VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 28.04.2010 - 11 A 939/09 - asyl.net: M17026
https://www.asyl.net/rsdb/M17026
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich Kosovo wegen fehlender medizinischer Behandelbarkeit (Herzerkrankung). Die Kostenübernahmeerklärung der Ausländerbehörde ist nicht das geeignete Mittel, um die schweren gesundheitlichen Gefahren abzuwenden.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Kosovo, Wiederaufnahme des Verfahrens, Kostenübernahmeerklärung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen eines Widerrufs nach § 49 Abs. 1 VwVfG liegen vor. Die ursprünglich rechtmäßige Ablehnung der Voraussetzungen des § 53 AuslG a.F. ist im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, auf den hier gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG abzustellen ist, wegen einer Veränderung der Sachlage rechtswidrig geworden. Aufgrund dieser neuen Sachlage liegen inzwischen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. [...]

Solche Gefahren drohen der Klägerin im Kosovo aufgrund ihrer individuellen, einzelfallspezifischen gesundheitlichen Situation, die geprägt ist durch das Zusammentreffen eines thorakalen Aortenaneurysmas mit einer Vielzahl schwerwiegender Vorerkrankungen. Dadurch entsteht eine komplexe Krankheitssituation, die namentlich dadurch gekennzeichnet ist, das die eigentlich gebotene, planmäßige operative Behandlung des Aortenaneurysmas wegen des schlechten Allgemeinzustandes der Klägerin nicht durchgeführt werden kann, was wiederum dazu führt, dass eine erhebliche Gefahr für einen Riss der Aorta besteht, der einen notfallmäßigen herzchirurgischen Eingriff notwendig machen würde. [...]

Damit kann es aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme in zwei Varianten dazu kommen, dass bei der Klägerin ein herzchirurgischer Eingriff durchgeführt werden muss: Zum einen deshalb, weil die Ärzte aufgrund der Ergebnisse der regelmäßigen computertomographischen Kontrollen im Rahmen einer Risikoabwägung entscheiden, dass trotz des schlechten Allgemeinzustandes der Klägerin unbedingt operiert werden muss, und zum anderen im Wege einer Notoperation, weil die Hauptschlagader gerissen ist und damit keine andere Möglichkeit bleibt, um den sofortigen Tod abzuwenden.

Für beide Szenarien würde bei einer Rückkehr in den Kosovo eine beachtliche Wahrscheinlichkeit bestehen. Dies hat die Beweisaufnahme zur vollen Überzeugung des Einzelrichters ergeben. [...]

Es ist schon fraglich, ob die halbjährlichen computertomographischen Kontrolluntersuchungen für die Klägerin im Kosovo mit der erforderlichen Regelmäßigkeit und Verlässlichkeit verfügbar wären. Zwar kann eine Computertomographie - auch ohne Kontrastmittel - sowohl in der öffentlichen Universitätsklinik in Pristina als auch in der privaten Euromed-Klinik durchgeführt werden. Der Computertomograph der Universitätsklinik fällt aber wegen unzureichender Wartung häufig aus, wobei die Reparaturarbeiten jeweils zwei bis drei Wochen dauern können. Außerdem bestehen für Patienten, die keine privatärztliche Zusatzzahlung in Höhe von ca. 150 EUR leisten könne, lange Wartezeiten (vgl. Auskunft der deutschen Botschaft in Pristina an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 12. Februar 2009 - RK 516.80 - E 106/08). Mit der im Fall der der Klägerin erforderlichen Regelmäßigkeit und Verlässlichkeit dürfte eine Computertomographie daher nur in der privaten Euromed-Klinik möglich sein, deren Geräte westeuropäischem Standard entsprechen, regelmäßig von Fachkräften gewartet werden und wo keine Wartezeiten bestehen. Eine CT-Untersuchung kostet dort insgesamt zwischen 150 und 200 EUR (vgl. Auskunft der deutschen Botschaft in Pristina an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 12. Februar 2009 - RK 516.80 - E 106/08). Diese Kosten könnte die Klägerin, die wegen ihrer gesundheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit im Kosovo auf Sozialhilfe, die Unterstützungsleistung ihrer in Deutschland lebenden Kinder sowie die Kostenübernahme des Landkreises Cloppenburg angewiesen wäre, voraussichtlich nicht alle halbe Jahre tragen. Eine Unterstützung durch die Kinder dürfte in dieser Höhe kaum möglich sein, bedenkt man, dass zwei der Kinder eigene Familien haben, die sie unterhalten müssen, eine weitere Tochter alleinerziehende, arbeitslose Mutter ist und die letzte Tochter wegen ihrer Behinderung in einer Behindertenwerkstatt beschäftigt wird. In die Kostenübernahmeerklärung des Landkreises sind die Kosten einer halbjährlichen Computertomographie nicht einkalkuliert worden.

