FG Niedersachsen

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Zitieren als:
FG Niedersachsen, Urteil vom 16.02.2010 - 12 K 417/08 - asyl.net: M17126
https://www.asyl.net/rsdb/M17126
Leitsatz:

Zur Auslegung von Kindergeldanträgen und Entscheidungen der Kindergeldkasse hinsichtlich rückwirkender Ansprüche, wenn diese nicht ausdrücklich erwähnt sind: Nach der Rechtsprechung des BFH ist die Behörde verpflichtet, umfassend und somit auch für die Vergangenheit zu prüfen, sofern der Antrag keine ausdrückliche zeitliche Einschränkung enthält. Allein aus der Beifügung einer Rechtsmittelbelehrung kann nicht auf eine konkludente Ablehnung eines Antrags für die Vergangenheit geschlossen werden.

Schlagwörter: Kindergeld, Kindergeldfestsetzung, rückwirkende Bewilligung, Altfallregelung, Bleiberecht, Auslegung
Normen: AO § 169 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, AO § 170 Abs. 1, EStG § 67 S. 1, AO § 171 Abs. 3, EStG § 62 Abs. 2 Nr. 2c, AufenthG § 23 Abs. 1
Auszüge:

[...]

1. Der Klägerin steht für die Monate Juni 2002 bis Dezember 2002 Kindergeld zu. Der Einwand der Beklagten, dass Festsetzungsverjährung eingetreten sei, greift nicht durch.

1. Die Festsetzungsfrist für Steuervergütungen beträgt 4 Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO). Sie beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch auf die Steuervergütung entstanden ist (§ 170 Abs. 1 AO). Das Kindergeld wird auf Antrag (§ 67 Satz 1 EStG) vom Beginn des Monats an gezahlt, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, bis zum Ende des Monats, in dem die Anspruchsvoraussetzungen weggefallen sind (§ 66 Abs. 2 EStG). Der Anspruch auf das Kindergeld entsteht somit für jeden Monat, in dem die Anspruchsvoraussetzungen zu irgendeinem Zeitpunkt vorgelegen haben. Die Festsetzungsfrist für das in den einzelnen Monaten des Jahres 2002 zu zahlende Kindergeld beginnt somit mit Ablauf dieses Kalenderjahres 2002. Sie endet regulär mit Ablauf des Kalenderjahres 2006. Da die angefochtene Kindergeldfestsetzung vom 9. Januar 2008 stammt, kann das Klagebegehren nur Erfolg haben, wenn eine Ablaufhemmung eingreift.

2. Es greift die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3 AO ein. Danach wird der Ablauf der Festsetzungsfrist gehemmt, wenn vor Ablauf der Frist ein Antrag auf Steuerfestsetzung (hier: Kindergeldfestsetzung) gestellt wird. In diesen Fällen läuft die Frist nicht ab, bevor über den Antrag unanfechtbar entschieden worden ist.

a) Die Beklagte stellt insoweit auf den Antrag aus dem Jahr 2007 ab. Da dieser aber nach Ablauf der regulären Festsetzungsfrist Ende 2006 gestellt worden ist, ist dieser Antrag nicht in der Lage, die Festsetzungsfrist zu verlängern. Die Ablaufhemmung gemäß § 171 Abs. 3 AO greift nach dem klaren Wortlaut der Vorschrift nur ein, wenn der Antrag vor Ablauf der Festsetzungsfrist gestellt worden ist.

b) Indes ist das Gericht der Auffassung, dass auf den Antrag aus dem Jahr 2005 abzustellen ist. Der Antrag vom 21. Februar 2005 war nicht nur auf die Gewährung von Kindergeld für die Zukunft gerichtet, sondern auf die umfassende Gewährung von Kindergeld für alle Monate, in denen die Anspruchsvoraussetzungen vorlagen. Dies ergibt sich schon aus der allgemeinen Formulierung des Antrags, der auf die Zahlung von Kindergeld ohne jegliche zeitliche Einschränkung gerichtet war.

