VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 20.05.2010 - 2 K 1896/09 - asyl.net: M17251
https://www.asyl.net/rsdb/M17251
Leitsatz:

Kein Anspruch auf Selbsteintritt im Dublin-Verfahren nach Ablehnung des Asylantrags eines Christen aus dem Irak in Schweden, auch wenn ihm eine Abschiebung aus Schweden in den Irak droht und er in Deutschland bessere Chancen auf eine Flüchtlingsanerkennung hätte.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Selbsteintritt, Schweden, Irak, Christen, Refoulement, Anfechtungsklage, Ermessen, Humanitäre Klausel, subjektives Recht, Rückübernahmeabkommen
Normen: AsylVfG § 27a, VO 343/2003 Art. 16 Abs. 1e, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2, GFK Art. 33, VwGO § 42 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 15
Auszüge:

[...]

Mit seinem Vorbringen, die Beklagte sei mit Blick auf das in Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention verankerte Verbot der Ausweisung oder der Zurückweisung (sog. Prinzip des Non-Refoulement) verpflichtet gewesen, von ihrem Selbsteintrittsrecht (vgl. Art. 3 Abs. 2, Art. 15 Dublin II-VO), das heißt von ihrem Recht, das Asylbegehren des Klägers selbst zu prüfen, obwohl sie nach den Bestimmungen der Dublin II-VO nicht für die Prüfung zuständig ist, Gebrauch zu machen, dringt der Kläger nicht durch. Die Dublin II-VO selbst enthält keine Konkretisierungen, unter welchen Umständen das Selbsteintrittsrecht von den Mitgliedsstaaten angewandt werden soll. Art. 3 Abs. 2 der Dublin II-VO ist nicht an tatbestandliche Voraussetzungen geknüpft und eröffnet der Beklagten ein freies Ermessen. Auch Art. 15 der Dublin II-VO ist eine Ermessensvorschrift, die sich allerdings auf spezielle - beispielhaft angeführte - Fälle zur Berücksichtigung humanitärer Belange bezieht.

Im vorliegenden Fall kann dahingestellt bleiben, ob sich aus den genannten Vorschriften überhaupt - wie der Kläger meint - ein einklagbarer Rechtsanspruch des Asylbewerbers ableiten lässt; denn ein solcher würde sich jedenfalls nicht im Hinblick auf die Befürchtung des Klägers ergeben, in Schweden ohne Rücksicht auf seine Zugehörigkeit zu einer religiösen Minderheit im Irak dorthin abgeschoben zu werden. Die Geltendmachung ihres Selbsteintrittsrechts wäre von der Beklagten in Fällen zu erwägen, in denen dem Ausländer nach der Abschiebung in den zuständigen EU-Mitgliedstaat dort ein für die europäische Richtlinie 2005/85/EG des Rates über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft verletzendes Verfahren drohen würde. Dies ist im Hinblick auf den Kläger aber nicht anzunehmen, denn in Schweden hat er, was von ihm indessen auch nicht in Zweifel gezogen wird, ein den rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechendes Asylverfahren durchlaufen, das für ihn allerdings erfolglos blieb. Die Dublin II-VO beruht im Übrigen auf der Annahme, dass in allen EU-Ländern die Einhaltung der EMRK und der Genfer Flüchtlingskonvention gewährleistet ist.

