OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 27.05.2010 - 10 LB 60/07 - asyl.net: M17147
https://www.asyl.net/rsdb/M17147
Leitsatz:

Widerruf der Flüchtlingsanerkennung von Kosovo-Albanern aus dem Jahr 1995, da keine Gruppenverfolgung im Kosovo und in Serbien mehr droht.

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Kosovo, Serbien, Ermessen, Wegfall der Umstände, Änderung der Sach- und Rechtslage, Gruppenverfolgung, Kosovo-Albaner, Verfolgungsdichte
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1, AsylVfG § 72 Abs. 2a, AsylVfG § 73 Abs. 7, AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat den angefochtenen Bescheid zu Unrecht aufgehoben. Die Anfechtungsklage der Kläger ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§§ 125 Abs. 1 Satz 1, 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

a) Das Verwaltungsgericht hat das Klagebegehren zutreffend nach der neuen, durch das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 geänderten Rechtslage beurteilt.

Der mit dem angefochtene Bescheid vom 22. August 2006 ausgesprochene Widerruf des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 2. März 1995 über die Feststellung zu § 51 Abs. 1 AuslG findet seine rechtliche Grundlage in § 73 Abs. 1 AsylVfG in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798), zuletzt geändert durch das Gesetz vom 17. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2586). Der angefochtene Widerruf durfte nach dieser Bestimmung als gebundene Entscheidung ergehen und erforderte entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nach § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG keine Ermessensausübung durch das Bundesamt. Dies wird nunmehr durch die Neuregelung des § 73 Abs. 7 AsylVfG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - klargestellt. Danach hat in Fällen, in denen - wie vorliegend - die Entscheidung über die Flüchtlingsanerkennung vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar geworden ist, die Prüfung nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG spätestens bis zum 31. Dezember 2008 zu erfolgen. Darin ist eine Übergangsregelung für vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar gewordene Altanerkennungen zu sehen, die klarstellt, bis wann die Altanerkennungen auf einen etwaigen Widerruf hin zu überprüfen sind. Mithin kommt vor einer solchen Prüfung und Verneinung der Widerrufsvoraussetzungen (Negativentscheidung des Bundesamtes) eine Ermessensentscheidung nach § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG grundsätzlich nicht in Betracht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Februar 2008 - BVerwG 10 C 33.07 -, Buchholz 451.902 Europ. Ausländer- u Asylrecht Nr. 19; ebenso vor Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes am 28. August 2007: BVerwG, Urteil vom 25. November 2008 - BVerwG 10 C 53.07 -, Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 31; Urteil vom 12. Juni 2007 - BVerwG 10 C 24.07 -, Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 28; Urteil vom 20. März 2007 - BVerwG 1 C 21.06 -, BVerwGE 128, 199). Nach Maßgabe dessen ist § 73 Abs. 2a AsylVfG zwar auf den angefochtenen Widerrufsbescheid anwendbar, jedoch sind die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung des Bundesamtes hier nicht erfüllt, weil es an der erforderlichen vorherigen sachlichen Prüfung und Verneinung der Widerrufsvoraussetzungen durch das Bundesamt fehlt. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass eine Prüfung des Widerrufs und eine Negativentscheidung pflichtwidrig unterblieben sind, denn die in § 73 Abs. 7 AsylVfG bestimmte Frist war zum Zeitpunkt des Widerrufs noch nicht abgelaufen. [...]

Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG (vormals nach § 51 Abs. 1 AuslG) liegen in Bezug auf die Kläger nicht mehr vor. Die Umstände, die hier der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 AuslG zugrunde gelegen haben (Gruppenverfolgung von albanischen Volkszugehörigen Kosovos durch den serbischen Staat), sind aufgrund der nachhaltigen Veränderungen der Verhältnisse sowohl in Serbien als auch in Kosovo nicht nur vorübergehend weggefallen. Die Kläger sind aufgrund dieser nachhaltigen Veränderungen der Verhältnisse jetzt und auf absehbare Zeit sowohl vor Gruppen- als auch vor Einzelverfolgung hinreichend sicher. [...]

Nach Maßgabe dessen ist eine Verfolgung der Kläger - sei es durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure - wegen ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der Kosovo-Albaner sowohl in Serbien als auch in Kosovo auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen. Die im Zeitpunkt der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft angenommene Verfolgungsgefahr aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit durch Organe des serbischen Staats besteht nicht mehr. Zur Begründung im Einzelnen verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen in Anwendung des § 77 Abs. 2 AsylVfG zunächst auf die Ausführungen des Bundesamtes in dem angefochtenen Widerrufsbescheid.

