OVG Hamburg

Merkliste
Zitieren als:
OVG Hamburg, Urteil vom 26.05.2010 - 5 Bf 85/10 - asyl.net: M17257
https://www.asyl.net/rsdb/M17257
Leitsatz:

§ 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist keine ausreichende Rechtsgrundlage für eine Auflage, mit der ein Ausländer verpflichtet wird, in einem anderen Land als dem, dem die anordnende Ausländerbehörde angehört, seinen Wohnsitz zu nehmen ("abdrängende Wohnsitznahmebeschränkung").

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Auflage, Wohnsitzauflage,
Normen: AufenthG § 12 Abs. 2 S. 2
Auszüge:

[...]

Die Berufung der Beklagten ist zulässig (I.), hat aber in der Sache keinen Erfolg (II.). Das Verwaltungsgericht hat zu Recht die vom Kläger angegriffene Wohnsitznahmebeschränkung auf Nordrhein-Westfalen als rechtswidrig angesehen und aufgehoben. [...]

Die Berufung ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die dem Kläger am 19. September 2006 erteilte und am 11. Juni 2007 verlängerte Wohnsitzauflage zu Recht aufgehoben.

1. Die Klage des Klägers, die sich zuletzt gegen die Nebenbestimmung vom 19. September 2006 und vom 11. Juni 2007 richtete, ist zulässig.

a) Die Beschränkung der Wohnsitznahme ist eine selbständig anfechtbare Auflage im Sinne von § 36 Abs. 2 HmbVwVfG, § 51 Abs. 6 AufenthG (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.3.1996, BVerwGE 100, 335/337 f.). Sie kann daher mit der auch vorliegend erhobenen Anfechtungsklage angegriffen werden.

b) Das Rechtsschutzbedürfnis für die Aufhebung der Nebenbestimmung zur Aufenthaltserlaubnis vom 19. September 2006 ist hier nicht durch Ablauf der zeitlichen Geltungsdauer dieser Aufenthaltserlaubnis am 16. März 2007 entfallen. Das folgt allerdings nicht schon aus § 51 Abs. 6 AufenthG, wonach räumliche oder sonstige Beschränkungen und Auflagen auch nach Wegfall des Aufenthaltstitels in Kraft bleiben, bis sie aufgehoben werden oder der Ausländer seiner Ausreisepflicht nachgekommen ist. Diese Vorschrift beantwortet nicht die Frage, wie es zu werten ist, wenn in eine neue Aufenthaltserlaubnis eine erneute gleichlautende Auflage aufgenommen wird oder in der neuen Aufenthaltserlaubnis auf die bisherige Auflage verwiesen wird. So kann sich die frühere Auflage durch Erlass einer neuen, gleichlautenden Auflage erledigen (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.1.2008, BVerwGE 130, 148, 150, Rn. 11; Beschl. v. 23.1. 2008, BVerwG 1 C 28.06 und BVerwG 1 C 29.06, juris). § 51 Abs. 6 AufenthG verhindert nicht, dass die Ausländerbehörde bei jeder Verlängerung eines Aufenthaltstitels eine erneute Ermessensentscheidung hinsichtlich der Auflage zu treffen hat (Müller in: Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, 2008, § 12 AufenthG Rn. 8; ähnlich OVG Frankfurt/Oder, Beschl. v. 30.4.2003, InfAuslR 2003, 279, 280). [...]

2. Das Verwaltungsgericht hat der Klage des Klägers zu Recht stattgegeben. Die von einer Behörde der Beklagten verfügte Wohnsitzbeschränkung auf Nordrhein-Westfalen verfügt nicht über eine ausreichende gesetzliche Grundlage. Sie ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, so dass sie gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben ist.

a) Auf § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG lässt sich die angefochtene Wohnsitzbeschränkung nicht stützen. [...]

aa) Der Kläger hat während der Geltungsdauer der vom Landrat des Kreises Höxter erteilten Aufenthaltserlaubnis erlaubtermaßen durch Umzug in den Zuständigkeitsbereich der Beklagten seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Hamburg genommen. Gesetzliche Einschränkungen des Rechts, den Aufenthalts- bzw. Wohnort frei zu wählen, wie sie z.B. § 15a Abs. 1 Satz 2 AufenthG oder § 55 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG vorsehen (kein Recht auf Aufenthalt an einem bestimmten Ort), galten für ihn nicht. Durch den Umzug des Klägers nach Hamburg wurde im Verhältnis zu außerhamburgischen Behörden die Zuständigkeit von Ausländerbehörden der Beklagten für die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis des Klägers begründet (§ 3 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe a HmbVwVfG, § 30 Abs. 3 SGB I). Anders als eine Auflage, die einen Ausländer verpflichtet, dort wo er sich aufgrund seiner eigenen Entscheidung befindet, nun auch zu bleiben, jedenfalls seinen Wohnsitz zu nehmen bzw. beizubehalten, zwingt die im Streit befindliche Auflage den Kläger, seinen Wohnsitz und damit seinen gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Zuständigkeitsbereich der Beklagten hinaus zu verlegen. Sie hat auch zur Folge, dass die Ausländerbehörden der Beklagten ihre Zuständigkeit verlieren, indem sie die Zuständigkeit für (u.a.) die künftigen ausländerrechtlichen Angelegenheiten des Klägers auf eine außerhamburgische Behörde abwälzen. Die Maßnahme greift damit in verschiedene Rechtssphären ein. Dies kann nicht allein auf der Grundlage des § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, geschehen. Vielmehr ist für eine Auflage, die einen Ausländer zwingt, seine Wohnung im Zuständigkeitsbereich einer anderen Ausländerbehörde zu nehmen, eine gesetzliche Regelung erforderlich, die dies ausdrücklich ermöglicht. Eine solche Regelung existiert derzeit jedoch nicht. Ob sie in Einklang mit völkerrechtlichen Regelungen (z.B. Art. 2 des Protokolls Nr. 4 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Gesetz vom 9. Mai 1968, BGBl. II S. 422) überhaupt geschaffen werden könnte, bedarf hier keiner Prüfung.

