OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 21.06.2010 - 1 B 137/10 - asyl.net: M17222
https://www.asyl.net/rsdb/M17222
Leitsatz:

Ein Unionsbürger kann auch dann als selbständig Erwerbstätiger freizügigkeitsberechtigt sein, wenn er ergänzende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bezieht.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Unionsbürger, Aufenthaltsrecht, freizügigkeitsberechtigt, Freizügigkeitsbescheinigung, Bulgarien, selbständige Erwerbstätigkeit, Gewerbe, SGB II, Sicherung des Lebensunterhalts, vorläufiger Rechtsschutz, Beschwerde, Unionsbürgerrichtlinie, Arbeitnehmerbegriff
Normen: AEUV Art. 45, AEUV Art. 49, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 2, FreizügG/EU § 5 Abs. 5, FreizügG/EU § 2 Abs. 1, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 2, EG Art. 39, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 6, FreizügG/EU § 3 Abs. 3 S. 1, FreizügG/EU § 3 Abs. 2 Nr. 1, FreiügG/EU § 4 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

Die Antragstellerin zu 1. genießt Freizügigkeit zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU. Diese Freizügigkeit kommt allen Personen zugute, die von ihrer Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV Gebrauch machen. Das Freizügigkeitsgesetz/EU dient nämlich der Umsetzung der Unionsbürger-Richtlinie 2004/38/EG, die insoweit an die Stelle der Richtlinie 73/148 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs getreten ist. Zur Bestimmung des begünstigten Personenkreises ist deshalb auf den Schutzbereich dieser Grundfreiheit abzustellen.

Eine von Art. 49 AEUV geschützte Niederlassung liegt vor, wenn eine wirtschaftliche Tätigkeit auf unbestimmte Zeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat tatsächlich ausgeübt wird (EuGH, Urt. v. 25.07.1991 – Rs. 221/89 –, Factortame – Slg. 1991, I-3905, Rn 20). Streitig ist hier allein, ob die Antragstellerin zu 1. tatsächlich eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, liegt eine wirtschaftliche Tätigkeit in diesem Sinne vor, wenn mit ihr zumindest auch ein Erwerbszweck verfolgt wird. Sie muss entgeltlich erbracht werden und eine Teilnahme am Wirtschaftsleben darstellen. Unerheblich für die Eröffnung des Schutzbereichs der Niederlassungsfreiheit ist, ob die Tätigkeit einen bestimmten Gewinn abwirft, insbesondere, ob sie zur Deckung des Lebensunterhaltes ausreicht.

Die Sicherung des Lebensunterhaltes aus dem erzielten Gewinn ist nicht, wie die Beschwerde meint, Voraussetzung dafür, dass die wirtschaftliche Tätigkeit auch"tatsächlich" ausgeübt wird.

Das Merkmal der tatsächlichen Ausübung der Tätigkeit bedeutet zunächst nur, dass die bloße Registrierung eines Gewerbes oder einer Betriebsstätte allein nicht ausreicht, um den Schutz der Niederlassungsfreiheit zu begründen (vgl. für die Eintragung eines Fischereifahrzeugs in das Schiffsregister das zitierte Urteil des EuGH vom 25.07.1991, a. a. O., und dazu Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Rn 21 zu Art. 43 EGV <Stand: Mai 2001>).

