SG Berlin

Merkliste
Zitieren als:
SG Berlin, Urteil vom 25.03.2010 - S 26 AS 8114/08 - asyl.net: M16963
https://www.asyl.net/rsdb/M16963
Leitsatz:

1. Kein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II für Unionsbürger, wenn ein Anspruch nach dem Europäischen Fürsorgeabkommen besteht (hier: Italien).

2. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ist nicht europarechtswidrig. Leistungen nach dem SGB II stellen staatliche Fürsorgeleistungen dar.

Schlagwörter: SGB II, Unionsbürger, Italien, Leistungsausschluss, freizügigkeitsberechtigt, Arbeitnehmerbegriff, erwerbsfähig, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitsuche, tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt, Sozialhilfe, Europäisches Fürsorgeabkommen, lex specialis
Normen: SGG § 54, SGB II § 7 Abs. 1 S. 1, EGV Art. 39 Abs. 1, FreizügG/EU § 4a, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 2, EGV Art. 12, EGV Art. 39, SGB II § 1 Abs. 1 S. 2, EFA Art. 1, EFA Art. 2 Bst. a, EFA Art. 16 Bst. b
Auszüge:

[...]

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) dem Grunde nach für die Zeit vom 02.11.2007 bis einschließlich 30.04.2008. [...]

Indes kann die genaue Dauer des Aufenthalts des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland offen bleiben, da selbst dann, wenn die Voraussetzungen aus § 4a FreizügG/EU in der Person des Klägers für den streitgegenständlichen Zeitraum nicht vorgelegen haben sollten, der Leistungsausschluss aus § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bereits aus Rechtsgründen auf den Kläger unanwendbar ist.

bb. Zwar stehen der Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nach Ansicht der Kammer Vorschriften des europäischen Primär- und Sekundärrechts nicht entgegen.

Durch § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II wird ein in Artikel 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (sog. Unionsbürgerrichtlinie; Abl. L 158 vom 30.04.2004, S. 77) enthaltener Vorbehalt in nationales Recht umgesetzt.

In diesem Zusammenhang sieht die Kammer keine Veranlassung, bereits an der Vereinbarkeit von Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie mit europäischem Primärrecht, namentlich mit Art. 12 EGV in Verbindung mit Art. 39 EGV, zu zweifeln mit der Folge, dass unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt auch der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. SGB II mit Blick auf Unionsbürger möglicherweise insgesamt gegen europäisches Primärrecht verstieße. Diese Frage kann im Lichte der Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften in den Rechtssachen Vatsouras und Koupatantze (EuGH, Urteil vom 04.06.2009 – Rs. C-22/08 und C 23-08; veröffentlicht im Internet unter www.curia.europa.eu ) als im Sinne einer Vereinbarkeit geklärt angesehen werden. Auf die Vorlagefrage des Sozialgerichts Nürnberg hin, ob Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG mit Art. 12 in Verbindung mit Art. 39 EGV vereinbar sei, sah der EuGH ausdrücklich keinen rechtlichen Gesichtspunkt, der die Gültigkeit von Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie berühren könnte (EuGH, a.a.O. – Rechtssachen Vatouras, Koupatantze – Rn. 46).

Nach Überzeugung der Kammer ist der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, jedenfalls soweit er vom Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausschließt, auch im Übrigen mit Gemeinschaftsrecht vereinbar (ebenso im Ergebnis LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 08.06.2009 – L 34 AS 790/09 B ER, Beschluss vom 23.12.2009 – L 34 AS 1350/09 B ER; Hessisches LSG, Beschluss vom 03.04.2008 – L 9 AS 59/08 B ER; OVG Bremen, Beschluss vom 15.11.2007 – S 2 B 426/07, Rn. 15ff.; Mangold/Pattar, Ausschluss von Leistungen für arbeitssuchende Ausländer: Notwendigkeit einer europa-, völker- und grundrechtskonformen Auslegung des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II, in: VSSR 2008, 243ff.; ebenso, aber einen Anspruch nach dem SGB XII bejahend: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.06.2007 – L 9 B 80/07 AS ER, Rn. 25ff.; Beschluss vom 03.11.2006 – L 20 B 248/06 AS ER, Rn. 22ff.; a.A.: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25.04.2007 – L 19 B 116/07 AS ER; Schreiber, Frank, Der Arbeitslosengeld II-Anspruch von Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen, in: info also 2008, 3ff.)

