SG Hannover

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Zitieren als:
SG Hannover, Urteil vom 11.06.2010 - S 32 EG 27/05 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 276 f.] - asyl.net: M17188
https://www.asyl.net/rsdb/M17188
Leitsatz:

Erziehungsgeld ist auch dann zu gewähren, wenn ein Ausländer zwar nicht im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist (hier wegen verspäteter Stellung eines Verlängerungsantrags), die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis aber nach Aktenlage ohne weitere Sachaufklärung erkennbar sind und bei Abwarten der förmlichen Erteilung eine Lücke in der Gewährung von Erziehungsgeld von mehr als zwei Regelbeträgen entstünde.

Die Berufung wird zugelassen, da diese Rechtsfrage weder obergerichtlich noch höchstrichterlich geklärt ist.

Schlagwörter: Erziehungsgeld, Elterngeld, Ausschlussgrund, Aufenthaltserlaubnis, Verlängerungsantrag, deutsches Kind, Schutz von Ehe und Familie, Berufungszulassung
Normen: BErzGG § 1 Abs. 6, GG Art. 6, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3
Auszüge:

[...]

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Bewilligung von Elterngeld für den Zeitraum 28.10.2004 bis 31.3.2005. [...]

Die Klägerin hat gegenüber der Beklagten auch für den Zeitraum vom 28.10.2004 bis 31.3.2005 einen Anspruch auf Erziehungsgeld.

a) Die Anspruchsvoraussetzungen sind sowohl nach § 1 BErzGG in der Fassung vom 9.2.2004, gültig vom 1.1.2004 bis 31.12.2004, für den ersten Teil des streitgegenständlichen Zeitraums, hier vom 28.10.2004 bis 31.12.2004, als auch in der Fassung vom 27.12.2004, gültig vom 1.1.2005 bis 31.12.2005, für den zweiten Teil des streitgegenständlichen Zeitraums, hier vom 1.1.2005 bis 31.3.2005, erfüllt. Die Klägerin hatte in dieser Zeit ihren Wohnsitz in Deutschland, lebte mit ihrer Tochter in einem Haushalt, betreute und versorgte ihre Tochter selbst und war nicht erwerbstätig.

b) Entgegen der Auffassung der Beklagten bestand auch kein Ausschlussgrund nach § 1 Abs. 6 BErzGG in den vorgenannten Fassungen.

aa) Voraussetzung für die Gewährung von Erziehungsgeld war hiernach, dass andere Ausländer als EU-/EWR-Bürger im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis sein mussten. Nach dem engeren Wortsinn muss eine durch Verwaltungsakt festgestellte Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis vorliegen. Das war vorliegend nicht der Fall. Allerdings ist der Wortsinn aufgrund des Sinn und Zwecks der Vorschrift im Lichte der Grundrechte der jeweiligen Antragsteller dahingehend auszulegen, dass es keines formellen Verwaltungsaktes bedarf, wenn das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung nach Aktenlage ohne weitere Sachaufklärung erkennbar ist und bei Abwarten der formellen Aufenthaltserlaubnis eine Lücke in der Gewährung von Erziehungsgeld von mehr als zwei Regelbeträgen entstünde. Dieser Auslegung liegen die nachfolgenden Erwägungen zugrunde.

In den Gesetzesmaterialien (BT-Drucks, 12/4401, S. 74) sind bezüglich der Vorgängervorschrift folgende Gründe für das Erfordernis einer vorgenannten Erlaubnis ausgeführt:

"Mit dieser Regelung wird der Anspruch auf die Ausländer begrenzt, von denen zu erwarten ist, dass sie auf ... Dauer in Deutschland bleiben werden. Das ist allein bei denjenigen der Fall, die im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis sind. Doch auch auf diejenigen, die von ausländischen Arbeitgebern zur vorübergehenden Dienstleistung nach Deutschland entsandt sind und statt einer Aufenthaltsbewilligung eine Aufenthaltserlaubnis erhalten haben, trifft diese Voraussetzung nicht zu. Dasselbe gilt für ihre Ehepartner. Die Regelung entspricht den Regelungen der meisten Länder, bei denen Entsandte im Sozialsystem des Heimatlandes verankert bleiben, so wie Deutsche, die von ihrem Arbeitgeber ins Ausland entsandt sind, und ihre Ehepartner den Anspruch auf Erziehungsgeld behalten."

