LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28.10.2009 - L 10 SB 45/08 - asyl.net: M17000
https://www.asyl.net/rsdb/M17000
Leitsatz:

Anspruch auf Schwerbehindertenausweis für eine Geduldete, da sie auf unabsehbare Zeit nicht abgeschoben werden kann (chinesische Behörden reagieren nicht auf Anfragen der Ausländerbehörde). Es liegt nahe, bei einer Aufenthaltsdauer von drei oder mehr Jahren den Schutz des Schwerbehindertenrechts für Geduldete in entsprechender Anwendung des § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) zu eröffnen.

Die Revision wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung zur Klärung zugelassen, ob durch das Inkrafttreten des AufenthG zum 1.1.2005 bzgl. der Rechtsstellung geduldeter Ausländer im Bereich des Schwerbehindertenrechts eine Rechtsänderung eingetreten ist.

Schlagwörter: Schwerbehindertenausweis, Duldung, SGB IX, gewöhnlicher Aufenthalt, Opferentschädigungsgesetz
Normen: SGB IX § 2 Abs. 2, OEG § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Auszüge:

[...]

Das SG hat zu Recht entschieden, dass bei der Klägerin wegen des Verlustes ihrer linken Hand ein GdB von 50 festzustellen ist. Die Vorschrift des § 2 Abs. 2 SGB IX steht der Feststellung der Schwerbehinderung nicht entgegen, denn die Klägerin, die sich mit ihrer Familie seit mehr als fünf Jahren, wenn auch nur immer wieder geduldet, im Bundesgebiet aufhält, hat hier unter Berücksichtigung des Zwecks des SGB IX ihren gewöhnlichen Aufenthalt. Ein nicht nur vorübergehendes Verweilen liegt auch bei lediglich geduldeten Ausländern dann jedenfalls vor, wenn weitere Umstände ergeben, dass sie sich gleichwohl auf unbestimmte Zeit in Deutschland aufhalten werden. Dies hat das SG zutreffend festgestellt. Der Senat nimmt im Wesentlichen gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf die zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug und sieht von einer weiteren Darlegung der Entscheidungsgründe ab.

Das Berufungsvorbringen führt zu keiner anderen Beurteilung. Der aktuellen Weisungslage zur Durchführung des Schwerbehindertenrechts bei Ausländern, die im Besitz einer Duldung sind (Weisungen vom 09.01.2007 und 10.05.2007), folgt der Senat nicht.

Die Rechtsstellung des Personenkreises der in Deutschland lebenden behinderten Ausländer, die nicht über eine Aufenthaltserlaubnis, sondern nur über eine Duldung verfügen, hat sich mit dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes zum 01.01.2005 zur Überzeugung des Senats nicht geändert. Auch unter Berücksichtigung des Aufenthaltsgesetzes würde das Schwerbehindertenrecht zu seinen eigenen Zielen in unlösbaren Widerspruch geraten, wenn es eine bestimmte Gruppe auf unabsehbare Zeit in Deutschland lebender ausländischer Behinderter allein wegen ihrer fremden Staatsangehörigkeit und der Art des bei ihnen vorliegenden Aufenthaltstitels auf Dauer von Hilfen zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft ausschlösse. Der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Ausländers im Sinne des Aufenthaltsgesetzes folgt das Schwerbehindertenrecht auch weiterhin nur eingeschränkt. Dies hat das SG Duisburg in der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten und besprochenen Entscheidung vom 15.06.2007 (S 30 SB 140/04, rechtskräftig) überzeugend dargelegt. Danach genügt bei einem Ausländer ein nicht nur vorübergehendes Verweilen weiterhin ausnahmsweise dann, wenn er nicht mit seiner Abschiebung in sein Heimatland zu rechnen braucht, weil der Abschiebung Hindernisse entgegenstehen, die er nicht zu vertreten hat, er sich hier rechtmäßig seit Jahren aufhält und ein Ende des Aufenthalts unabsehbar ist, die Ausländerbehörde aber dennoch keine Aufenthaltsbefugnis erteilt. Zutreffend hat das SG Duisburg dargelegt, dass auch nach der Neuregelung des Ausländerrechts auf unabsehbare Dauer, jedoch ohne Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet lebende ausländische Behinderte nicht allein wegen ihrer fremden Staatsangehörigkeit auf Dauer von Hilfen zur Eingliederung in die Gesellschaft ausgeschlossen werden dürften und dies mit den Zielen des Schwerbehindertenrechts weiterhin nicht vereinbar sei. Das Ziel des Gesetzgebers, die Praxis der Kettenduldungen mit Hilfe der Regelung des § 25 Abs. 5 AufenthG einzuschränken (vgl. die Begründung zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur weitgehend inhaltsgleichen Regelung des § 25 Abs. 6 RegE-AufenthG, BT-Drs. 15/42), sei auch nicht erreicht worden. Der Senat schließt sich den Ausführungen des SG Duisburg an.