Zwar ist zu beachten, dass nach der Rechtsprechung des EuGH auch jene Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates, die in einem anderen Mitgliedstaat eine Beschäftigung suchen, in den Anwendungsbereich von Art. 39 EGV fallen und daher einen Anspruch auf die in Art. 39 Abs. 2 EGV vorgesehene Gleichbehandlung haben mit der Folge, dass es nicht mehr möglich ist, vom Anwendungsbereich des Art. 39 Abs. 2 EGV eine finanzielle Leistung auszunehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates erleichtern soll (EuGH, Urteil vom 23.03.2004, Rechtssache C-138/02 – Collins , EuZW 2004, S. 507, ebenso EuGH, Urteil vom 15.09.2005, Rechtssache C-258/04 – Ioannidis , EuZW 2005, 663, 664; Urteil vom 04.06.2009, Rechtssachen C-22/08 und C-23/08 – Vatsouras, Koupatantze). Indes ist es legitim, dass ein Mitgliedstaat solche Beihilfen erst gewährt, nachdem das Bestehen einer tatsächlichen Verbindung des Arbeitssuchenden mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates festgestellt wurde, wobei sich eine solche Verbindung auch aus der Feststellung ergeben kann, dass der Betroffene in dem in Rede stehenden Mitgliedstaat während eines angemessenen Zeitraumes tatsächlich eine Beschäftigung gesucht hat. Daher können sich Staatsangehörige eines Mitgliedstaates, die zur Arbeitssuche in einem anderen Mitgliedstaat sind und tatsächliche Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates hergestellt haben, auf Art. 39 Abs. 2 EGV berufen, um in diesem Mitgliedstaat eine finanzielle Leistung in Anspruch zu nehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll. (EuGH, a.a.O. – Vatsouras, Koupatantze, Rn. 38ff.).

Vor diesem Hintergrund ist auch die Regelung in Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie im Einklang mit Art. 39 Abs. 2 EGV auszulegen, und zwar dahingehend, dass finanzielle Leistungen, die unabhängig von ihrer Einstufung nach nationalem Recht den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, nicht als "Sozialhilfeleistungen" im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie angesehen werden können, wobei es Sache der nationalen Behörden und Gerichte ist, die grundlegenden Merkmale einer finanziellen Leistung, ihren Zweck und die Voraussetzungen ihrer Gewährung zu prüfen (EuGH, a.a.O. – Vatsouras, Koupatantze; Rn. 41, 45).

Daraus folgt jedoch nicht, dass die Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II dahingehend europarechtskonform einschränkend auszulegen wäre, dass Unionsbürger, die sich zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten und bereits eine tatsächliche Verbindung mit dem deutschen Arbeitsmarkt hergestellt haben, nicht vom Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen sind, denn bei den – hier im Streit stehenden – Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Sinne des 2. Abschnitts des 3. Kapitels des SGB II handelt es sich nicht um "finanzielle Leistungen, die … den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen" in dem vorgenannten Sinne.

Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB II soll die Grundsicherung für Arbeitssuchende erwerbsfähige Hilfebedürftige bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit unterstützen und den Lebensunterhalt sichern. Indes ist die Regelung in § 1 Abs. 1 SGB II nach Auffassung der Kammer nicht so zu verstehen, dass jede Grundsicherungsleistung nach dem SGB II gleichermaßen jedem der in § 1 Abs. 1 SGB II beschriebenen Zwecke zu dienen bestimmt ist. Vielmehr unterscheidet das SGB II, wie sich aus § 1 Abs. 2 SGB II ergibt, grundlegend zwischen Leistungen zur Eingliederung in Arbeit, die zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit dienen, und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Diese Unterscheidung zwischen aktiven Leistungen, die den Erwerbsfähigen bei der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit unterstützen sollen, und passiven Leistungen, die den Lebensunterhalt der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und ihrer Familienangehörigen sichern sollen, war von Anfang an im Gesetzgebungsverfahren zu dem Vierten Gesetz über moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, dem u.a. das SGB II entstammt, angelegt (so ausdrücklich: Gesetzentwurf eines Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BT-Drucksache 15/1516, S. 50) und wurde durch den Gesetzgeber seither nicht aufgegeben. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, die an die Stelle der früheren Arbeitslosenhilfe sowie Sozialhilfe traten, staatliche Fürsorgeleistungen darstellen, die allein der Sicherung eines menschenwürdigen Lebens der Hilfebedürftigen dienen und gerade nicht "den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen" . Sie sind als "Sozialhilfe" im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie anzusehen (ebenso LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 08.06.2009 – L 34 AS 790/09 B ER, zitiert nach www.sozialgerichtsbarkeit.de ; Beschluss vom 23.12.2009 – L 34 AS 1350/09 B ER, Rn. 8; OVG Bremen, Beschluss vom 15.11.2007 – S 2 B 426/07, Rn. 14, zitiert nach JURIS).

