VG Darmstadt

Merkliste
Zitieren als:
VG Darmstadt, Beschluss vom 01.09.2009 - 4 L 914/09.DA.A (3) - asyl.net: M17205
https://www.asyl.net/rsdb/M17205
Leitsatz:

1. Auch eine irrige Zustimmung zur Wiederaufnahme stellt die Ausübung eines Selbsteintrittsrechts (Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO) dar.

2. Kein Anspruch auf freiwillige Ausreise im Dublin-Verfahren.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, Italien, Selbsteintritt, Schutz von Ehe und Familie, freiwillige Ausreise,
Normen: VwGO § 123, AsylVfG § 34a Abs. 1, AsylVfG § 34a Abs. 2, AsylVfG § 27a, VO 343/2003 Art. 20, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Es besteht kein Anordnungsanspruch, denn die Antragsgegnerin hat in dem vorliegenden Bescheidentwurf zu Recht die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens abgelehnt und die Abschiebung nach Italien angeordnet.

Nach § 34a Abs. 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Nach § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Eine solche Rechtsvorschrift der Europäischen Gemeinschaft stellt die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrag zuständig ist (Dublin II-VO), dar. Im Hinblick auf Art. 20 Dublin II-VO hat Italien unter dem 11. Juni 2009 der Wiederaufnahme des Antragstellers zugestimmt. Insofern ist es unzutreffend, wenn der Antragsteller in seiner Antragsbegründung davon ausgeht, dass lediglich das Schweigen Italiens hier vom Bundesamt als Zuständigkeitseintritt gewertet worden sei. Durch die Übernahmeerklärung hat Italien sein Selbsteintrittsrecht (Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO) positiv ausgeübt und ist damit im umfassenden Sinne zuständig geworden für die Behandlung des Asylantrags des Antragstellers. Dies gilt unabhängig davon, ob Italien tatsächlich zuständig war oder sich irrig für zuständig gehalten hat, denn auch eine irrige Zustimmung zur Wiederaufnahme stellt die Ausübung des Selbsteintrittsrechts dar (vgl. GK-AsylVfG, Band 2, Stand: Juni 2008, § 27a Rdnr. 217). Das gilt jedenfalls dann, wenn es - wie hier - irgendeinen Anknüpfungspunkt zwischen dem das Selbsteintrittsrecht ausübenden Staat und dem Asylbewerber gibt (so auch VG Mainz, Beschl. v. 16. April 2004 - 7 L 312/04.MZ -, juris). Selbst wenn also vorliegend viel dafür spricht, dass durch die materielle Prüfung des Asylerstantrags im Jahr 2003 die Bundesrepublik Deutschland zuständig gewesen wäre für die Prüfung auch des Folgeantrags (vgl. insoweit GK-AsylVfG, a.a.O., § 27a Rdnr. 275 ff.), ist mit der Zustimmung Italiens zum Wiederaufnahmeersuchen die Zuständigkeit nach dort übergegangen. Da es Sinn und Zweck der Dublin II-VO entspricht, diese von einem Mitgliedstaat getroffene Entscheidung zur Übernahme der Zuständigkeit zu akzeptieren, ohne dass es zu Streitigkeiten der Mitgliedstaaten untereinander über die Zuständigkeit nach erfolgter Ausübung des Selbsteintrittsrechts kommt, und es grundsätzlich keinen Anspruch eines Asylbewerbers auf Durchführung seines Asylverfahrens in einem bestimmten Mitgliedstaat gibt, bestand für die Antragsgegnerin auch kein Anlass, von der durch Italien erklärten Wiederaufnahme abzuweichen und selbst den Asylfolgeantrag materiell zu prüfen. Auch in der Person des Antragstellers sind hierfür keine Gründe ersichtlich. Wenn er auf seine familiären Bindungen hinweist, ist anzumerken, dass ihn diese offenbar nicht daran gehindert haben, nach erfolgloser Durchführung seines ersten Asylverfahrens nach Norwegen zu reisen, um dort einen weiteren Asylantrag zu stellen. Nach alldem ist nichts dagegen zu erinnern, wenn die Antragsgegnerin die Abschiebung nach Italien anordnet.

