VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 05.07.2010 - 5 A 212/09 - asyl.net: M17244
https://www.asyl.net/rsdb/M17244
Leitsatz:

1. Für Familienflüchtlingsschutz nach § 26 AsylVfG kommt es vorliegend auf den Zeitpunkt des Erstantrags und nicht des Folgeantrags an. Es ist daher unerheblich, dass der Kläger bei Einleitung des Folgeverfahrens, das zu der Anerkennung seiner und seines Vaters Flüchtlingseigenschaft geführt hat, bereits volljährig war. Denn dem Folgeantrag wurde nicht auf der Grundlage eines neues Sachvortrags zum Verfolgungsschicksal stattgegeben, sondern dem Vater wurde auf der Grundlage des ärztlichen Gutachtens die Rechtsstellung als Flüchtling zuerkannt, da sein Vorbringen, das im ersten Verfahren als unglaubhaft bewertet worden war, auf der Grundlage des ärztlichen Gutachtens nunmehr als glaubwürdig erachtet wurde. Diese Tatsache muss sich auf die Rechtsstellung der Kinder, die mit dem Vater im Erst- und Folgeverfahren waren, auswirken.

2. Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung, da kein Wegfall der drohenden sippenhaftähnlichen Verfolgung in der Türkei.

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Türkei, Kurden, PKK, Sippenhaft, Änderung der Rechtslage, Änderung der Sachlage, Familienflüchtlingsschutz
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 26 Abs. 4, AsylVfG § 26 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Der Widerruf konnte schon deshalb nicht nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG wegen der aufgrund der Änderung der Verhältnisse in der Türkei möglicherweise nicht mehr gegebenen sippenhaftähnlichen Gefährdung des Klägers erfolgen, weil für den Kläger die Voraussetzungen für einen Familienabschiebungsschutz gegeben sind. [...]

Für den Kläger sind die zu einem gleichberechtigten Abschiebungshindernis führenden Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 AsylVfG gegeben. Die Abschiebungsschutzberechtigung des Vaters des Klägers besteht fort, ein Widerrufsverfahren ist ausweislich eines Vermerks im Vorgang des Bundesamtes nicht eingeleitet. Deshalb steht dem Kläger weiterhin ein Abschiebungsschutz über den am 01.01.2005 in Kraft getretenen § 26 Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 AsylVfG zu (vgl. U. d. erkennenden Kammer vom 03.12.2009 - 5 A 236/08; VG Göttingen, U. v. 09.11.2007 - 1 A 248/07 -). § 26 Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 AsylVfG gilt auch für die Fälle, in denen das Vorliegen der Voraussetzungen des damals geltenden § 51 Abs. 1 AuslG bei dem Stammberechtigten vor dem 01.01.2005 unanfechtbar festgestellt wurde (vgl. Nds. OVG, B. v. 07.12.2006 - 11 LA 347/06 -, www.dbovg.niedersachsen.de, m.w.N.).

Dies gilt, obwohl der Kläger bei Einleitung des Folgeverfahrens, das zu der Anerkennung seiner und seines Vaters Flüchtlingseigenschaft geführt hat, bereits volljährig war. Bei der Auslegung des § 26 Abs. 2 AsylVfG, der die Rechtsstellung auf das "bei Asylantragstellung" minderjährige Kind erstreckt, ist jedenfalls im vorliegenden Fall nicht auf den Zeitpunkt des Folgeantrags, sondern auf den Zeitpunkt des Erstantrages abzustellen, der mit Bescheid vom 12.12.1995 gegenüber dem noch minderjährigen Kläger abgelehnt wurde. Dem steht die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U. v. 13.08.1996 - 9 C 92/95 - juris) nicht entgegen. Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem Fall, in dem der Kläger seinen ersten Asylantrag zurückgenommen hatte, auf den Zeitpunkt des Folgeantrages abgestellt (zu dem der dortige Kläger volljährig war) und ausgeführt, dass dieser erste Antrag nach der Rücknahme nicht mehr existierte. Der Wortlaut der Vorschrift schließe ein Abstellen auf den Zeitpunkt des Erstantrages nicht aus, aber vor den Folgen der Rücknahme als eines in seine Sphäre fallenden Ereignisses habe der Gesetzgeber bei der Neuregelung des § 26 AsylVfG, nach der nicht mehr auf den Abschluss des Verfahrens, sondern auf die Antragstellung abzustellen ist, den Personenkreis des Klägers nicht bewahren wollen. Die Neuregelung sei mit dem Ziel erfolgt, zu verhindern, dass sich lange Verfahrensdauern nachteilig auf den Anspruch des Kindes auswirkten. Deshalb sei grundsätzlich nicht auf früher gestellte Anträge abzustellen, schon um zu vermeiden, dass Kinder eines Asylberechtigten, die irgendwann einmal einen längst erledigten Asylantrag gestellt hätten, unter Hinweis auf die Neuregelung des § 26 AsylVfG ein Wiederaufgreifen ihres Verfahrens erreichen könnten.

