VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 15.12.2009 - A 5 K 1548/08 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 263 f.] - asyl.net: M17123
https://www.asyl.net/rsdb/M17123
Leitsatz:

Eine unter einer falschen Identität erlangte Flüchtlingsanerkennung kann weder zurückgenommen noch widerrufen werden, wenn die frühere Entscheidung auf einem rechtskräftigen verwaltungsgerichtlichen Verpflichtungsurteil beruht und sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- und Rechtslage nicht nachträglich (erheblich) verändert hat.

Anmerkung der Redaktion: Das Urteil ist nach Angaben des Einsenders RA Günter Fuchs seit dem 28.5.2010 rechtskräftig.

Schlagwörter: Widerruf, Rücknahme, Flüchtlingsanerkennung, Türkei, PKK, Vorverfolgung, Rechtskraft, Täuschung über Identität, Änderung der Sach- und Rechtslage
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 73 Abs. 2, VwGO § 121
Auszüge:

[...]

Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 51 Abs. 1 AuslG. [...]

Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Ebenso wenig kann der Bescheid vom 07.08.2008 nach § 73 Abs. 2 AsylVfG als zulässige Rücknahme ausgelegt werden.

Nach § 73 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG ist eine Rücknahme vorzunehmen, wenn die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (früher Abschiebungshindernis nach § 51 Abs. 1 AuslG) aufgrund unrichtiger Angaben erfolgt ist. Daran könnte hier zwar im Ansatz wegen der vom Kläger eingeräumten Identitätstäuschung gedacht werden, jedoch steht insoweit die Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 21.01.1999 entgegen. Beruht die Feststellung eines Abschiebungshindernisses durch das Bundesamt auf einem rechtskräftigen verwaltungsgerichtlichen Verpflichtungsurteil, hindert die Rechtskraft dieser Entscheidung bei unveränderter Sachlage die Aufhebung der Feststellung durch das Bundesamt. Dies folgt jedenfalls aus § 121 VwGO, wonach rechtskräftige Urteile die Beteiligten binden, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist (BVerwG, Urt. v. 18.09.2001 - 1 C 7.01 -, E 115, 118 = NVwZ 2002, 345 m.w.N.). § 73 Abs. 2 AsylVfG befreit nicht von dieser Rechtskraftbindung, sondern setzt vielmehr voraus, dass die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung der Rücknahme der Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 51 Abs. 1 AuslG nicht entgegensteht. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht bereits grundsätzlich für den Fall einer rechtskräftigen Verpflichtung zur Asylanerkennung und deren Rücknahme nach § 73 Abs. 2 AsylVfG entschieden (Urt. v. 24.11.1998 - 9 C 53.97 -, E 108, 30; vgl. auch Urt. v. 08.12.1992 - 1 C 12.92 -, E 91, 256 m.w.N.). Die Rechtskraftwirkung eines Urteils endet allerdings, wenn sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- oder Rechtslage nachträglich (erheblich) verändert - sog. zeitliche Grenze der Rechtskraft - (BVerwG, Urt. v. 18.09.2001 - 1 C 7.01 -, aaO. mit Hinweis auf die ständige Rspr.). Demgegenüber tritt die Rechtskraftwirkung des § 121 VwGO unabhängig davon ein, ob das rechtskräftige Urteil die Sach- und Rechtslage zutreffend gewürdigt hat oder nicht (BVerwG, Urt. v. 31.07.2002 - 1 C 7.02 -, NVwZ 2003, Beilage Nr. I 1, 1-2 = Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 85 sowie Urt. v. 05.11.1985 - 6 C 22.84 - , Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 18; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 01.06.2005 - A 13 S 952/04 -; Beschl. v. 27.10.2000 - 9 S 1996/00 -, VBlBW 2001, 328; VG Freiburg, Urt. v. 07.08.1997 - A 3 K 12700/96 -, NVwZ-RR 1999, 683).).

Ein Fall der nachträglichen (erheblichen) Änderung der zur Zeit des Urteils maßgeblichen Sach- oder Rechtslage ist hier nicht gegeben. Insoweit ist von der Sachlage auszugehen, die das Verwaltungsgericht Karlsruhe seiner Entscheidung zugrunde gelegt hatte; dass dieser Sachverhalt möglicherweise auf unrichtigen Angaben des Klägers beruhte, muss wegen der Rechtskraftbindung des Urteils außer Betracht bleiben, denn solche falschen Angaben führten nur dazu, dass das Urteil schon anfänglich falsch gewesen wäre.