Hiervon abgesehen geht es bei der von dem Kläger in den Vordergrund seiner Argumentation gestellten Kritik an der schwedischen Abschiebepraxis irakischer Staatsangehöriger nicht (mehr) um die Durchführung des Asylverfahrens selbst, sondern vielmehr um den Vollzug der in diesem Verfahren getroffenen behördlichen Entscheidungen. Nach den Auskünften des UNHCR vom 16.10.2008 und vom 04.08.2008, die der Kläger in das Verfahren eingeführt hat, werden in Schweden aufgrund eines Rückführungsabkommens irakische Staatsangehörige ohne Rücksicht auf Zugehörigkeit zu einer religiösen Minderheit abgeschoben. Dem Schreiben des UNHCR vom 04.08.2008 zufolge hat die schwedische Regierung im Februar 2008 mit der irakischen Zentralregierung in Bagdad ein Abkommen zur Rückübernahme irakischer Staatsangehöriger unterzeichnet. Eine Differenzierung des von Rückführungsmaßnahmen betroffenen Personenkreises nach Volks- oder Religionszugehörigkeit oder nach bestimmten Herkunftsregionen sei nicht vorgesehen. Der Auskunft des UNHCR zufolge müsse potentiell jeder rechtskräftig abgelehnte irakische Asylbewerber in Schweden mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen einschließlich Abschiebung rechnen. Abschiebungen fänden von Schweden aus mit dem Flugzeug nach Bagdad statt. Die tatsächliche Zahl der von den schwedischen Behörden abgeschobenen irakischen Staatsangehörigen sei bislang gering gewesen. Genaue Zahlen lägen dem UNHCR nicht vor. Der Hinweis des Klägers auf die in Deutschland herrschende günstigere Asyl- und Abschiebepraxis für irakische Staatsangehörige, wonach Christen aus dem Irak nach der Entscheidungspraxis der Beklagten als Asylberechtigte bzw. als Flüchtlinge anerkannt werden und Abschiebungen abgelehnter irakischer Asylbewerber in Deutschland derzeit überhaupt nicht stattfinden, vermag nicht zu überzeugen (zur Lage im Irak vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 12.08.2009).

Die in Deutschland geltende günstigere Entscheidungs- und Abschiebungspraxis ist nach der Dublin II-VO kein für die Bestimmung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Wege des Selbsteintrittrechts unter Ermessensgesichtspunkten bindend zu berücksichtigendes Kriterium. Diese Erwägung ergibt sich aus sachlichen Gründen, denn sonst bestünde für Asylbewerber die Möglichkeit, das Land mit der günstigsten Entscheidungspraxis für die Durchführung ihres Asylverfahrens auszuwählen. Es liegt auf der Hand, dass damit die Intention und die Bestimmungen der Dublin II-VO leerliefen (in diesem Sinne auch VG München, Urteil vom 12.02.2010 - M 16 K 09.50318 -, dokumentiert bei juris).

Reklamierte man, wie dies der Kläger tut, eine aus der Dublin Il-VO folgende Verpflichtung zum Selbsteintrittsrecht der Beklagten, bedeutete dies, dass die Beklagte gehalten wäre, die Asyl- und Abschiebepraxis anderer Mitgliedstaaten nachzuvollziehen und ggfs. bei für den betreffenden Asylbewerber ungünstiger Entscheidungs- bzw. Vollzugspraxis zu korrigieren, indem sie das Asylverfahren an sich zieht. Im Ergebnis führte dies dazu dass die Beklagte in Dublin-II-Fällen verpflichtet wäre, den asylbegründenden Vortrag des Asylbewerbers unter asylrechtlichen Maßstäben - und damit bspw. auch unter Glaubhaftigkeitsgesichtspunkten - vorab zu würdigen und zu prüfen, was im Ergebnis bereits der Durchführung eines Asylverfahrens gleichkäme. Dies würde aber offensichtlich im Widerspruch zu dem Zweck der Dublin II-VO stehen.

Sofern der Kläger sich in diesem Zusammenhang auf das Non-Refoulement-Prinzip (vgl. Art. 33 Genfer Flüchtlingskonvention) beruft, verkennt er, dass ein Verstoß gegen dieses Prinzip schon deswegen nicht vorliegt, weil in Schweden ein den rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechendes Asylverfahren und damit eine Einzelfallprüfung des Begehrens des Klägers vorgenommen wurde. Der Kläger ist im Hinblick auf die von ihm befürchtete Abschiebung daher gehalten, die nach dem schwedischen Rechtssystem vorgesehenen Rechtsbehelfe zu ergreifen. Soweit er beanstandet, dass er in Schweden ein weiteres Asylverfahren (Folgeverfahren) nur bei Vorliegen neuer Umstände betreiben kann, ist ihm entgegenzuhalten, dass dies auch nach der deutschen Gesetzeslage (vgl. § 71 AsylVfG) nur möglich ist. [...]