Wenn der Antragsteller die Auffassung vertritt, dass ihm die freiwillige Ausreise ermöglicht werden müsse und hierauf sein Hilfsbegehren stützt, kann ihm nicht gefolgt werden. Zu der mit Art. 20 Abs. 1 Buchst. e Satz 3 Dublin II-VO gleichlautenden Vorschrift des Art. 19 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO hat das VG Bremen in einem Urteil vom 25. Oktober 2006 (- 1 K 222/05.A -, AuAS 2007, 93) folgendes ausgeführt:

"Aus Art. 19 Abs. 2 Satz 2 VO (EG) Nr. 343/2003 lässt sich entgegen der Auffassung des Klägers aber kein Anspruch auf Ermöglichung einer freiwilligen Ausreise herleiten. Die Vorschrift trifft vielmehr lediglich eine Regelung für den Fall, dass das nationale Recht eine freiwillige Ausreise zulässt. Das ergibt sich eindeutig aus der Verwendung des Begriffes "gegebenenfalls" (ähnlich VG Stuttgart, B. v. 29.03.2005, a.a.O.; die vom Kläger angeführten Entscheidungen des VG Darmstadt und des VG Wiesbaden setzten sich dagegen mit dem genauen Wortlaut der Vorschrift nicht auseinander). Auch die englische und französische Fassung der Vorschrift ("if necessary" bzw. "si necessaire") zeigen, dass die gesetzliche Regelung nicht davon ausgeht, dass einem Antragsteller durchgängig die Möglichkeit offensteht, sich auf eigene Initiative in den zuständigen Mitgliedstaat zu begeben. Darüber hinaus sind die zur Durchführung von Überstellungen nach der VO (EG) Nr. 343/2003 bestehenden ergänzenden europarechtlichen Vorschriften in den Blick zu nehmen. U.a. auf der Grundlage von Art. 19 Abs. 5 VO (EG) Nr. 343/2003 ist die Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 02.09.2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 [Abl. Nr. L 222/3: im Folgenden: VO (EG) Nr. 1560/203] erlassen worden. Diese bestimmt in ihrem Art. 7 Abs. 1, dass die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat auf eine der folgenden Weisen erfolgen kann: a) auf Initiative des Asylbewerbers innerhalb einer vorgegebenen Frist; b) in Form der kontrollierten Ausreise (...), c) in Begleitung (...). Hiernach besteht offensichtlich eine durch innerstaatliches Recht auszufüllende Gestaltungsmöglichkeit eines jeden Mitgliedstaats (ähnlich VG Stuttgart, B. v. 29.03.2005, a.a.O.; der vom VG Wiesbaden in seinem Beschluss vom 10.11.2004 angenommene Verstoß gegen Art. 7 VO (EG) Nr. 1560/2003 wird nicht weiter begründet)."

Dieser Auffassung schließt sich das erkennende Gericht an. Soweit es in früheren Entscheidungen darauf hingewiesen hat, dass dem Asylbewerber die freiwillige Rückkehr ermöglicht werden muss, beruhte dies auf der damals geltenden Rechtslage vor Inkrafttreten des § 27a AsylVfG und des § 34a AsylVfG in seiner jetzigen Fassung. Das Gericht hat damals den Erlass einer Abschiebungsanordnung für nicht zulässig, sondern den Erlass einer Abschiebungsandrohung für erforderlich gehalten. Eine solche hätte nach den allgemeinen ausländerrechtlichen Regelungen eine Frist enthalten müssen, innerhalb derer dem Asylbewerber die freiwillige Rückkehr in den (nach den damaligen Regelungen) sicheren Drittstaat möglich gewesen wäre.

Ohne dass es hierauf nach dem eben Gesagten noch entscheidungserheblich ankäme, sei darauf hingewiesen, dass auch unter Berücksichtigung des vorliegenden Einzelfalles keine Bedenken gegen den Erlass einer Abschiebungsanordnung bestehen, denn nach dem bisherigen Verhalten des Antragstellers erscheint eine kontrollierte Überstellung nach Italien erforderlich. [...]