Das Ziel, Erziehungsgeld nur denjenigen Ausländern zukommen zu lassen, von denen erwartet werden konnte, dass sie auf Dauer in Deutschland bleiben, wurde vom Bundesverfassungsgericht (Beschl. v. 6.7.2004, Az: 1 BvR 2515/95, Rn. 32, zit. nach juris) als legitim angesehen. Das hierzu gewählte Differenzierungskriterium der Art des Aufenthaltstitels stufte es hingegen als ungeeignet ein (s.o.). Darüber hinausgehend vertritt die Kammer die Auffassung, dass im vorgenannten Ausnahmefall das Abstellen auf einen formellen Titel jedwelcher Art eine unzulässige Ungleichbehandlung auslösen würde. Dieses Ergebnis kann nach Auffassung der Kammer durch verfassungskonforme Auslegung vermieden werden, da der Ausnahmefall vom Gesetzgeber nicht bedacht gewesen ist. Der engere Wortsinn kann insofern nicht als Grenze der verfassungskonformen Auslegung im Gegensatz zu den Fällen, in denen lediglich andere als vom Gesetzgeber vorgesehene Aufenthaltstitel vorliegen (vgl. hierzu die Vorlagebeschlüsse des Bundessozialgerichts vom 3.12.2009, z.B. Az: B 10 EG 6/08 R, Rn. 78, zit. nach juris), gelten. Auch die Nachfolgerechtsprechung des Bundessozialgerichts zu § 1 Abs. 6 BErzGG steht nach Auffassung der Kammer der hier vertretenen Auffassung nicht entgegen. Zwar lässt das Bundessozialgericht (BSG, Teilurteil vom 3.12.2009, Az: B 10 EG 6/08 R, Rn. 41, zit. nach juris) eine bloße Duldung als Voraussetzung für die Gewährung von Erziehungsgeld nicht ausreichen, aber es hat in derselben Entscheidung (aaO, Rn. 56) den hier vorliegenden Fall der Herstellung des Ehe- und Familienlebens als problematisch, und zwar bereits für Fälle einer kurz bevorstehenden Ehe eingestuft.

Der vorliegende Fall verdeutlicht hingegen die aufgeworfene Problematik und das damit einhergehende Erfordernis einer einschränkenden Auslegung für Ausnahmefälle. Eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Ausländern lediglich aufgrund des Differenzierungskriteriums des formellen Aufenthaltstitels ist für den Fall, dass das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung nach Aktenlage ohne weitere Sachaufklärung erkennbar ist und bei Abwarten der formellen Aufenthaltserlaubnis eine Lücke in der Gewährung von Erziehungsgeld von mehr als zwei Regelbeträgen entstünde, nicht gerechtfertigt. Das Ziel, nur Ausländern, bei denen zu erwarten ist, dass sie dauerhaft in Deutschland bleiben werden, Leistungen nach dem BErzGG zu gewähren, könnte mit dieser Differenzierung nicht erreicht werden. Auch das weitere Ziel, nur Eltern, die lediglich durch Verzicht oder Einschränkung der Erwerbstätigkeit die Betreuung ihrer Kinder wahrnehmen können, dies durch die Gewährung von Erziehungsgeld zu ermöglichen, kann nicht durch das Abstellen auf einen formellen Aufenthaltstitel erreicht werden. Wenn wie hier die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis offensichtlich ist, so ist auch die Berechtigung zur Erwerbstätigkeit offensichtlich (vgl. § 28 Abs. 5 AufenthG). Anzumerken ist an dieser Stelle allerdings, dass das Erziehungsgeld ohnehin nicht an eine vorangegangene Erwerbstätigkeit anknüpfte und daher sowieso Mütter oder Väter auch ohne Verzicht oder Einschränkung der Erwerbstätigkeit Anspruch auf das Erziehungsgeld hatten. Warum diese gegenüber Ausländern ohne formellen Aufenthaltstitel besser gestellt werden sollen, ist zumindest im Hinblick auf das Ziel der Kinderbetreuung durch vormals Erwerbstätige nicht nachvollziehbar. Schließlich muss für den beschriebenen Ausnahmefall der Wegfall von Erziehungsgeld auch nicht aus Gründen der Typisierung hingenommen werden. Soweit das Bundessozialgericht (BSG, aaO, Rn. 58 f.) hinsichtlich Fälle bloßer Duldung ausgeführt hat, dass es sich ohnehin nur um kurze Zeiträume mit nicht großen finanziellen Ausfällen handele, die aufgrund des ansonsten zu betreibenden erheblichen Verwaltungsaufwandes, der hinzukäme, wolle man die tatbestandlichen Voraussetzungen der Aufenthaltsgenehmigung/Duldung ermitteln, hinzunehmen seien, steht dies dem hier angenommenen Ausnahmefall nicht entgegen. Mit einer Typisierung verbundene Belastungen sind insofern nur hinzunehmen, wenn die mit ihr verbundenen Härten nicht besonders schwer wiegen und nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären (BVerfG, DVBl. 2004, S. 1104 [1105 f]; Beschl. v. 6.7.2004, Az: 1 BvR 2515/95, Rn. 40, zit. nach juris).