bb) Zahlreiche Vorschriften aus dem Aufenthaltsgesetz und dem Asylverfahrensgesetz zeigen, dass die Verteilung von Ausländern bzw. die Anordnung aufenthaltsbeschränkender Maßnahmen spezieller gesetzlicher Vorschriften bedarf (vgl. auch BayVGH, Beschl. v. 16.2.2000, InfAuslR 2000, 223/ 225). Zudem lässt sich aus der Gesamtschau dieser Regelungen der Schluss ableiten, dass eine hiervon nicht erfasste abdrängende Wohnsitzauflage unzulässig ist (ebenso Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl. 2005, § 12 AufenthG Rn. 6; Müller in: Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, 2008, § 12 AufenthG Rn. 8; Huber/ Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 170; Wenger in: Storr/ Wenger/Eberle/Albrecht/Harms, Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2. Aufl. 2008, § 12 AufenthG Rn. 6).

Die Verteilung von Asylbewerbern, die gemäß § 55 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG keinen Anspruch darauf haben, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten, ist gesetzlich durchnormiert. [...]

Ähnliches gilt für Ausländer, die zum vorübergehenden Schutz aufgenommen werden (§ 24 AufenthG). Auch diese haben kraft Gesetzes keinen Anspruch darauf, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten (§ 24 Abs. 5 Satz 1 AufenthG). Sie werden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf die Länder verteilt (§ 24 Abs. 3 Satz 3 AufenthG); die Verteilung innerhalb der Länder erfolgt durch eine Landesbehörde aufgrund einer Rechtsverordnung (§ 24 Abs. 4 Sätze 1 und 2 AufenthG). Der Ausländer hat seine Wohnung entsprechend der Zuweisung zu nehmen (§ 24 Abs. 5 Satz 2 AufenthG).

Eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung für die Ausländerbehörde, einem Ausländer aufzuerlegen, auch außerhalb ihres Bezirks zu wohnen, gibt im übrigen soweit ersichtlich nur § 54a Abs. 3 AufenthG für den speziellen Fall der Überwachung eines ausgewiesenen Ausländers aus Gründen der inneren Sicherheit. [...]

Sieht das Gesetz somit schon für Ausländergruppen, die entweder gar kein oder nur ein eingeschränktes Recht zum Aufenthalt in Deutschland haben, grundsätzlich die Befugnis zum Erlass abdrängender Wohnsitzauflagen nur dergestalt vor, dass sie auf das Gebiet des Landes beschränkt sind, dem auch die handelnde Ausländerbehörde angehört, kann die für alle Aufenthaltserlaubnisse geltende Vorschrift des § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nicht zu darüber hinausgehenden Regelungen ermächtigen.

cc) Die Regelung in § 23a Abs. 3 AufenthG bestätigt diesen Befund. In dieser Bestimmung ist ausdrücklich eine Kostenerstattung unter den Sozialhilfeträgern vorgesehen, wenn ein hilfebedürftiger Ausländer in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Leistungsträgers umzieht. Diese Regelung macht deutlich, dass der Gesetzgeber nicht davon ausgeht, dass beim Bezug von Sozialhilfe stets eine Wohnsitzbeschränkung als Nebenbestimmung zur Aufenthaltserlaubnis verfügt wird; die Vorschrift wäre sonst weitgehend obsolet.

b) Das den Ausländerbehörden in § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG eingeräumte Ermessen, Aufenthaltstitel mit Auflagen zu versehen, kann zwar durch Erlasse oder Verwaltungsvorschriften gelenkt werden; diese müssen sich ihrerseits aber im Rahmen des Rechts halten (BVerwG, Urt. v. 15.1.2008, BVerwGE 130, 148, 151, Rn. 15 f.). Es bedarf deshalb keiner Entscheidung, ob die "Bundeseinheitliche Verfahrensweise bei wohnsitzbeschränkenden Auflagen", die die Vertreterin der Beklagten im Erörterungstermin des Verwaltungsgerichts vom 3. Februar 2010 vorgelegt hat, oder die Abschnitte 12.1.1.3 bzw. 12.2.5.1.1. ff. der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26. Oktober 2009 (GMBl. S. 878, 959 ff.) den hier zu entscheidenden Fall – Verlängerung einer ohne räumliche Beschränkung und Wohnsitzerlaubnis erteilten Aufenthaltserlaubnis unter Beifügung einer abdrängenden Wohnsitzauflage – überhaupt erfassen. Weder geht es vorliegend um die Beifügung einer Auflage zu einer durch eine nordrhein-westfälische Ausländerbehörde erteilten Aufenthaltserlaubnis noch um die Streichung oder Änderung einer Wohnsitzbeschränkung, um einen länderübergreifenden Wohnortwechsel zu ermöglichen. [...]