Aber selbst wenn die Kostenübernahmeerklärung insofern nachgebessert würde, wäre dies nicht geeignet, die der Klägerin drohenden Gefahren abzuwenden. Dann wären zwar die regelmäßigen computertomographischen Kontrolluntersuchungen des throakalen Aortenaneurysmas für sie erhältlich, aber die therapeutischen Konsequenzen, die sich aus diesen Untersuchungen ergeben, könnten dennoch im Kosovo nicht gezogen werden. Die computertomographischen Untersuchungen sollen - wie aufgezeigt - dazu dienen festzustellen, ob die Klägerin trotz ihres schlechten Allgerneinzustandes am thorakalen Aortenaneurysma operiert werden muss. Herzerkrankungen sind im öffentlichen Gesundheitssystem des Kosovo aber nur behandelbar, soweit kein kardiochirurgischer Eingriff indiziert ist. Schwere Komplikationen bei Herzerkrankungen, die einen operativen herzchirurgischen Eingriff notwendig machen, können derzeit weder im öffentlichen noch im privaten Gesundheitswesen des Kosovo behandelt werden (vgl. Auskunft der deutschen Botschaft in Pristina an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 17. Dezember 2009 - RK 516.80 - E 164/09 -; Auskunft der deutschen Botschaft in Pristina an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 22. Januar 2010 - RK 516.80 - E 168/09 -; vgl. auch Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Bescheid vom 6. Januar 2010 - 5091440-150: Asylmagazin 2010, 70). [...]

Zumindest mit kurzfristigen Versorgungslücken muss bei den von der Klägerin benötigten Medikamenten aber im Kosovo mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gerechnet werden. Dabei geht der Einzelrichter davon aus, dass die von der Beklagten eingeholten Auskünfte zur Verfügbarkeit der von der Klägerin benötigten Medikamente im Kosovo immer noch im Wesentlichen einschlägig sind, auch wenn es inzwischen nach Aussage des Dr. ... einige Veränderungen in der Medikation gab. Demnach ist also davon auszugehen, dass diese Medikamente im Kosovo nach der Erkenntnislage grundsätzlich erhältlich sind, wenn auch teilweise nur als Direktimport aus dem Ausland über Privatapotheken. Eine jederzeitige Erhältlichkeit der Medikamente im Kosovo ist aber deshalb noch nicht gewährleistet. Selbst wenn ein Medikament im Kosovo nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln generell vorhanden ist, bedeutet dies nicht, dass es überall und jederzeit verfügbar ist. Im Kosovo können hinsichtlich einzelner Medikamente jederzeit Versorgungslücken auftreten; inwieweit Medikamente tatsächlich immer verfügbar sind, lässt sich nicht genau bestimmen und kann variieren (VG Stuttgart, Urteil vom 4. November 2008 - A 11 K 4350/07 - juris Bl. 9 f.; VG Düsseldorf, Urteil vom 23. November 2005 - 7 K 3570/02.A - juris, Bl. 10 f. - wobei die Kläger in den dortigen Fällen im Wesentlichen an denselben Erkrankungen litten wie die Klägerin des vorliegenden Verfahrens und auch dort ein Teil der Medikamente direkt aus dem Ausland bestellt werden musste). Meistens sind die Medikamente der Essential Drug List irgendwo im Kosovo erhältlich. Ein großes Problem stellt jedoch die Distribution dar, vor allem für ambulante Patienten. Insgesamt ist es schwer vorherzusagen, ob und unter welchen Bedingungen Medikamente erhältlich sind (VG Düsseldorf, aaO.). Wenn - wie hier - im Einzelfall schon eine nur kurzzeitige Nichtverfügbarkeit der erforderlichen Medikamente lebensbedrohliche Folgen hätte, ist es dem Betroffenen nicht zuzumuten, sich in eine Situation zu begeben, die durch derartige Unwägbarkeiten geprägt ist. Es kann ihm nicht angesonnen werden, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um "auszuprobieren", ob die Medikamente, wenn sie benötigt werden, auch tatsächlich immer am entsprechenden Ort erhältlich sind (VG Düsseldorf, aaO.). Dies gilt umso mehr, als auch eine flächendeckende ärztliche Notfallversorgung, die die Klägerin noch den Ausführungen des Zeugen Dr. ... jederzeit "Ruck-Zuck" benötigen kann, im Kosovo nicht gewährleistet ist (vgl. VG Düsseldorf, aaO.).

Schwere Komplikationen, die einen operativen herzchirurgischen Eingriff notwendig machen, sind also bei der Klägerin angesichts ihres individuellen Gesundheitszustandes gerade unter den im Kosovo herrschenden Lebens- und Versorgungsbedingungen jederzeit beachtlich wahrscheinlich. Sie könnten derzeit aber nach der oben angeführten Erkenntnislage im Kosovo nicht behandelt werden.

Daher ist eine Kostenübernahmeerklärung durch die Ausländerbehörde hier selbst dann, wenn von der Höhe her die Kosten von Computertomographien und operativen Eingriffen noch einkalkuliert würden, nicht das geeignete Mittel, um die beschriebenen Gefahren abzuwenden. Die Gefahren resultieren für die Klägerin nicht in erster Linie aus mangelnden finanziellen Mitteln. Sie folgen daraus, dass herzchirurgische (Notfall-)Eingriffe im Kosovo generell - egal zu welchem Preis - nicht möglich sind, und solche oder andere ernste Komplikationen schon bei kurzfristigen Lücken in der Medikamentenversorgung, mit denen im Kosovo auch für Privatzahler zu rechnen ist, umgehend eintreten würden. Die Kostenübernahmeerklärung hilft der Klägerin daher schon während ihrer Laufzeit nicht weiter, so dass sich die Frage, welchen Zeitraum sie mindestens umfassen muss; um ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entfallen zu lassen (vgl. dazu Nds. OVG, Beschluss vom 21. Dezember 2009 - 8 LA 219/09 -, Asylmagazin 2010, 79 f. m.w.N.), hier nicht stellt. [...]