cc. Indessen vermag der Leistungsausschluss aus § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auf den Kläger dennoch keine Anwendung zu finden, da dieser Leistungsausschlussvorschrift mit Blick auf den Kläger die Regelung in Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens vom 11. Dezember 1953 (EFA, BGBl. 1956 Teil II, S. 564; Vertragstext veröffentlicht im Internet unter conventions.coe.int ) in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz vom 15.05.1959 als lex specialis vorgeht.

Das EFA als völkerrechtlicher Vertrag ist durch das Zustimmungsgesetz hierzu vom 15.05.1959 (BGBl. 1956 Teil II, S 563) in innerstaatlich anwendbares, Rechte und Pflichten des Einzelnen begründendes Recht transformiert worden (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18.05.2000 – 5 C 29/98, Rn. 9; zitiert nach JURIS; ebenso bereits BVerwGE 71, 139, 142). Gemäß Art. 1 EFA verpflichtet sich jeder der Vertragsschließenden, den Staatsangehörigen der anderen Vertragsschließenden, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf das das EFA Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen aus Art. 1 EFA lagen bei dem Kläger in dem streitgegenständlichen Zeitraum vor, denn er ist Staatsangehöriger eines Vertragsstaates und hielt sich im streitbefangenen Zeitraum erlaubt (siehe oben unter aa.) auf dem Gebiet eines anderen Vertragsstaates, auf den das EFA Anwendung findet, auf. Sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die Republik Italien, deren Staatsangehöriger der Kläger ist, sind Vertragsstaaten des EFA und waren dies bereits während des hier streitgegenständlichen Zeitraumes (vgl. Übersicht der Signatarstaaten, veröffentlicht im Internet unter conventions.coe.int ). Auch verfügte der Kläger im streitigen Zeitraum nicht über ausreichende – existenzsichernde – Mittel.

Das Vorliegen der Voraussetzungen aus Art. 1 EFA zieht als Rechtsfolge einen Anspruch des Klägers auf Fürsorgeleistungen in gleicher Weise und unter den gleichen Voraussetzungen wie für deutsche Staatsangehörige nach sich. Dabei vertritt die Kammer die Ansicht, dass der Begriff der "Fürsorge" im Sinne von Art. 1 EFA auch Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II umfasst und sich der Gewährleistungsgehalt von Art. 1 EFA hierauf erstreckt (ebenso: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14.01.2008 – L 8 SO 88/07 ER, Rn. 38; Mangold/Pattar, a.a.O., S. 261; a.A.: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.12.2009 – L 34 AS 1350/09 B, Rn. 11ff.; offen gelassen: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.04.2009 – L 14 B 933/08 AS ER; Rechtsprechung zitiert nach JURIS).

Ausweislich der Definition in Art. 2 Buchst. a EFA wird als "Fürsorge" im Sinne des EFA jede Fürsorge bezeichnet, die jeder der Vertragschließenden nach den in dem jeweiligen Teile seines Gebietes geltenden Rechtsvorschriften gewährt und wonach Personen ohne ausreichende Mittel die Mittel für ihren Lebensbedarf sowie die Betreuung erhalten, die ihre Lage erfordert. Ausgenommen sind beitragsfreie Renten und Leistungen zugunsten der Kriegsopfer und der Besatzungsgeschädigten.

Gemäß Art. 2 Buchst. b EFA sind die Rechtsvorschriften, die in den Gebieten der Vertragschließenden des EFA in Kraft sind, sowie die von den Vertragschließenden formulierten Vorbehalte in den Anhängen I und II zum EFA aufgeführt. In Anlage I (in der Fassung der Neubekanntmachung vom 20.09.2001, BGBl. 2001 Teil II, S. 1086ff.) wird für die Bundesrepublik Deutschland u.a. das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 23.03.1994 genannt, nicht hingegen das SGB II.

