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OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 01.07.2010 - 1 B 127/10 - asyl.net: M17249
https://www.asyl.net/rsdb/M17249
Leitsatz:

1. Werden einem Ausländer, der ein Visum für den Nachzug zu seinem deutschen Ehegatten beantragt, von der Deutschen Botschaft in seinem Heimatland die für die Erteilung des Aufenthaltstitels erforderlichen Deutschkenntnisse bescheinigt, kann die Ausländerbehörde jedenfalls nicht ohne Auswertung der vollständigen Unterlagen der Botschaft und eine Befragung des zuständigen Konsulatsbeamten annehmen, der Ausländer habe vor seiner Einreise nicht über die bescheinigten Sprachkenntnisse verfügt.

2. Entscheidet die Ausländerbehörde im Rahmen ihres Ermessens nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG rechtsfehlerfrei, dass zugunsten des mit einem Schengen-Visum eingereisten Ehegatten eines Deutschen nicht von dem Visumverfahren für die Aufenthaltserlaubnis nach § 28 AufenthG abgesehen werden soll, obwohl alle materiellen Voraussetzungen für die Erteilung dieser Aufenthaltserlaubnis gegeben sind, hat sie durch die Erteilung einer Vorabzustimmung nach § 31 Abs. 3 AufenthV dafür Sorge zu tragen, dass das Visumverfahren zügig betrieben und eine lange Trennung der Eheleute soweit wie möglich vermieden werden kann (wie Beschl. des Senats vom 26.04.2010 – 1 B 50/10 – NordÖR 2010, 240).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ehegattennachzug, Visumsverfahren, Visum, Ermessen, Deutschkenntnisse, Vorabzustimmung, Aufenthaltserlaubnis, deutscher Ehegatte, Schutz von Ehe und Familie, Armenien, Kindeswohl, Sorgerecht
Normen: AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 28 Abs. 1, AufenthG § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, AufenthV § 31 Abs. 3, GG Art. 6 Abs. 1, AufenthG § 32 Abs. 1 Nr. 2
Auszüge:

[...]

Der Antragstellerin zu 1. ist nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG als Ehegattin eines Deutschen eine Aufenthaltserlaubnis zur Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft zu erteilen.

1. Die materiellen Voraussetzungen dieses Anspruchs sind erfüllt. Die Auffassung der Antragsgegnerin, die Antragstellerin zu 1. habe nicht glaubhaft gemacht, dass sie sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen könne (§ 28 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG), ist nicht nachvollziehbar.

Zwar mag fraglich sein, ob die von der Antragstellerin zu 1. vorgelegte Bescheinigung eines armenischen Lehrinstituts über die erfolgreiche Teilnahme an einem Deutschkurs von 120 Stunden ein geeignetes und zuverlässiges Sprachstandszeugnis ist und auf einer standardisierten Sprachprüfung beruht; entsprechende Nachfragen bei der Deutschen Botschaft in Eriwan, die sich vom Standpunkt der Antragsgegnerin aufgedrängt hätten, sind nicht erfolgt. Auf die Validität des Zeugnisses kommt es aber schon deshalb nicht an, weil der Konsulatssekretär der Deutschen Botschaft in Eriwan, bei dem die Antragstellerin zu 1. wegen ihres Visumantrags vorsprach, ihr bescheinigt hat, dass sie über Deutschkenntnisse auf dem Niveau A1 verfüge (Aktenvermerk vom 08.04.2009). Anhaltspunkte dafür, dass diese Bescheinigung der Deutschen Botschaft zu Unrecht erfolgt sein könnte, sind nicht ersichtlich. Der Vermerk des Konsulatssekretärs (Bl. I 7 der Behördenakte) beruht auf einem längeren Gespräch mit der Antragstellerin zu 1. über ihren Visumsantrag, das nach der ausführlichen Mitschrift des Gesprächs (Bl. I 8f. der Behördenakte) "armenisch, manchmal deutsch" geführt wurde. Die Antragstellerin zu 1. hat zudem eine Kopie des Testes einfacher Kenntnisse der deutschen Sprache für den Ehegattennachzugs, das sie bei ihrer Vorsprache bei der Deutschen Botschaft in Eriwan ausgefüllt haben will, zu den Gerichtsakten gereicht (Anlage 5 zum Eilantrag, Bl. 16). Die Echtheit dieses Formulars wird von der Antragsgegnerin nicht bestritten; für sie spricht, dass das Schriftbild des Vermerks "ausreichendes Deutschkenntnisse" weitgehende Übereinstimmungen mit der Mitschrift des Gesprächs durch den Konsulatssekretär aufweist. Da sich die Herkunft des Formulars aber nicht aus der Kopie selbst ergibt und keine entsprechende Kopie in den – allerdings teilweise unvollständigen und unsystematisch angelegten – Behördenakten befindet, kann die Echtheit im Rahmen dieses Eilverfahrens nicht abschließend erklärt werden. Das ist indes unschädlich, denn der formularmäßige Test ist nur eines der Erkenntnismittel, die der Auslandsvertretung zur Verfügung stehen. So bedarf es keines besonderen Nachweises der geforderten einfachen Sprachkenntnisse, wenn diese "bei der Antragstellung offenkundig" sind (Ziff. 30.1.2.3.1 Satz 4 AVwV-AufenthG). Anhaltspunkte dafür, dass sich der Konsulatssekretär pflichtwidrig weder in der einen noch in der anderen Weise vom Vorliegen der erforderlichen einfachen Sprachkenntnisse überzeugt hat, sind nicht erkennbar. [...]

Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis scheitert auch nicht daran, dass die Antragstellerin zu 1. nicht mit dem zum Familiennachzug erforderlichen nationalen Visum, sondern einem Schengen-Visum eingereist ist (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 6 Abs. 4 AufenthG). Gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG kann von diesem Erfordernis aber u.a. dann abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erfüllt sind. Das ist hier der Fall. Die Antragstellerin zu 1. hat deshalb, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, einen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung darüber ob in ihrem Fall von der Durchführung eines Visumverfahrens abgesehen wird.

Eine solche Ermessensentscheidung fehlt bisher, weil die Antragsgegnerin – zu Unrecht – davon ausgeht, die Antragstellerin zu 1. habe keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Bei der Ermessensausübung kann nicht vernachlässigt werden, dass die Deutsche Botschaft in Eriwan die Voraussetzungen für die Erteilung eines Nachzugsvisums bereits geprüft hat und die nochmalige Durchführung des entsprechenden Verfahrens lediglich eine "leere Förmelei" wäre (vgl. Ziff. 5.2.2.1 Satz 1 VwV-AufenthG). Entgegen der Auffassung der Beschwerde lässt sich eine Ermessensausübung zu Lasten der Antragstellerin zu 1. auch nicht allein damit begründen, das öffentliche Interesse an der Einhaltung des Sichtvermerkverfahrens wiege deshalb schwerer als das private Interesse der Antragstellerin zu 1. an einem nicht unterbrochenen Verbleib im Bundesgebiet, weil sich die Antragstellerin zu 1. durch ihre Einreise mit einem Schengen-Visum noch während des Gerichtsverfahrens über das Ehegattennachzugsvisum bewusst über die Vorschriften hinweggesetzt habe. Auch wenn dieser Vorwurf, falls er zutrifft, ernst zu nehmen ist, kann gleichwohl nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Antragsgegnerin durch ihre unbegründete Verweigerung der Zustimmung zur Erteilung des Visums (siehe dazu 2a) dazu beigetragen hat, dass die Antragstellerin zu 1. nicht zu ihrem Ehemann nachziehen konnte, obwohl sie materiell dazu berechtigt war. Bei einer Ermessensentscheidung, bei der dem Schutz der ehelichen Lebensgemeinschaft nach Art 6 Abs. 1 GG und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit große Bedeutung zukommt, wird die Antragsgegnerin auch ihr eigenes Verhalten in Rechnung stellen müssen.

Für den Fall, dass die Antragsgegnerin – aus welchen Gründen auch immer – ohne Rechtsfehler zu dem Ergebnis kommen sollte, dass nicht nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG von dem Visumverfahren abgesehen werden soll, ist sie nach Art. 6 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aber zumindest gehalten, dafür Sorge zu tragen, dass das Visumverfahren zügig betrieben und eine längere Trennung der Eheleute so weit wie möglich vermieden werden kann. Dem lässt sich dadurch Rechnung tragen, dass die Antragsgegnerin gemäß § 31 Abs. 3 AufenthV ihre Vorabzustimmung zur Erteilung eines Visums zum Ehegattennachzug erteilt (vgl. Beschl. des Senats v. 26.04.2010 – 1 B 50/10 –, Asylmagazin 2010, 207 = NordÖR 2010, 240). Die – nicht näher begründete - Weigerung der Antragsgegnerin, eine Vorabzustimmung zu erteilen (Vermerk vom 20.01.2010), ist rechtswidrig.

II. Der Antragsteller zu 2. teilt, wie die Beschwerde zu Recht bemerkt, ausländerrechtlich das Schicksal seiner Mutter.

Zwar besteht ein Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 32 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 AufenthG nur, wenn die Antragstellerin zu 1. allein personensorgeberechtigt ist. Das ist, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, gegenwärtig noch nicht abschließend geklärt, aber jedenfalls nicht von vornherein unwahrscheinlich, weil der Antragsteller zu 2. nach den Erklärungen der Antragstellerin zu 1. seinen Vater nicht kennt. In einem solchen Fall spricht zumindest Einiges dafür, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf Grund der Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Kindeswohls und der familiären Situation zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich und das in § 32 Abs. 4 AufenthG eingeräumte Ermessen entsprechend reduziert ist. [...]