Dieser Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die auf den Einzelfall der Rücknahme des ersten Antrages abstellt und ausführt, es käme "grundsätzlich" auf den Zeitpunkt der Folgeantragstellung an, kann aber auch entnommen werden, dass in bestimmten Fällen auf den Zeitpunkt des Erstantrages abzustellen ist. Dementsprechend hat das VG Gießen (U. v. 09.08.2001 - 7 E 4495/00.A - juris) auf den Folgeantrag abgestellt, weil das Erstverfahren des Stammberechtigten 8 Jahre gedauert hatte. Auch im vorliegenden Fall ist eine Konstellation gegeben, die ein Abstellen auf den Zeitpunkt der Folgeantragstellung gebietet. Dem Folgeantrag ist hier nicht auf der Grundlage eines neuen Sachvortrages zum Verfolgungsschicksal stattgegeben worden und es ist auch nicht lediglich zugunsten des Vaters des Klägers wegen der posttraumatischen Belastungsstörung Abschiebungsschutz nach dem damaligen § 53 Abs. 6 AuslG gewährt worden, sondern dem Vater wurde auf der Grundlage des ärztlichen Gutachtens die Rechtsstellung als Flüchtling nach dem damaligen § 51 Abs. 1 AuslG zugesprochen. Dabei ist das Vorbringen des Vaters, das im ersten Verfahren als unglaubhaft bewertet worden war, auf der Grundlage des ärztlichen Gutachtens nunmehr als glaubwürdig erachtet worden und bildet die Grundlage der Anerkennung des Flüchtlingsschutzes. Diese Tatsache muss sich auf die Rechtsstellung der Kinder, die mit dem Vater im Erst- und im Folgeverfahren waren, auswirken. Unter Berücksichtigung des auch vom Bundesverwaltungsgericht angeführten Zweck des § 26 AsylVfG - Schutz und deshalb einheitliche Behandlung der Kernfamilie - ist deshalb auch im Rahmen des § 26 AsylVfG zugunsten des Klägers auf die Erstantragsstellung abzustellen.

Aber auch soweit der angefochtene Bescheid auf den Wegfall der drohenden sippenhaftähnlichen Verfolgung gestützt wird, liegen die Voraussetzungen für einen Widerruf nicht vor.