Indessen folgt aus dem Umstand, dass das SGB II in Anlage I EFA bislang keine Erwähnung findet, nicht, dass die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts betreffenden Vorschriften des SGB II vom Gewährleistungsgehalt von Art. 1 EFA nicht umfasst wären, denn die Anlage I zum EVA ist lediglich deklaratorischer Natur (ebenso Mangold/Pattar, a.a.O., S. 259ff.). Hierfür spricht schon der Wortlaut von Art. 2 Buchst. b EFA, wonach "die Rechtsvorschriften, die … in Kraft sind" in Anhang I aufgeführt sind. Auch enthält bereits Art. 2 Buchst. a des EFA eine eigenständige, aus sich heraus verständliche Definition des Fürsorgebegriffs des EFA. Zudem legt auch die Formulierung der Notifizierungspflicht in Art. 16 Buchst. b Satz 1 EFA, wonach jeder Vertragsschließende dem Generalsekretär des Europarats alle neuen Rechtsvorschriften mitzuteilen hat, die in Anhang I EFA noch nicht aufgeführt sind, nahe, Anhang I lediglich als rein informatorische Auflistung aller gegenwärtig geltenden nationalen Vorschriften zu Fürsorgeleistungen im Sinne des EFA aufzufassen.

Auch bei Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II handelt es sich vielmehr um Fürsorgeleistungen im Sinne des EFA. Die Leistung, die partiell an die Stelle der Sozialhilfe nach dem BSHG getreten ist und in Anlehnung an die Sozialhilfe nach dem SGB XII ausgestaltet ist, weist eine sozialhilferechtliche Konzeption auf (ebenso LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14.01.2008 – L 8 SO 88/07 ER, Rn. 38). Allein aus der bislang nicht erfolgten Notifizierung der Regelungen des SGB II durch die Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 16 Buchst. b Satz 1 EFA folgt keine Einschränkung der völkervertragsrechtlichen Fürsorgegewährleistung in Art. 1 EFA, denn auch eine solche Mitteilung hat nur klarstellende Bedeutung, um die übrigen Vertragsstaaten über den Stand der Fürsorgegesetzgebung im mitteilenden Vertragsstaat zu informieren (ebenso für die unterbliebene Notifikation von Änderungen von Vorschriften des BSHG: Bundeserwaltungsgericht, a.a.O., Rn. 19; ebenso für die unterbliebene Mitteilung des SGB II: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14.01.2008 – L 8 SO 88/07 ER, Rn. 39ff).

Ein solches Verständnis entspricht dem Zweck des EFA, die Zusammenarbeit der Vertragsstaaten zur Herstellung einer engeren Verbindung zwischen diesen unter Festlegung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ihrer Staatsangehörigen auf dem Gebiete der Fürsorgegesetzgebung auch auf das soziale Gebiet auszudehnen (vgl. Präambel zum EFA). Die hier vertretene Ansicht führt überdies nicht dazu, dass ein Vertragsstaat bei Änderungen seiner Fürsorgegesetzgebung infolge von Art. 1 EFA zusätzlichen völkerrechtlichen Verpflichtungen ausgesetzt wäre, von denen er sich nicht zu lösen vermag, denn Art. 16 Buchst. b Satz 2 EFA gestattet jedem Mitgliedstaat ausdrücklich, die Mitteilung der neuen Rechtsvorschriften an den Generalsekretär des Europarats mit Vorbehalten hinsichtlich der Anwendung dieser neuen Rechtsvorschriften auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten zu verbinden. Will ein Vertragsstaat, dass sich eine spätere Änderung seiner Fürsorgegesetzgebung auf die Staatsangehörigen der übrigen Vertragsstaaten nicht in der gleichen Weise auswirken soll wie auf seine eigenen Staatsangehörigen, so muss er von dieser Möglichkeit Gebrauch machen und seine Mitteilung der Änderungen seiner Fürsorgegesetzgebung mit einem entsprechenden Vorbehalt verbinden (ebenso BVerwG, a.a.O., Rn. 19).