Wenn nach Aktenlage die tatbestandlichen Voraussetzungen bereits offensichtlich erfüllt sind, entsteht bereits kein weiterer Verwaltungsaufwand, der eine Typisierung rechtfertigen könnte, insbesondere nicht, wenn dadurch dem Antragsteller eine Einbuße von mehr als zwei Regelbeträgen entstehen würde. Sowohl bei Beziehern von nur teilweisen Leistungen als auch geringen Lücken von bis zu zwei Monaten bei Beziehern des gesamten Regelbetrages mag eine solche Einbuße noch hinnehmbar sein. Ist der Betrag von 600,00 € aber überschritten, ist der Behörde eine weitergehende Prüfung angesichts der finanziellen Einbuße zuzumuten, da es sich insofern bei den Beziehern der Leistungen dann um Antragsteller/Antragstellerinnen mit geringem Einkommen handelt,

bb) Im vorliegenden Fall sind die vorgenannten Voraussetzungen erfüllt. Das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung war nach Aktenlage ohne weitere Sachaufklärung erkennbar.

Die Klägerin wohnte bereits seit Jahren mit ... Kindern in Deutschland. Materiell-rechtlich betrachtet hatte sie als Mutter eines deutschen Staatsangehörigen sowohl im Jahr 2004 als auch im Jahr 2005 einen Anspruch auf die später erteilte Aufenthaltserlaubnis. Nach § 17 AuslG in der Fassung vom 29,10.1997 war der Behörde zwar für den sog. "Familiennachzug" ein Ermessen eröffnet, welches allerdings im Lichte von Art. 6 GG vorliegend bei einem bestehenden Familienleben mit drei Kindern über Jahre hinweg auf Null reduziert gewesen wäre. Ab dem 1.1.2005 bestand gem. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG in der Fassung vom 30.7.2004 ein Anspruch, da es sich nunmehr um eine gebundene Entscheidung handelte ("... ist ... zu erteilen ..."). Gegen eine etwaige Ausreiseverfügung hätte die Klägerin insofern erfolgreich angehen können. bei sich die Problematik noch "problematischer", da die nicht nur kurz bevor stand, sondern bereits vorlag und das Familienleben durch Vollziehung der Ausreise zerstört worden wäre (sofern die Kinder ihre Mutter nicht begleitet hätten).

Des Weiteren musste die Klägerin (wohl aufgrund der Umstellung vom Ausländergesetz auf das Aufenthaltsgesetz zum 1.1.2005) fünf Monate auf die Entscheidung der Ausländerbehörde warten, obwohl die tatbestandlichen Voraussetzungen klar erfüllt waren. Ihr stand für die fragliche Zeit ein Anspruch auf die Regelleistung in Höhe von 300,- € monatlich, also insgesamt ein Betrag von über 1.500,- € zu.

c) Die Beklagte war dementsprechend zur Gewährung von 300,- € pro Monat für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum vom 28.10.2004 bis zum 31.3.2005 zu verurteilen. Nach Auffassung der Kammer ist insoweit nicht auf den Antrag der Klägerin vom 4.11.2004 auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, sondern auf das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen für die begehrte Aufenthaltserlaubnis abzustellen. Diese lagen während des gesamten streitgegenständlichen Zeitraumes vom 28.10.2004 bis zum 31.3.2005 vor. Des Weiteren lagen auch die weiteren Voraussetzungen für die Gewährung der gesamten Regelleistung in Höhe von 300,- € monatlich in diesem Zeitraum vor. Die Klägerin erzielte in dieser Zeit kein Einkommen. [...]

Die Berufung war gem. § 144 Abs. 2 Nr. 1 GG zuzulassen. Die Frage, ob § 1 Abs. 6 BErzGG in den Fassungen vom 9.2.2004, gültig vom 1.1.2004 bis 31.12.2004, für den ersten Teil des streitgegenständlichen Zeitraums, hier vom 28.10.2004 bis 31.12.2004, als auch in der Fassung vom 27.12.2004, gültig vom 1.1.2005 bis 31.12.2005, für den zweiten Teil des streitgegenständlichen Zeitraums, hier vom 1.1.2005 bis 31.3.2005, dahingehend zu interpretieren ist, dass es keines formellen Verwaltungsaktes bedarf, wenn das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung nach Aktenlage ohne weitere Sachaufklärung erkennbar ist und bei Abwarten der formellen Aufenthaltserlaubnis eine Lücke in der Gewährung von Erziehungsgeld von mehr als zwei Regelbeträgen entstünde, ist soweit ersichtlich weder obergerichtlich noch höchstrichterlich geklärt. [...]