die hier maßgebliche Bestimmung des § 60 Abs. 5 AufenthG ist danach kein Unionsrecht im Sinne des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GR-Charta und auch nicht auf solches zurückzuführen. Denn anders als die europarechtlichen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG, die auf die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12) zurückzuführen sind, handelt es sich bei der Bestimmung in § 60 Abs. 5 AufenthG um ein Abschiebungsverbot nach nationalem Recht (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008 - 10 C 43/07 -, BVerwGE 131, 198, 201 ff.; Huber, AufenthG, § 60 Rn. 85 f.). Bei der Anwendung und Auslegung dieser nationalen Bestimmung sind die deutschen Behörden daher nicht an die Bestimmungen der GR-Charta gebunden. Die von den Klägern gestellte Frage, ob es mit Art. 24 Abs. 2 GR-Charta vereinbar ist, im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG sich aus Art. 8 EMRK ergebende inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse unberücksichtigt zu lassen, stellt sich daher von vorneherein nicht. Im Übrigen weist der Senat darauf hin, dass entgegen der Annahme der Kläger Art. 24 Abs. 2 GR-Charta keinen (absoluten) Vorrang des Kindeswohls statuiert. Die Bestimmung fordert vielmehr nur, dass bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss. Das Wohlergehen des Kindes muss danach zwar bei jeder Maßnahme berücksichtigt werden, es bindet die staatlichen Stellen aber nicht derart, dass diesem stets der Vorrang eingeräumt werden müsste und nicht andere Gründe überwiegen könnten (vgl. Schwarze, a.a.O., Art. 24 Rn. 8 m.w.N.). [...]