VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 15.06.2010 - A 6 K 3896/08 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 238] - asyl.net: M17201
https://www.asyl.net/rsdb/M17201
Leitsatz:

Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung, da der Klägerin als Frau mit "westlichem" Lebensstil Verfolgung durch die Taliban in Afghanistan droht.

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Afghanistan, westlicher Lebensstil, Frauen, Taliban, besonders schutzbedürftig, geschlechtsspezifische Verfolgung,
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 2b, AsylVfG § 26 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Widerrufsbescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 08.10.2008 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, weil die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2b AsylVfG nicht vorliegen.

Zwar beruhte die Asylanerkennung der Klägerin auf § 26 Abs. 1 AsylVfG, und die Asylanerkennung des - inzwischen verstorbenen- Ehemannes der Klägerin wurde widerrufen. Jedoch könnte die Klägerin aus anderen Gründen als Asylberechtigte anerkannt werden (§ 73 Abs. 2b S. 2 AsylVfG). [...]

Im vorliegenden Fall ist der Maßstab der herabgestuften Wahrscheinlichkeit anzulegen, denn für die Klägerin besteht bei einer Rückkehr nach Afghanistan das Risiko einer gleichartigen Verfolgung. Sie hat bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt am 05.10.1993 detailliert berichtet, dass ihr Leben durch die Mudjaheddin in Gefahr gewesen sei, weil sie beim Rundfunk Musik gemacht und gesungen habe und auch im Fernsehen aufgetreten sei; sie habe dies aufgeben müssen, nachdem die Mudjaheddin ihr mit dem Tod gedroht hätten, weil es Sünde sei. Das Gericht hat keine Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Klägerin, und solche Zweifel wurden auch nicht vom Bundesamt geäußert. Zwar wurde die Asylanerkennung ausschließlich auf § 26 Abs. 1 AsylVfG gestützt, aber wie bereits ausgeführt wurde, sind sämtliche vorgetragenen Gründe zu berücksichtigen.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan wäre die Klägerin vor einer gleichgelagerten Verfolgung nicht hinreichend sicher. Zwar führt das Bundesamt im Bescheid vom 08.10.2008 mit Recht aus, die Mudjaheddin hätten ihre Macht in Afghanistan verloren. Dafür haben aber die Taliban ihre Machtposition nach und nach - auch in Kabul- wieder ausgebaut (vgl. dazu z.B. die Zeitungsartikel, welche der Prozessbevollmächtigte der Klägerin seinem Schriftsatz vom 15.06.2010 beigefügt hat), und auch sie bedrohen Frauen mit "westlichem" Lebensstil. Der ehemalige Mudjaheddin-Führer Mullah Mohammad Omar war sogar maßgeblich an der Gründung der Taliban beteiligt (vgl. Welt-Online, Artikel vom 13.01.2009). Zudem war die Situation afghanischer Frauen schon vor dem Taliban-Regime durch sehr strenge Scharia-Auslegungen und archaisch-patriarchalische Ehrenkodizes geprägt (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28.10.2009, S. 25). Auch jetzt noch liegt die Verwirklichung der Frauenrechte für den größten Teil der afghanischen Frauen in weiter Ferne. Daher bezeichnet UNHCR u.a. Frauen als besonders schutzbedürftig (vgl. Stellungnahme vom 30.11.2009 an den BayVGH). Wenn die Klägerin also als "westlich" geprägte Frau - noch dazu ohne männliche Begleitung- nach Afghanistan (auch Kabul) zurückkehrte, wären geschlechtsspezifische Verfolgungen (vgl. § 60 Abs. 1 S. 3 AufenthG) durch Taliban oder sonstige konservativ-islamische Kräfte keinesfalls auszuschließen, sondern sogar wahrscheinlich, ohne dass der afghanische Staat dagegen einschreiten würde oder könnte. Die Klägerin könnte also weiterhin im Sinne von § 73 Abs. 2b S. 2 AsylVfG als Asylberechtigte anerkannt werden. Daraus folgt auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AsylVfG, so dass der Bescheid vom 08.10.2008 insgesamt aufzuheben war. [...]