Mit dem Verwaltungsgericht (ebenso OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 03.11.1995 – 18 B 815/94 – NVwZ-RR 1996,708) mag darüber hinaus in Anlehnung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitnehmerfreizügigkeit (jetzt Art. 45 AEUV) angenommen werden, dass solche Tätigkeiten außer Betracht bleiben können, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als "völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen" (EuGH, stRspr seit Urt. v. 23.03.1982 – Rs 53/81 – Levin – Slg. 1982, 1035, Rn 17). Nach der Rechtsprechung des EuGH hat die begrenzte Höhe der Vergütung aber keine Auswirkung auf die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Unionsrechts (z. B. Urt. v. 31.05.1989 – Rs. 344/87 – Bettray – Slg. 1989, 1621 Rn 15; Urt. v. 30.03.2006 – Rs. C-10/05 – Mattern u. a. –, Slg. 2006, I-3145 – Rn 22; Urt. v. 04.06.2009 – Rs. C-22/08 – Vatsouras u. a. – DVBl 2009, 972, Rn 27; Urt. v. 04.02.2010 – Rs. C-14/09 – Genc – NVwZ 2010, 367, Rn 20). Auch die Tatsache, dass die Bezahlung der Tätigkeit unter dem Existenzminimum liegt, hindert nicht, die Person, die diese Tätigkeit ausübt, als Arbeitnehmer im Sinne des Art. 39 EG (jetzt Art. 45 AEUV) anzusehen (EuGH, z. B. Urt. v. 23.0.31982 – Rs. 53/81 – Levin -, Slg. 1982, 1035, Rn 15f.; Urt. v. 14.12.1995 – C-317/93 – Nolte – Slg. 1995, I-4625, Rn 19), selbst wenn der Betroffene die Vergütung durch andere Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts wie eine aus öffentlichen Mitteln des Wohnortsmitgliedstaats gezahlte finanzielle Unterstützung zu ergänzen sucht (EuGH, stRspr seit Urt. v. 03.06.1986 – Rs. 139/85 – Kempf – Slg. 1986, 1741, Rn 14; zuletzt Urt. v. 04.06.2009 – C-22/08 – Vatsouras u. a. – DVBl 2009, 972, Rn 28; Urt. v. 04.02.2010 - C-14/09 - Genc – NVwZ 2010, 367, Rn 20). Zwar kann der Umstand, dass nur sehr wenige Arbeitsstunden geleistet werden, "ein Anhaltspunkt" dafür sein, dass die ausgeübten Tätigkeiten nur untergeordnet und unwesentlich sind (EuGH, Urt. v. 26.02.1992 – C-357/89 – Raulin – Slg. 1992, I-1027, Rn 14), doch lässt es sich unabhängig von der begrenzten Höhe des aus einer Berufstätigkeit bezogenen Entgelts und des begrenzten Umfangs der insoweit aufgewendeten Arbeitszeit nicht ausschließen, dass diese Tätigkeit aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses als tatsächlich und echt angesehen werden kann (EuGH, Urt. v. 04.02.2010 – C-14/09 – Genc – NVwZ 2010, 367, Rn 26).

Zu Gunsten der Antragsgegnerin mag unterstellt werden, dass sich diese Rechtsprechung auch insoweit auf die Niederlassungsfreiheit übertragen lässt, als das Vorhandensein von nur sehr wenigen Aufträgen im Rahmen einer Gesamtbewertung ein Anhaltspunkt für eine nur untergeordnete und unwesentliche selbständige Erwerbstätigkeit sein kann. Bei der Frage der Unwesentlichkeit ist aber, wie das Verwaltungsgericht zu Recht hervorhebt, zu berücksichtigen, dass es bei der Niederlassung als selbständig Erwerbstätiger insbesondere dann, wenn ein Gewerbebetrieb nicht übernommen, sondern neu eröffnet wird, oftmals einer längeren Anlauf- und Aufbauphase bedarf, bis der Betrieb so viele Aufträge akquiriert hat, dass er sich trägt. Es ist deshalb schon zumindest fraglich, ob das aufgrund der Daten über Umsatz- und Gewinn vermutete Auftragsvolumen im Jahre 2009 geeignet ist, einen Anhaltspunkt dafür abzugeben, dass die Tätigkeit der Antragstellerin zu 1. nur als "unwesentlich" einzustufen sein könnte. Das kann aber auf sich beruhen, denn der Betrieb der Antragstellerin zu 1. hat sich, wie die für 2010 vorgelegten Daten über Umsatz und Gewinn zeigen, offensichtlich stabilisiert und weiterentwickelt. Die inzwischen erreichten Betriebsergebnisse sprechen eher gegen als für die Annahme, die Tätigkeit sei "unwesentlich“. Weitere Gesichtspunkte, aus denen sich im Rahmen der erforderlichen Gesamtbewertung auf eine nur "unwesentlichen" Tätigkeit schließen lassen könnte, hat die Antragsgegnerin nicht ermittelt. Auch Feststellungen, die dafür sprechen könnten, dass die Tätigkeit der Antragstellerin zu 1. einem anderen Aufenthaltszweck "untergeordnet" sein könnte, hat die Antragsgegnerin nicht getroffen. Sie stützt sich allein auf die Betriebsergebnisse und die Mitteilung der BAgIS, dass ergänzende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in nicht bezifferter Höhe bezogen würden. Das allein kann aber – wie dargestellt – nicht dazu führen, die Antragstellerin zu 1. vom Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit auszunehmen. [...]