VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 04.02.2010 - AN 14 K 09.30354 - asyl.net: M16990
https://www.asyl.net/rsdb/M16990
Leitsatz:

1. Keine Gefahr der Gruppenverfolgung für einen Yeziden im Irak wegen fehlender Verfolgungsdichte: Bei einer Gruppengröße von 400 000 Menschen und 600 Eingriffen errechnet sich eine Anschlagsdichte von 1:666.

2. Kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG wegen nicht ausreichender Gefahrendichte: Bei einer Gesamtbevölkerung im Irak von 27,5 Millionen Menschen und ca. 151 000 Opfern in der Zivilbevölkerung errechnet sich eine Wahrscheinlichkeit von 0,54 Prozent Opfer eines Anschlags zu werden. Das Gericht verneint auch einen bewaffneten Konflikt im Irak.

3. Kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen fehlender extremer Gefahrenlage: mindestens 97,5 Prozent der irakischen Zivilbevölkerung sind von Anschlägen seit Kriegsbeginn verschont geblieben.

 

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Abschiebungsverbot, Irak, Yeziden, religiöse Verfolgung, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Provinz Ninive, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, extreme Gefahrenlage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen kann das klägerische Begehren, ihm Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu geben, keinen Erfolg haben. Der Kläger konnte im Verlaufe des Verfahrens nicht glaubhaft machen, dass er vor seiner Ausreise aus dem Irak ernsthaft von Maßnahmen nichtstaatlicher Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 und 4 Buchstabe c AufenthG betroffen oder auch nur bedroht war, noch, dass ihm bei einer jetzigen Rückkehr in den Irak wegen seiner yezidischen Volks- und Religionszugehörigkeit solche Maßnahmen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung nochmals ausdrücklich bestätigt, dass in seinem Heimatort K bisher keine Übergriffe gegen Yeziden vorgekommen seien. Zwar habe man vergeblich versucht, einen Lkw in die Luft zu sprengen und Bewohner des Ortes seien außerhalb Opfer von Anschlägen geworden, nicht jedoch in seinem Heimatort selbst. Der Kläger hat im Verfahren auch nicht vorgetragen, dass ihm je in irgendeiner Weise Gefahren für Leib oder Leben in seiner Heimat erwachsen sind.

Dem Kläger droht auch nicht als Mitglied der Gruppe der Yeziden unter Berücksichtigung der derzeitigen innenpolitischen Situation im Irak Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG durch nichtstaatliche Akteure. Der Kläger gehört ohne Zweifel der Religionsgemeinschaft der Yeziden an, darüber besteht unter den Beteiligten kein Streit. Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Auskünften kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass in qualitativer und quantitativer Hinsicht eine Gruppenverfolgung der Religionsgruppe der Yeziden in der Heimat des Klägers stattfindet. [...]

Der Kläger stammt aus K. und lebt damit in einem, neben dem Sindjar zweitgrößten, yezidischen Siedlungsgebiet, dem Scheichan. K. ist in der Provinz Niniveh gelegen und beherbergt eine Zweigstelle des yezidischen Lalisch-Kulturzentrums (vgl. dazu: Verfolgt und umworben: Yeziden im neuen Irak von Dulz, Hajo und Savelsberg). Den Auskünften ist zu entnehmen, dass einerseits zwar landesweit Übergriffe auf Yeziden stattfinden, aus der Anschlagsdichte aber nicht auf eine Verfolgungsgefahr für jeden einzelnen Yeziden geschlossen werden kann (vgl. dazu Urteil des VG des Saarlands vom 12.8.2008 - 2 K 122/08 -). Für die Frage der Verfolgungsdichte ist zunächst die Größe der Religionsgruppe festzustellen. Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. August 2009 benennt hier eine geschätzte Zahl zwischen 200 Tausend und 600 Tausend Menschen. Uwe Brocks vom German Institute of Global and Area Studies (GIGA) dem Institut für Nahost-Studien in Hamburg geht von einer im Irak lebenden Anzahl von 200 bis 250 Tausend Menschen aus. Der UNHCR hat in Hintergrundinformationen zur Gefährdung von Angehörigen religiöser Minderheiten im Irak vom April 2005 eine Anzahl von schätzungsweise 550 Tausend Menschen genannt, so dass durchschnittlich von ca. 400 Tausend Mitgliedern der Religionsgemeinschaft im Irak ausgegangen werden kann. Weiterhin ist die Anschlagsdichte festzustellen. Hierbei stützt sich das Gericht auf einen Bericht des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements EJPD, Bundesamt für Migration BFM vom 9. April 2008 mit dem Titel Fokus Irak: Situation der Yeziden in Ninawa und im Gebiet der kurdischen Regionalregierung. In diesem Bericht ist im Anhang 1 eine Auflistung von Übergriffen auf Yeziden seit März 2004 bis August 2007 enthalten. Danach ergeben sich zwischen 500 und 600 Eingriffshandlungen, die jedoch nicht durchgehend einen Bezug alleine zu der Religionszugehörigkeit haben. Daraus errechnet sich eine Anschlagsdichte bei einer Gruppengröße von 400 000 Menschen und 600 Eingriffen von 1:666. Damit sind aber die Anforderungen an eine Gruppenverfolgung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht erfüllt. Die Anschlagsdichte lässt eine Regelvermutung, dass jedes Mitglied der yezidischen Religionsgruppe verfolgt wird, nicht zu. Das Bundesverwaltungsgericht hat bei einer wie hier größeren Gruppe eine Verfolgungsdichte von etwa einem Drittel als im Ansatz für die Regelvermutung der eigenen Verfolgung ausreichend angesehen, die aber auf entsprechender Tatsachengrundlage konkret belegt werden muss (Urteil des BVerwG vom 30.4.1996 - 9 C 170/95 -). Selbst wenn davon ausgegangen werden müsste, dass bereits bei einer Verfolgungsdichte von einem Zehntel, bei dem immerhin noch 90 Prozent der Gruppe verschont bleiben, eine Gruppenverfolgung anzunehmen wäre, hält die festgestellte Verfolgungsdichte, die sich zudem über mehrere Jahre hinweg erstreckt von 1:666 einen sicheren Abstand zu der kritischen Verfolgungsdichte. Eine Regelvermutung zu Gunsten einer Verfolgung jedes Yeziden kann nicht aufgestellt werden. Eine individuelle Betroffenheit liegt beim Kläger nicht vor, so dass die Voraussetzungen von § 60 Abs. 1 AufenthG nicht erfüllt sind. Staatliche Repressionen haben die Yeziden im Irak seit der Entmachtung Saddam Husseins nicht mehr zu befürchten, sie genießen in der Verfassung verbriefte Minderheitenrechte, allerdings verfügen sie nach der Auflösung des früheren Ministeriums für Religionsangelegenheiten zu Gunsten dreier neu geschaffener Ressorts für die Angelegenheiten der Schiiten, der Sunniten und der Christen im derzeitigen irakischen Regierungsgefüge über keine eigenen Interessenvertretung mehr (UNHCR vom April 2005, Hintergrundinformation zur Gefährdung von Angehörigen religiöser Minderheiten im Irak; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12.8.2009). Mangels staatlicher Repression liegen auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 und Abs. 3 AufenthG nicht vor. [...]