Einen solchen Vorbehalt indes hat die Bundesrepublik Deutschland bezüglich der Anwendbarkeit der Vorschriften des SGB II bislang nicht erklärt. Zwar weist der Anhang II zum EFA (ebenfalls in der Fassung der Neubekanntmachung vom 20.09.2001, BGBl. 2001 Teil II, S. 1086ff.) unter Nr. 2 einen Vorbehalt aus, dem zufolge die Bundesrepublik Deutschland keine Verpflichtung übernimmt, die im BSHG in der jeweils geltenden Fassung vorgesehene Hilfe zum Aufbau oder zur Sicherung der Lebensgrundlage und Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten an Staatsangehörige der übrigen Vertragsstaaten in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie den eigenen Staatsangehörigen zuzuwenden. Weitere Vorbehalte zum EFA hat die Bundesrepublik Deutschland bislang jedoch nicht erklärt.

Auch soweit überdies die Ansicht vertreten wird, das EFA finde keine Anwendung auf Staatsangehörige von Vertragsstaaten, die in einen anderen Vertragsstaat nur zu dem Zweck eingereist sind, Fürsorgeleistungen in Anspruch zu nehmen (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.12.2009 – L 34 AS 1350/09 B ER, Rn. 14, LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14.01.2008 – L 8 SO 88/07 ER, Rn. 45), steht dies hier der Anwendbarkeit von Art. 1 EFA auf den Kläger nicht entgegen, denn es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger, der in den Jahren seines Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland mehrfach – wenngleich über kurze Zeiträume – erwerbstätig war und dessen minderjährige Tochter ebenfalls in Deutschland lebt, sich durchgängig allein zum Zwecke der Inanspruchnahme von Sozialleistungen in die Bundesrepublik Deutschland aufhielt und aufhält.

Nach alledem widerspricht der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II teilweise Art. 1 des innerstaatlich anwendbaren, Rechte und Pflichten des Einzelnen begründenden EFA, nämlich jedenfalls insoweit, als § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auch erwerbsfähige Hilfebedürftige, die als Staatsangehörige anderer Signatarstaaten des EFA in der Bundesrepublik Deutschland leben und nicht nur zur Erlangung von Fürsorgeleistungen in die Bundesrepublik eingereist sind, vom Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausschließt. Beide Normen stehen gleichrangig nebeneinander. Decken sich indes die Tatbestände ranggleicher Normen unterschiedlichen Alters nur teilweise, können sie – ohne dem Grundsatz der Einheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung zu widersprechen – mit der Setzung unterschiedlicher Rechtsfolgen nebeneinander Geltung beanspruchen, wenn und soweit die jüngere generelle Norm ihren Geltungsanspruch nicht auf den Überschneidungsbereich mit der älteren speziellen erstreckt (Bundesverwaltungsgericht, a.a.O., Rn. 26). Im Überschneidungsbereich – hier zwischen Art. 1 EFA und § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II – gilt, dass Vorschriften eines einfachen Bundesgesetzes im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland auszulegen und anzuwenden sind und hierbei der Tatsache, dass die bundesgesetzliche Vorschrift später erlassen wurde als die völkervertragsrechtliche Abrede, keine ausschlaggebende Bedeutung zukommt, denn es ist nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will (Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 74, 358ff.; ebenso BVerwG, a.a.O., Rnr. 27). Der Vorrang des späteren Gesetzes kann daher nur dann eingreifen, wenn der Gesetzgeber seinen Willen zur Derogation des transformierten völkervertraglichen Rechts mit aller Deutlichkeit herausgestellt hat (BVerwG, a.a.O., Rn. 27 mit weiteren Nachweisen). Ein gesetzgeberischer Wille, von aus dem EFA fließenden völkerrechtlichen Verpflichtungen abzuweichen, ist hingegen bei Erlass des SGB II nicht erkennbar geworden (ebenso LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14.01.2008 – L 8 SO 88/07 ER, Rn. 48; Mangold/Pattar, a.a.O., S. 261f.).

Mithin steht Ansprüchen des Klägers auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II die Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht entgegen, da sie völkerrechtskonform dahingehend einschränkend auszulegen ist, dass sie keine Geltung beanspruchen kann für Staatsangehörige von Vertragsstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens, soweit diese nicht ausschließlich zur Erlangung von Fürsorgeleistungen eingereist sind (ebenso: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11.11.2009 – L 10 AS 1801/09; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14.01.2010 – L 14 AS 1565/09 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14.01.2008 – L 8 12 SO 88/07 ER, Mangold/Pattar, a.a.O., a.A.: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.12.2009 – L 34 AS 1350/09 B ER; Bayerisches LSG, Beschluss vom 04.05.2009 – L 16 AS 130/09 B ER). [...]