BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 20.08 - asyl.net: M16875
https://www.asyl.net/rsdb/M16875
Leitsatz:

Keine Flüchtlingsanerkennung, da die aus Tschetschenien stammenden Kläger tscherkessischer Volkszugehörigkeit sind und daher zumindest in den drei Titularrepubliken der Adyge (Kabardino-Balkarien, Adygeja oder Karatschajewo-Tscherkessien) internen Schutz nach Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie finden können.

Die Feststellungen des Berufungsgerichts, dass die Registrierung nicht ohne Inlandspass möglich sei, der nur in Tschetschenien beantragt werden könne, ist nicht durch Verfahrensrügen angegriffen worden. Das Berufungsgericht hat - wenn auch in knapper Form - ausreichend dargelegt, dass am Ort des internen Schutzes unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände jedenfalls das Existenzminimum gewährleistet sein muss. Die Revision wird daher zurückgewiesen.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Asylverfahren, Tschetschenien, Tschetschenen, interne Fluchtalternative, Russische Föderation, Tscherkessen, Kabardino-Balkarien, Adygeja, Karatschajewo-Tscherkessien, Registrierung, Existenzminimum, Beweiserleichterung, Qualifikationsrichtlinie
Normen: AsylVfG § 3 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4, RL 2004/83/EG Art. 8
Auszüge:

[...]

Selbst wenn man zugunsten der Kläger unterstellt, dass sie ihr Herkunftsland vorverfolgt verlassen haben und die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie eingreift, steht ihnen ein Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung nicht zu. Denn das Berufungsgericht hat sie auf die Möglichkeit internen Schutzes nach Art. 8 der Richtlinie innerhalb der Russischen Föderation verwiesen. Das hält der revisionsgerichtlichen Prüfung stand.

Der Verwaltungsgerichtshof ist aufgrund seiner Beweiswürdigung zu der Überzeugung gelangt, dass für die Kläger jedenfalls in den drei tscherkessischen Titularrepubliken Kabardino-Balkarien, Adygeja und Karatschajewo-Tscherkessien keine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von Art. 8 der Richtlinie besteht. Dabei ist er zutreffend davon ausgegangen, dass dies im Falle einer Vorverfolgung unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie zu ermitteln ist. Er nimmt zwar an, dass die nach dieser Vorschrift bestehende Vermutung erneuter Verfolgung dann nicht widerlegt wäre, wenn nach dem Kläger zu 1 heute noch wegen seiner Teilnahme am Kampf der Tschetschenen gesucht würde, verneint dies aber aufgrund seiner tatrichterlichen Würdigung des klägerischen Vorbringens und der im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten, insbesondere von Prof. Dr. Luchterhandt vom 9. April 2007 (BA S. 32 ff.). Dabei legt er im Einzelnen dar, dass und aus welchen Gründen nach seiner Überzeugung die Tätigkeit des Klägers zu 1 bei den Rebellen den russischen Sicherheitsbehörden tatsächlich nicht bekannt geworden ist. Weder aus dem eigenen Vorbringen des Klägers zu 1 noch aus den sonstigen Umständen des Falles ergebe sich, dass russische Sicherheitskräfte von seiner Tätigkeit bei den Rebellen etwas erfahren haben könnten, zumal er nie festgenommen worden sei und unbehelligt nach Inguschetien gelangt sei. [...]

Die Revision rügt weiter, dass von den Klägern vernünftigerweise nicht erwartet werden könne, sich am Ort des internen Schutzes aufzuhalten (Art. 8 Abs. 1 Richtlinie 2004/83/EG). Dazu führen die Kläger aus, dass sie den für die Registrierung notwendigen Inlandspass nur erhalten könnten, wenn sie sich nach Tschetschenien begäben. Dies sei ihnen wegen der dort bestehenden Verfolgungsgefahr nicht zuzumuten. Auch diese Rüge greift nicht durch.

Das Vorbringen der Kläger wird durch die noch den Anforderungen genügenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht gestützt. Dieses hat aufgrund der eingeholten sachverständigen Stellungnahmen und Gutachten angenommen, dass sich die Kläger als Adyge in einer der drei genannten Titularrepubliken gegebenenfalls unter Mithilfe der dort ansässigen Adyge werden niederlassen können und sich als Mitglieder der dort grundsätzlich erwünschten Volksgruppe erfolgreich gegen bürokratische Hemmnisse hinsichtlich einer Registrierung werden zur Wehr setzen können (BA S. 31 f.). Dabei geht das Berufungsgericht ersichtlich davon aus, dass eine Registrierung - wie in dem erwähnten Gutachten von Prof. Dr. Luchterhand näher ausgeführt - letztlich auch ohne Inlandspass erreicht werden kann. Soweit die Revision meint, dass die Registrierung nicht ohne Inlandspass möglich sei, der nur in Tschetschenien beantragt werden könne, legt sie andere tatsächliche Voraussetzungen zugrunde, als sie das Berufungsgericht festgestellt hat, ohne entsprechende Verfahrensrügen zu erheben.

Am Ort des internen Schutzes muss unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände des Betroffenen jedenfalls das Existenzminimum gewährleistet sein (Urteil vom 29. Mai 2008 - BVerwG 10 C 11.07 - BVerwGE 131, 186 197 Rn. 35>). Dem trägt die angefochtene Entscheidung - wenn auch in knapper Form - Rechnung. Insoweit ist davon auszugehen, dass das Berufungsgericht bei seiner Annahme eines wirtschaftlichen Auskommens der Familie jedenfalls "auf einfachem Niveau" neben dem Gesichtspunkt der Unterstützung durch dort ansässige Adyge auch die Angaben im Tatbestand der Berufungsentscheidung über die Ausbildung der Kläger zu 1 und 2 (Wirtschaftsdiplom und Näherin) und ihre russischen und tscherkessischen Sprachkenntnisse berücksichtigt hat. [...]