Eine für den vorliegenden Fall entscheidungserhebliche Veränderung der Verhältnisse in Serbien und in Kosovo ist seit Erlass des Widerrufsbescheides nicht eingetreten. In den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln finden auch bezogen auf den Zeitraum seit August 2006 Verfolgungshandlungen in Kosovo - abgesehen vom Sonderfall Kosovo Nord - gegen Angehörige der Albaner wegen ihrer Volkszugehörigkeit keine Erwähnung. So wird in dem Länderbericht des Bundesministeriums des Innern der Republik Österreich vom 27. September 2009 festgehalten, dass die Situation der Kosovo-Albaner - abgesehen vom Sonderfall Kosovo-Nord - unproblematisch ist (vgl. auch UNHCR vom 9. November 2009 und Friedrich-Ebert-Stiftung vom Oktober 2009 "Der unabhängige Kosovo im Herbst 2009" Nr. 4.1). Dass es gelegentlich zu Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen kommt, etwa anlässlich der Unabhängigkeitserklärung der Republik Kosovo (vgl. ai, ai-Report Serbien 2009), vermag die nachhaltige Veränderung der Verhältnisse für Angehörige der Volksgruppe der Albaner in Kosovo nach dem Abzug der gesamten militärischen und paramilitärischen Einheiten des jugoslawischen Staats aus Kosovo nicht in Frage zu stellen. Durch die Etablierung der internationalen Zivil- und Sicherheitspräsenz haben staatliche Repressionen gegen Kosovo-Albaner aufgehört; dem Auswärtigen Amt sind Berichte über gezielte Menschenrechtsverletzungen durch Angehörige der UNMIK oder durch die Regierung der Republik Kosovo nicht bekannt. Auch haben Repressionen Dritter gegen Angehörige der Gruppe der Albaner deutlich nachgelassen. So sind in 2007 acht albanische Volkszugehörige Opfer ethnisch motivierter Gewalt geworden; im Jahr 2006 waren es noch 29 albanische Volkszugehörige (Auswärtiges Amt, Lagebericht Kosovo vom 2. Februar 2009 und vom 19. Oktober 2009). Die zivile Rechtsstaatsmission der Europäischen Union (EULEX) als internationale Organisation hat exekutive Funktionen im Bereich der Verfolgung organisierter Kriminalität, Korruption, interethnischer Kriminalität, Kriegsverbrechen sowie der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Im Hinblick auf die Menschenrechtslage sind in Kosovo zahlreiche Nichtregierungsorganisationen tätig. Der freie Zugang und eine direkte Kontaktaufnahme sind jederzeit möglich. Weiter gibt es seit November 2000 die Institution der Ombudsperson, die für alle Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen oder Amtsmissbrauch durch zivile Behörden zuständig ist. Auf rechtlicher Ebene besteht ein Anti-Diskriminierungsgesetz und nach der Verfassung der Republik Kosovo finden zahlreiche internationale Menschenrechtsabkommen Anwendung. Abgesehen von den Bereichen der organisierten Kriminalität und der Korruption ist die Kriminalität in Kosovo rückläufig und sogar niedriger als im gesamteuropäischen Vergleich; dies gilt besonders für Eigentums-, Körperverletzungs- und Tötungsdelikte (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Kosovo vom 19. Oktober 2009). Darin findet sich auch kein Hinweis darauf, dass gegen Angehörige der Gruppe der Albaner gerichtete Straftaten nicht wirksam strafrechtlich verfolgt würden.

Auch in Bezug auf Serbien ist von Übergriffen auf Angehörige ethnischer Minderheiten berichtet worden, darunter auch Angehörige der Volksgruppe der Albaner (vgl. ai, ai-Report Serbien 2008). Es wird aber nicht dargelegt, dass es sich um eine Vielzahl von Fällen gegen Kosovo-Albaner gehandelt hat, die auf eine beachtliche Verfolgungsdichte schließen lässt. So stellt das Auswärtige Amt fest, dass sich die Lage in der mehrheitlich von ethnischen Albanern bewohnten Grenzregion Südserbien zu Kosovo weitgehend beruhigt hat. Seit den Kommunalwahlen sind die ethnischen Albaner inzwischen angemessen in den Gemeindeorganen vertreten. Auch im serbischen Parlament ist die albanische Minderheit vertreten. Ferner befindet sich eine multiethnische Polizeitruppe im Aufbau. Aufgrund dieser Entwicklung konnten die Rückkehrprogramme für Albaner, die aus Südserbien nach Kosovo geflohen waren, erfolgreich abgeschlossen werden (Auswärtiges Amt, Lagebericht Serbien vom 22. September 2008; vgl. auch Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) "Serbien-Montenegro - zur Situation der AlbanerInnen im Presevo-Tal" vom Mai 2005 unter Nr. 6). [...]