Der Widerruf konnte nicht nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG wegen einer Änderung der Verhältnisse in der Türkei erfolgen. Der Widerruf einer Anerkennung als politisch Verfolgter ist nach § 73 AsylVfG nur zulässig, wenn sich die für die Beurteilung der Verfolgungslage maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr eines Klägers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist; eine Änderung der Erkenntnislage oder deren abweichende Würdigung genügt nicht (BVerwG, U. v. 01.11.2005 - 1 C 21.04 -, juris). Der Gesetzgeber hatte ausweislich des Regierungsentwurfes zu § 16 AsylVfG 1982, der Vorgängervorschrift zu § 73 Abs.1 AsylVfG, vor Allem den Fall als Widerrufsgrund vor Augen, in dem im Verfolgungsland ein Wechsel des politischen Systems eingetreten ist. Die Voraussetzungen für eine Asylanerkennung liegen danach dann nicht mehr vor, wenn sich die maßgeblichen Verhältnisse nach Ergehen des bestandskräftigen Anerkennungsbescheides dauerhaft erheblich geändert haben, wobei es unerheblich ist, ob die Anerkennung rechtswidrig oder rechtmäßig war (BVerwG, aaO). Dabei ist die Beendigungsklausel des Art. 1 C Ziffer 5 GFK zu berücksichtigen (BVerwG, a.a.O., VG Göttingen, U. v. 27.08.2004 - 2 A 54/04 -, www.dbovg.niedersachsen.de), wonach die Flüchtlingseigenschaft entfällt, wenn wegen des Wegfalls der anerkennungsbegründenden Umstände ein Flüchtling es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. § 73 AsylVfG in der Auslegung durch das Bundesverwaltungsgericht stimmt mit Art 1 GFK überein, weil auch das BVerwG auf eine einschneidende und dauerhafte Änderung der Verhältnisse abstellt (BVerwG, a.a.O.; VG Freiburg, U. v. 25.07.2006 - A 6 K 11023/05 -, AuAS 2006, (224)).

Hinsichtlich des anzuwendenden Prognosemaßstabes führt das Bundesverwaltungsgericht weiter aus, im Widerrufsverfahren müsse "die Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen" werden (BVerwG, aaO). Das Bundesverwaltungsgericht hat in dieser Entscheidung zwar dem Wortlaut nach auf die "für die Flucht maßgeblichen" Verfolgungsmaßnahmen abgestellt, der negativer Prognosemaßstab gilt aber auch für Personen, die nicht bereits im Heimatland Vorverfolgung erlitten hatten, sondern "unter dem Druck einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung ausgereist und deshalb ebenfalls als vorverfolgt anzusehen sind" (VGH Baden-Württemberg, B. v. 16.03.2004 - A 6 S 219/04 -, juris). Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits in seiner Entscheidung vom 24.11.1992 (- 9 C 3/92 -, juris) ausgeführt: "Ist die Anerkennung erfolgt, weil der Ausländer Verfolgung erlitten hat oder als ihm bevorstehend befürchten musste, so können die Anerkennungsvoraussetzungen nur dann als weggefallen angesehen werden, wenn der Betroffene vor künftiger Verfolgung sicher ist." Danach ist der herabgestufte Prognosemaßstab auch in den Fällen anzuwenden, in denen die Flüchtlingseigenschaft aufgrund drohender politischer Verfolgung wegen des Vorliegens von Nachfluchtgründen festgestellt worden ist. [...]

Hinsichtlich der Situation von Kurden, die aufgrund eines prokurdischen Engagements in der Türkei in den Verdacht der Unterstützung einer illegalen kurdischen Organisation geraten sind und zur Menschenrechtslage nach Einleitung des Reformprozesses in der Türkei hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht grundlegend (U. v. 18.07.2006 - 11 LB 75/06 -, www.dbovg.niedersachsen.de) festgestellt, dass auch nach der Einleitung bzw. Durchführung des Reformprozesses und der Neufassung der Vorschriften des Anti-Terror-Gesetzes weiterhin im Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgung angenommen werden muss. Zwar würden auch von den Menschenrechtsorganisationen die Erfolge dieser Reformpolitik, die auf Demokratisierung und Stärkung der Rechtsstaatlichkeit setze, grundsätzlich anerkannt. Allerdings gehe die Umsetzung einiger Reformen langsamer als erwartet voran. Der erforderliche Mentalitätswandel habe noch nicht alle Teile der türkischen Sicherheitskräfte, der Verwaltung und der Justiz vollständig erfasst. Dies führe dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den - wesentlich verbesserten - rechtlichen Rahmenbedingungen zurück bleibe. Die Bekämpfung von Folter und Misshandlung sowie ihre lückenlose Strafverfolgung seien noch nicht in der Weise zum Erfolg gelangt, dass solche Fälle überhaupt nicht mehr vorkommen. Ungünstig auf die innenpolitische Entwicklung wirke sich auch das Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den staatlichen Sicherheitskräften im Südosten der Türkei aus. Hierzu gebe es Informationen über gewaltsame Auseinandersetzungen und eine große Anzahl von Festnahmen. Die Unruhen weiteten sich auf die Städte im Westen der Türkei aus. Es gebe weiterhin Festnahmen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur PKK. Aufgrund der neu gefassten Vorschriften des Anti-Terror-Gesetzes bestehe die Gefahr, dass die strafrechtliche Verfolgung von Personen, die Sympathie für die kurdische Sache äußern, künftig erleichtert würde. Darüber hinaus könnten Angeklagte in der Türkei, die eines politischen Delikts beschuldigt werden, nach Gutachtenlage auch weiterhin nicht mit einem fairen Strafverfahren rechnen.