Hätte der Kläger nur dieses zweite Asylverfahren (das Gegenstand der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Karlsruhe war) betrieben (und dabei keine Alias-Identität benutzt), wäre für die Beklagte nur der Widerruf nach § 73 Abs. 1 AsylVfG in Betracht kommen. Der Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG setzt voraus, dass sich die für die Beurteilung der Verfolgungslage maßgeblichen (tatsächlichen) Verhältnisse nachträglich geändert haben. Eine Änderung der Erkenntnislage oder deren abweichende Würdigung genügen nicht (BVerwG, Urt. v. 19.09.2000 - 9 C 12.00 -, NVwZ 2001, 335, und v. 01.11.2005, a.a.O.). Dabei ist es für die Anwendung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG unerheblich, ob die Anerkennung zu Recht oder zu Unrecht ausgesprochen worden ist (BVerwG, Beschl. v. 27.06.1997 - 9 B 280.97 -, NVwZ-RR 1997, 741); es genügt, wenn eine wesentliche Änderung der Verhältnisse gegeben ist, die eine neue Beurteilung erfordert (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.09.2000, a.a.O.). Erforderlich ist eine nachträgliche erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der für die Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse (BVerwG, Urt. v. 01.11.2005, a.a.O.). Die grundlegende Veränderung muss dazu geführt haben, dass die Voraussetzungen für eine Asylanerkennung bzw. die Feststellung nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr vorliegen und dem Ausländer auch nicht aus anderen Gründen erneut politische Verfolgung droht (BVerwG, Urt. v. 01.11.2005, a.a.O.). Bei bereits erlittener Vorverfolgung darf ein Widerruf nur erfolgen, wenn sich weitere Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Sicherheit ausschließen lassen (sogen. herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab; ständige Rechtsprechung: BVerfG. Beschl. v. 02.07.1987, BVewGE 80, 315; BVerwG, Urt. v. 24.11.1992 - 9 C 3.92 - und v. 24.11.1998 - 9 C 53,97 -, NVwZ 1999, 302). Dies ist nur dann der Fall, wenn sich eine Wiederholungsverfolgung ohne ernsthaften Zweifel an der Sicherheit des Asylbewerbers im Falle der Rückkehr im Heimatstaat ausschließen lässt (BVerwG, Urt. v. 24.11.1992; Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG 1992 Nr. 1, und v. 25.09.1984, BVerwGE 70, 169). Es muss mehr als nur überwiegend wahrscheinlich sein, dass der Asylsuchende (bzw. im Falle des Widerrufs: der Asylberechtigte) im Heimatstaat vor politischer Verfolgung sicher ist. Andererseits braucht die Gefahr des Eintritts politischer Verfolgungsmaßnahmen nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen zu werden, so dass jeder auch nur geringe Zweifel an der Sicherheit des Asylsuchenden (bzw. Asylberechtigten) vor politischer Verfolgung seinem Begehren zum Erfolg verhelfen müsste. Lassen sich aber ernsthafte Bedenken nicht ausräumen, so wirken sie sich nach diesem Maßstab zugunsten des Asylsuchenden aus (BVerwG, Urt. v. 18.02.1997, BVerwGE 104, 97). Anderes mag allerdings dann gelten, wenn eine gänzlich neue und andersartige Verfolgung droht, die in keinem inneren Zusammenhang mit der früheren Verfolgung mehr steht; in diesem Fall gilt der allgemeine Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urt. v. 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, NVwZ 2006, 1420).

Die Voraussetzungen von § 73 Abs. 1 AsylVfG liegen im Falle des Klägers nicht vor, weil sich die für die Beurteilung der Verfolgungslage maßgeblichen (tatsächlichen) Verhältnisse für ihn nicht in dem dafür erforderlichen Maße nachträglich gebessert haben. Aus diesem Grunde muss auch eine Rücknahme nach § 73 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG wegen der Rechtskraft des Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 21.01.1999 ausscheiden, da kein Fall der nachträglichen (erheblichen) Änderung der zur Zeit des Urteils maßgeblichen Sach- oder Rechtslage vorliegt.

Im Einzelnen: Die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen von § 51 Abs. 1 AuslG im Bescheid vom 29.03.1999 beruhte darauf, dass das Bundesamt dazu durch rechtskräftiges Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 21.01.1999 verpflichtet worden war, das wiederum das Vorbringen des Klägers, als Sympathisant der PKK bereits staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt gewesen zu sein, für glaubhaft hielt; insbesondere sei der Kläger deswegen inhaftiert und misshandelt worden.

Die Kammer teilt nicht die Einschätzung des Bundesamtes, dass bei einer Person, die nach wegen Unterstützung der PKK erlittener Vorverfolgung ausgereist war und nun in die Türkei zurückkehrte, mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden könne, dass diese Person nicht erneut einer menschenrechtswidrigen Behandlung ausgesetzt würde. [...]

Der Widerrufsbescheid kann gleichwohl keinen Bestand haben, da der nach Überzeugung des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vorverfolgt ausgereiste Kläger unter Zugrundelegung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs in der Türkei vor asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen, die bei Personen, die vor ihrer Ausreise bereits Verfolgungsmaßnahmen wegen Unterstützung der PKK ausgesetzt waren, wieder an den Verdacht der Unterstützung der PKK anknüpfen können, nicht hinreichend sicher ist. [...]

Da die Voraussetzungen für einen Widerruf der Asylanerkennung nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht vorliegen, ist der angefochtene Bescheid in vollem Umfang aufzuheben. [...]