VG Arnsberg

Merkliste
Zitieren als:
VG Arnsberg, Urteil vom 07.01.2010 - 6 K 523/09.A - asyl.net: M17045
https://www.asyl.net/rsdb/M17045
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung eines Mitglieds der außerparlamentarischen Opposition (Armenisch-Gesamtnationale Bewegung).

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Armenien, Armenisch-Gesamtnationale Bewegung, Partei, Mitgliedschaft,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Klägerin zu 1 kann die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Absatz 1 des AsylVfG in Verbindung mit § 60 Absatz 1 AufenthG beanspruchen, da sie unter Berücksichtigung ihres Vorbringens in der mündlichen Verhandlung eine politische Verfolgung in Armenien schlüssig vorgetragen hat. [...]

Nach diesen Maßstäben ist die Klägerin zu 1 verfolgt nach Deutschland gekommen. Sie ist als langjähriges engagiertes Mitglied der in der - außerparlamentarischen - Opposition befindlichen Armenisch-Gesamtnationalen Bewegung in deren Auseinandersetzung mit der regierenden Republikanischen Partei und deren Führung verwickelt gewesen, indem sie v. a. in einer überaus kleinen und vertraulich arbeitenden Arbeitsgruppe wegen des Massakers im armenischen Parlament vom 27. Oktober 1999 Beweismaterial u.a. gegen den Bruder des armenischen Präsidenten Sarkisjan zusammentrug. Es ist nachvollziehbar, dass die Klägerin wegen ihrer juristischen Ausbildung, ihrer langjährigen aktiven Parteimitgliedschaft und ihrer Tätigkeit als Anwältin sowie den dabei gesammelten Kontakten innerhalb der Justiz - neben nur wenigen weiteren Personen - mit den Nachforschungen zum Massaker vom 27. Oktober 1999 betraut worden war. Ebenso ist nachvollziehbar, dass die Armenisch-Gesamtnationale Bewegung über Sympathisanten u. a. im Staatsapparat an hochbrisantes Material gelangt war und die regierende Republikanische Partei (auch) mit den staatlichen Machtmitteln versuchte, ebenfalls an das Material zu gelangen. Dieser Schluss liegt umso mehr nahe, wenn es sich nach den - glaubhaften - Angaben der Klägerin auch um Material handelte, das den Bruder des amtierenden Präsidenten Sarkisjan belasten sollte. Dabei kann dahinstehen, ob das Material tatsächlich eine strafrechtliche Verfolgung stützen könnte. Es genügt, dass die Klägerin zu 1 wegen des Materials und der damit zusammen hängenden Nachforschungen auf unterschiedliche Weise unter Druck gesetzt wurde. So wurde sie zur Rückgabe ihrer Anwaltszulassung genötigt und wurde ihr in Aussicht gestellt, demnächst inhaftiert und verurteilt zu werden. Es wurde in diesem Rahmen auch an ihre Sorge für ihre beiden Kinder appelliert und damit indirekt ein Leid für die Kläger zu 2 und 3 in Aussicht gestellt, das die Kläger in überzeugender Weise zur Flucht motiviert hat. Im Rahmen der politischen Auseinandersetzung ist eine politisch motivierte Verhaftung oder Verurteilung in Armenien nicht gänzlich auszuschließen (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Armenien vom 11. August 2009, S. 7), und die Klägerin zu 1 hat nachvollziehbar dargelegt, weswegen an höchster Stelle ein politisches Interesse daran bestand, auf sie Druck auszuüben. Soweit im streitgegenständlichen Bescheid von Naivität der Klägerin zu 1 die Rede ist, weil sie am 19. Februar 2008 den beiden Männern von der Republikanischen Partei folgte und später den Vor- bzw. Einladungen zur Staatsanwaltschaft, ins Polizeipräsidium und zur Rechtsanwaltskammer Folge leistete, trifft diese Bewertung nach dem Eindruck aus der mündlichen Verhandlung nicht zu. Vielmehr erlag die Klägerin zu 1 am 19. Februar 2008 einem Irrtum und sah auch später keinen Anlass, als eine mit rechtsstaatlichen Mitteln kämpfende Rechtsanwältin auf Seiten der Opposition zum zivilen Ungehorsam gegenüber Behörden überzugehen oder sogar nach der ersten Einschüchterung durch die Staatsanwaltschaft unterzutauchen. Ein solches Verhalten wäre auch nicht zumutbar.

Anders, als es sich noch im streitgegenständlichen Bescheid darstellt, wurde die Klägerin zu 1 auch nicht als willkürlich ausgewähltes kleines Mitglied bzw. untergeordnete Sachbearbeiterin der Armenisch-Gesamtnationalen Bewegung weitgehend ohne erkennbare Erfolgsaussicht politisch unter Druck gesetzt, sondern als gleichberechtigt integriertes Mitglied einer kleinen Arbeitsgruppe von 3 bis 4 Personen erpresst, die hochbrisantes Material gegen die Regierungspartei zusammentrug. Sie hatte damit den erforderlichen Zugang zu dem Material, konnte es aus der Parteizentrale - ggf. verdeckt - mitnehmen und war als alleinerziehende Mutter besonders effektiv unter Druck zu setzen. Ob überhaupt höhergestellte Parteimitglieder und Mitarbeiter annähernd effektiv hätten unter Druck gesetzt werden können, wie es die Beklagte für möglich hält, ist zu bezweifeln. [...]