Diesen Feststellungen hat sich das erkennende Gericht in ständiger Rechtsprechung angeschlossen (U. v. 16.12.2008 - 5 A 277/08 - www.dbovg.niedersachsen.de). Sowohl auf der Grundlage der aktuellen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte als auch des aktuellen Lageberichts des Auswärtigen Amtes und allgemein zugänglicher Zeitungsberichte stellt das erkennende Gericht ausdrücklich fest, dass die beschriebene Lage sich seit der zitierten Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts nicht verbessert, sondern eher verschärft hat.

In der tatsächlichen Umsetzung der Reformen bestehen erhebliche Defizite. Es kommt weiterhin zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, insbesondere in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams. Im Jahre 2007 wurde im Vergleich zum Vorjahr ein erheblicher Anstieg der gemeldeten Fälle von Folter und Misshandlungen festgestellt. Vornehmlich wegen der nicht ausreichend effizienten Strafverfolgung von Foltertätern ist es nicht gelungen, Folter und Misshandlungen vollständig zu unterbinden. Über den Umfang der darüber hinausgehenden inoffiziellen Gewahrsamnahmen mit Misshandlungen und Folter durch Zivilisten und Sicherheitskräfte in Zivil liegen derzeit keine zuverlässigen Erkenntnisse vor. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen finden Misshandlungen aber oft nicht mehr in Polizeistationen, sondern an anderen Orten statt. Es werden dabei Formen unsichtbar bleibender Misshandlungen, wie etwa Elektroschocks, angewandt (vgl. zum Ganzen: Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.04.2010, S. 24 ff.; VG Göttingen, U. v. 12.11.2008 - 1 A 392/06 -, www.dbovg.niedersachsen.de, m.w.N.; VG Stuttgart, U. v. 14.01.2008 - A 11 K 4866/07 -, juris).

Mit dem Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzung zwischen der PKK und den staatlichen Sicherheitskräften ist es zu einem Anstieg von Menschenrechtsverletzungen sowie von Übergriffen der Sicherheitskräfte gekommen und auch der Ruf nach "einschneidenden Maßnahmen" zur Terrorbekämpfung ist lauter geworden (vgl. VG Gelsenkirchen, U. v. 15.08.2008 - 14 a K 2476/08.A -, juris, m.w.N.). In den letzten Jahren verübt die PKK regelmäßig Bombenanschläge, die zu einer großen Anzahl von Opfern geführt haben. Seit Dezember 2007 unternimmt das türkische Militär grenzüberschreitende Militäroperationen gegen PKK-Stellungen im Nordirak. Der türkische Generalstab hat zudem mehre Gebiete in den Provinzen Siirt, Sirnak, Mardin und Hakkari zu zeitweiligen Sicherheitszonen und militärischen Sperrgebieten erklärt, die einer strengen Kontrolle unterliegen (vgl. VG Göttingen, U. v. 12.11.2008, a.a.O., m.w.N.). Insbesondere nach einem Angriff von PKK-Kämpfern auf einen türkischen Grenzposten mit 38 Toten hat sich die Situation seit Anfang Oktober 2008 weiter verschärft. Von der türkischen Regierung wurde darauf die Vernichtung der PKK als wichtigstes Ziel ausgerufen, und die türkische Armee forderte freie Hand gegen die PKK (vgl. VG Ansbach, U. v. 16.10.2008 - AN 1 K 08.30318 -, juris, m.w.N.).