Vorliegend ist maßgeblich darauf abzustellen, dass sich die Klägerin zwischenzeitlich seit mehr als fünf Jahren geduldet im Bundesgebiet aufhält. Seit der Entscheidung der Beklagten sind erneut zwei Jahre vergangen, ohne dass sich an dem ausländerrechtlichen Status der Klägerin etwas geändert hätte. Nach der aktuellen vom Senat unmittelbar vor der mündlichen Verhandlung eingeholten telefonischen Auskunft der zuständigen Ausländerbehörde ist auch derzeit nicht absehbar, ob überhaupt und wann die Klägerin das Bundesgebiet verlassen wird. Solange die chinesischen Heimatbehörden auf die Anfragen der Ausländerbehörden nicht reagieren und die Klägerin nicht über einen Pass oder Passersatzpapiere verfügt, ist die Abschiebung weiterhin ausgeschlossen. Dass die Klägerin der Ausländerbehörde gegenüber unwahre Angaben machen und bewusst nicht an der Beschaffung von Passersatzpapieren mitwirken würde, sondern ihre Probleme aussitze, ist spekulativ, jedenfalls nicht belegt. Anhaltspunkte für ein Vertretenmüssen der Klägerin sind nicht ersichtlich. Diese aktuelle Sachlage belegt vielmehr, dass sich, wie von der Ausländerbehörde vermutet, die Abschiebung noch Jahre hinauszögern kann. Das Ende des Aufenthalts ist nicht absehbar und die behinderte Klägerin wird von dem SGB IX geschützt, auch wenn sie sich seit Jahren nur geduldet im Bundesgebiet aufhält. Als Behinderte hat sie Anspruch auf gesellschaftliche Integration und auf die für sie notwendigen Eingliederungshilfen, die ihr nicht jahrelang vorenthalten bleiben dürfen.

Soweit das BSG in der angeführten Entscheidung nicht konkret festgelegt hat, nach welcher Zeit des Aufenthalts der Schutz des Schwerbehindertenrechts greift, so ist dies jedenfalls nach mehr als fünf Jahren der Fall. Es liegt nahe, eine Aufenthaltsdauer in entsprechender Anwendung des § 1 Abs. 1 S 1 Nr. 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) mit drei Jahren als ausreichend anzusehen (BSG aaO, Juris Rn 21, vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 02.06.2009 - L 11 SB 88/09 B -, Juris Rn 3). Zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung hielt die Klägerin sich bereits drei Jahre im Bundesgebiet auf.

Die Klägerin erfüllt auch die weiteren Voraussetzungen für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft, was von dem Beklagten auch nicht in Abrede gestellt wird. Der Senat nimmt auch insoweit gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug und weist ergänzend darauf hin, dass sich die Höhe des GdB seit dem 01.01.2009 nicht mehr nach den Anhaltspunkten, sondern nach den bezüglich der Behinderungen von Seiten der ganzen Hand aber gleichlautenden Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008) richtet. Nach dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag kommt es der Klägerin im Übrigen lediglich auf die Feststellung der Schwerbehinderung für die Zukunft an. [...]

Der Senat hat die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, weil er der Frage, ob durch das Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes zum 01.01.2005 bzgl. der Rechtsstellung geduldeter Ausländer im Bereich des Schwerbehindertenrechts eine Rechtsänderung eingetreten ist, grundsätzliche Bedeutung beimisst.