Außerdem verwies die Klägerin auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juli 2004 (1 BvL 4/97). Mit dieser Entscheidung hatte das Bundesverfassungsgericht eine dem § 62 Abs. 2 EStG vergleichbare Norm des Bundeskindergeldgesetzes für verfassungswidrig erklärt. Die Fachwelt und die Allgemeinheit erwarteten daraufhin, dass der Gesetzgeber für das steuerliche Kindergeldrecht eine Neuregelung schaffen würde, die den früheren § 62 Abs. 2 EStG ersetzen würde. Dies ist mit Erlass des § 62 Abs. 2 EStG in der Fassung des Gesetzes zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss vom 13. Dezember 2006 (BGBl I 2006, 1915) auch geschehen. Wenn vor diesem Hintergrund ein Kindergeldantrag gestellt wird, der auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verweist, kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Kindergeld nur für die Zukunft gewährt werden soll. Vielmehr will der Betroffene bei sachgerechter Auslegung seiner Willenserklärung (§§ 133, 157 BGB) seine Rechte wahren, die ihm möglicherweise auf Grund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zustehen. Dieser Wille bezieht sich aber naturgemäß nicht nur auf zukünftige Zeiträume, sondern auf alle Zeiträume, für die eine Kindergeldgewährung noch möglich ist.

Zwar legte die Klägerin dem Antrag auch die Niederlassungserlaubnis bei, die sie am selben Tag erhalten hatte. Indes ist das Gericht der Auffassung, dass aus der Beifügung dieser Unterlage nicht geschlossen werden kann, dass die Klägerin nur Kindergeld für die Zeiträume ab Februar 2005 begehrte. Es handelte sich vielmehr um einen Nachweis, der den Anspruch der Klägerin auf Kindergeld für die Zeiträume ab Februar 2005 bestärken sollte. Eine konkludente Einschränkung des Antrags auf Zeiträume ab Erhalt der Niederlassungserlaubnis sieht das Gericht - zumindest unter Einbezug der Ausführungen der Klägerin zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts - nicht. Zudem steht der BFH einer konkludenten Einschränkung des Kindergeldantrags skeptisch gegenüber. Er hat zu diesem Problemkreis ausgeführt, dass bei einem Antrag auf Kindergeldfestsetzung, der keine ausdrückliche zeitliche Einschränkung enthält, die Behörde verpflichtet ist, umfassend und damit auch für die Vergangenheit zu prüfen (BFH-Urteil vom 28. Januar 2004 - VIII R 12/03, BFH/NV 2004, 786). Weder auf dem formlosen Kindergeldantrag noch auf dem nachgereichten Antragsformular findet sich eine entsprechende ausdrückliche zeitliche Begrenzung. [...]

3. Der Klägerin steht auch materiell-rechtlich das Kindergeld für die Monate Juni 2002 bis Dezember 2002 zu.

a) Nach § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe c EStG n.F. erhält ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer Kindergeld, wenn er eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG besitzt und diese Aufenthaltserlaubnis nicht "wegen eines Krieges in seinem Heimatland" erteilt worden ist. Die Neufassung des § 62 Abs. 2 EStG ist nach § 52 Abs. 61a Satz 2 EStG auf alle noch nicht bestandskräftigen Festsetzungen anwendbar.

Die Klägerin hatte in den Monaten Juni 2002 bis Dezember 2002 eine Aufenthaltsbefugnis nach § 32 AuslG (Altfallregelung vom 10. Dezember 1999) inne. Dieser Aufenthaltstitel nach altem Recht ist für die Anwendung des § 62 Abs. 2 EStG n.F. in eine Aufenthaltserlaubnis nach dem neuen Aufenthaltsgesetz umzuqualifizieren (vgl. § 101 AufenthG). Eine Aufenthaltsbefugnis gemäß § 32 AuslG entspricht der Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG für Personen, die auf Grund von Altfall- bzw. Bleiberechtsregelungen durch die Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder in den Jahren 1999 bis 2001 einen Aufenthaltstitel erlangt haben. Diese Gruppe ist strikt von der Gruppe von Ausländern zu trennen, denen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG "wegen eines Krieges in ihrem Heimatland" erteilt wurde. Denn diese zweite Gruppe erhält das Kindergeld nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Nr. 3 EStG (vgl. Tz. 62.4.1 Abs. 1 Satz 13 bis 15 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs - DAFamEStG - i.d.F. vom 20. September 2009, BStBl I 2009, 1029. 1047). Im Falle der Klägerin reicht dagegen die Aufenthaltsbefugnis nach § 32 AuslG aus, um ohne weitere Voraussetzungen nach § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe c EStG anspruchsberechtigt zu sein. [...]