Seit der Änderung des Antiterrorgesetzes im Jahre 2006 ist es zu zahlreichen Verhaftungen wegen "Terrorpropaganda" gekommen, deren Auslöser z. T. lediglich prokurdische Äußerungen waren (Süddeutsche Zeitung v. 09.04.2010, "Der türkische Staat konterkariert mit harten Gerichtsurteilen die einige Friedenspolitik gegenüber den Kurden"). Die ehemalige Parlamentsabgeordnete Leyla Zana ist wegen zweier Reden zur Isolationshaft von Abdullah Öcalan zu drei Jahren Haft mit der Untersagung jeder politischen Tätigkeit verurteilt worden (Neue Zürcher Zeitung v. 12.04.2010). 30 PKK-Mitgliedern, die am 12.11.2009 öffentlich aus dem Irak in die Türkei zurückgekehrt sind, drohen nach Presseberichten bis zu 20 Jahren Gefängnis (SZ a.a.O.; s.a. Nds. OVG v. 12.04.2010, a.a.O.)

Für den Vater des Klägers der durch Versorgung von PKK-Mitgliedern und aufgrund des Verdachts, Waffen zu besitzen, als kurdischer Volkszugehöriger im Zusammenhang mit der Unterstützung der PKK in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten ist, kann eine grundlegende dauerhafte Veränderung des politischen Systems, wie sie nach dem oben Gesagten Voraussetzung für den Widerruf nach § 73 AsylVfG i.V.m. Art 1 C Ziff. 5 GFK ist, in der Türkei daher nicht angenommen werden, so dass eine politische Verfolgung nicht generell mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann (vgl. U. d. erk. Kammer v. 16.12.2008 - 5 A 277/08 -, www.dbovg.niedersachsen.de; VG Göttingen, U. v. 12.11.2008, a.a.O.; VG Lüneburg, U. v. 07.05.2008 - 2 A 55/08; VG Hannover, U. v. 30.01.2008 - 1 A 7832/05 -; VG Oldenburg, U. v. 04.10.2007 - 5 A 4386/06 -, www.dbovg.niedersachsen.de; VG Stuttgart, U. v. 14.01.2008, a.a.O.).

Unter diesen Voraussetzungen kann auch unter dem Gesichtspunkt sippenhaftähnlicher Maßnahmen eine politische Verfolgung des Klägers selbst bei einer Rückkehr in die Türkei nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Zwar hat das erkennende Gericht in einem Asylerstverfahren entschieden, dass im Zuge des Reformprozesses in der Türkei eine sippenhaftähnliche Verfolgung grundsätzlich nicht mehr mit einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit drohe und in der Regel nur noch bei nahen Verwandten von Personen gegeben sei, die ihrerseits landesweit mit Haftbefehl gesucht werden oder an führender Stelle separatistische Organisationen unterstützen (Urteil vom 05.12.2005 - 5 A 293/05), und ist in dieser Auffassung durch das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht bestätigt worden (Beschluss vom 02.02.2006 - 11 LA 08/06 -). Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hat in einem Asylerstverfahren darüber hinausgehend festgestellt, sippenhaftähnliche Maßnahmen würden generell - auch nahen Angehörigen von landesweit gesuchten Aktivisten einer militanten staatsfeindlichen Organisation - gegenwärtig nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (Urteil vom 19.04.2005 - 8 A 273/04.A -, juris). Nach dem im vorliegenden Widerrufsverfahren anzuwendenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist aber auch nach der zitierten Rechtsprechung eine Verfolgung jedenfalls nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen (so im Ergebnis auch: VG Ansbach, Urteil vom 20.03.2007 - AN 1 K 06.30862 -, juris; U. d. erkennenden Kammer v. 13.09.2007 - 5 A 81/06).

Unter diesen Voraussetzungen ist die Feststellung des Urteils des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 13.05.2003, dem Kläger sei Flüchtlingsschutz zu gewähren und ihm drohten bei einer Rückkehr in die Türkei Verfolgungsmaßnahmen, im angefochtenen Widerrufsbescheid vom 17.11.2009 im Einzelfall nicht ausreichend widerlegt. [...]