Letztlich kann es jedoch dahingestellt bleiben, ob die derzeitige Situation im Irak bereits die Annahme eines Bürgerkriegs und damit eines landesweit oder auch nur regional bestehenden bewaffneten Konflikts zu rechtfertigen vermag. Ein bewaffneter Konflikt begründet ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nämlich nur dann, wenn der Schutzsuchende von ihm ernsthaft individuell bedroht ist und keine innerstaatliche Schutzalternative besteht. Eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben droht dem Kläger als Angehörigen der Zivilbevölkerung vorliegend allerdings nicht. Die von der angespannten Sicherheitslage im Irak ausgehende Gefährdung betrifft eine Vielzahl von Zivilpersonen und stellt damit eine Gefahr dar, der letztlich die gesamte Bevölkerung im Irak allgemein ausgesetzt ist. Die für den Schutzanspruch erforderliche erhebliche individuelle Gefahr kann erst dann bejaht werden, wenn sich allgemeine Gefahren mit der Folge einer ernsthaften persönlichen Betroffenheit aller Bewohner des Konflikts verdichten oder sich durch individuelle Gefahr erhöhende Umstände zuspitzen. Solche individuellen Gefahr erhöhenden Umstände können sich auch aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. Im Übrigen gelten für die Feststellung der Gefahrendichte ähnliche Kriterien wie im Bereich des Flüchtlingsrechts für den dort maßgeblichen Begriff der Verfolgungsdichte bei einer Gruppenverfolgung. Die Gefahr muss zusätzlich in Folge "willkürlicher Gewalt" im Sinne des Art. 15 Buchstabe c der Qualifikationsrichtlinie drohen. Der Begriff "willkürliche Gewalt" dürfte insbesondere Anschläge erfassen, die nicht auf die bekämpfte Konfliktpartei gerichtet sind, sondern die Zivilbevölkerung treffen sollen. Er dürfte sich ferner auf Gewaltakte erstrecken, bei denen die Mittel und Methoden in unverhältnismäßiger Weise die Zivilbevölkerung betreffen. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 17. Februar 2009 (C-465/07) steht dazu nicht im Widerspruch. Danach ist eine ernsthafte und individuelle Bedrohung im Sinne von Art. 15 Buchstabe c der Qualifikationsrichtlinie dann zu bejahen, wenn der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Gebiet allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Gemeint ist der Fall einer außergewöhnlichen Situation, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, der Schutzsuchende werde dieser Gefahr individuell ausgesetzt sein. Dabei kann der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit ein Anspruch auf subsidiären Schutz besteht, um so geringer sein, je mehr der Schutzsuchende möglicherweise zu belegen vermag, dass er auf Grund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umstände spezifisch betroffen ist. Vor diesem Hintergrund mögen zwar die für die Situation im Irak typischen Selbstmordattentate und Bombenanschläge Akte willkürlicher Gewalt darstellen. Allerdings lässt sich weder die für die Annahme einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben erforderliche Gefahrendichte bzw. der erforderliche hohe Gefahrengrad feststellen, noch sind besondere in der Person des Klägers liegende, seine persönliche Situation betreffende Umstände vorhanden, die die Gefährdung des Klägers im Verhältnis zu sonstigen Angehörigen der Zivilbevölkerung erheblich werden lassen. Zwar erhöht sich für den Kläger wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgruppe der Yeziden die individuelle Gefährdung. Geht man davon aus, dass bei einer Gesamtbevölkerung im Irak von 27,5 Millionen Menschen ca. 151 000 Opfer in der Zivilbevölkerung zu beklagen sind (vgl. dazu den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 6.10.2008 mit Hinweis auf Angaben aus dem irakischen Gesundheitsministerium und der WHO) errechnet sich eine Wahrscheinlichkeit von 0,54 Prozent Opfer eines Anschlags zu werden. Auch wenn in diesem Zusammenhang berücksichtigt wird, dass sich diese Gefährdung durch die Religionszugehörigkeit des Klägers erhöht, wird deutlich, der den Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt im Irak noch kein so hohes Niveau erreicht hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson werde bei Rückkehr alleine durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr laufen, einer ernsthaften Bedrohung im Sinne des Art. 15 Buchstabe c der Richtlinie ausgesetzt zu sein. Dies gilt umso mehr angesichts des Umstandes, dass sich die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Irak seit Beginn der US-amerikanischen Truppenaufstockung im Frühsommer 2007 deutlich vermindert haben. Schließlich verneint das Gericht einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt. Die Gewalttaten, die deutlich unterhalb der Schwelle eines Bürgerkrieges liegen, erreichen auch das vom Bundesverwaltungsgericht in der Entscheidung vom 24. Juni 2008 (10 C 43.07) vorausgesetzte Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit nicht. [...]

Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dabei sind Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60 Buchstabe a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Eine solche vorübergehende Aussetzung der Abschiebung gibt es in Bayern. Das Bayerische Staatsministerium des Innern hat mit IMS vom 18. Dezember 2003 verfügt, dass auslaufende Duldungen irakischer Staatsangehöriger bis auf Weiteres um jeweils sechs Monate verlängert werden. Dies ist in Bayern mit der Ausnahme von Straftätern und Sicherheitsgefährdern aus den Provinzen Sulaimaniyah, Erbil und Dohuk nach wie vor Praxis.

Abgesehen davon vermag eine allgemeine Gefahrenlage nur dann ein zwingendes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu begründen, wenn es dem Kläger mit Blick auf den verfassungsrechtlich unabdingbar gebotenen Schutz, insbesondere des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nicht zuzumuten wäre, in sein Heimatland abgeschoben zu werden.

Dies wäre dann der Fall, wenn er im Irak einer extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wäre, dass er im Falle seiner Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde (Urteil des BVerwG vom 17.10.1995 - 9 C 15.95 -; Urteil vom 8.12.1998 - 9 C 4.98 -). Eine derart extreme Gefährdungslage bei einer Rückkehr in den Irak ist indes nicht darstellbar. Die insgesamt zurückgehende Anzahl der durch Terrorakte und andauernde Kampfhandlungen zu beklagenden Zivilopfer lässt im Irak in Relation zu der Gesamtbevölkerungszahl nicht die Annahme zu, jeder Iraker werde im Falle seiner Rückkehr unmittelbar und landesweit Gefahr laufen, Opfer entsprechender Anschläge oder Kampfhandlungen zu werden. Mit der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Saarland (Beschluss vom 9.3.2007 - 3 Q 113-06-) ist das Gericht daher der Auffassung, dass im Irak offensichtlich eine extreme Gefahr in diesem Sinne nicht besteht, da bei einer Bevölkerungszahl von ca. 27 Millionen Irakern mit einer Opferzahl, die sich zwischen 89.000 und 654.965 Menschen seit März 2003 bewegt (zu der letzten Zahl siehe Süddeutsche Zeitung vom 12.1.2007 mit Hinweis auf eine amerikanische Untersuchung der Johns Hopkins School of Medicine) mindestens 97,5 Prozent der irakischen Zivilbevölkerung von Anschlägen seit Kriegsbeginn verschont geblieben sind und mithin nicht jeder irakische Rückkehrer sehenden Auges der Gefahr des alsbaldigen Todes oder schwerster Verletzungen ausgesetzt ist.

Eine Gefährdung ergibt sich auch nicht im Hinblick auf die allgemeine Versorgungslage im Irak. Konkrete Anhaltspunkte für eine drohende Nahrungsmittelknappheit oder gar eine Hungerkatastrophe bestehen nicht, viele Hilfsorganisationen führen ihre Programme mit irakischen Ortskräften weiter, nachdem eigenes Personal wegen der Gefahr von Entführungen abgezogen wurde. Auch das Handelsministerium lässt weiterhin Nahrungsmittel verteilen (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12.8.2009). [...]