VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 08.04.2010 - A 12 K 3445/09 - asyl.net: M16867
https://www.asyl.net/rsdb/M16867
Leitsatz:

Hinsichtlich des Beginns der Dublin-Überstellungsfrist ist im Falle der Beantragung gerichtlichen Eilrechtsschutzes zu unterscheiden, ob dem Eilantrag stattgegeben oder dieser abgelehnt wird. Im Falle der Stattgabe (Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einer Klage) beginnt die Überstellungsfrist nach Eintritt der Rechtskraft der Hauptsacheentscheidung, da während der Anhängigkeit des Hauptsacheverfahrens keine Aufenthaltsbeendigung möglich ist. Im Falle der Ablehnung eines Eilantrags ist hinsichtlich des Beginns der Überstellungsfrist auf den Zeitpunkt des Wirksamwerdens dieser Entscheidung abzustellen.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Griechenland, Selbsteintritt, Überstellungsfrist
Normen: AsylVfG § 34a, AsylVfG § 27a, VO 343/2003 Art. 20 Abs. 1 Bst. c, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2, VO 343/2003 Art. 16 Abs. 1 Bst. c, VO 343/2003 Art. 20 Abs. 2
Auszüge:

[...]

b) Inzwischen ist die Zuständigkeit aber auf die Bundesrepublik übergegangen (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 DIIVO). Denn die Überstellung des Klägers nach Griechenland wurde nicht innerhalb von sechs Monaten durchgeführt und Fristverlängerungen nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 DIIVO sind weder dargelegt noch erkennbar.

Die Sechsmonatsfrist nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 DIIVO ist erkennbar mit der Sechsmonatsfrist nach Art. 20 Abs. 1 d Satz 2 DIIVO identisch. Nach dieser Bestimmung beginnt diese Frist nicht etwa mit der Einreise des Asylbewerbers zu laufen, sondern entweder (1. Alternative) nach Annahme des Antrags auf Wiederaufnahme durch einen anderen Mitgliedstaat oder (2. Alternative) nach der Entscheidung über einen Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat.

aa) Es wird vertreten, da nach dem Asylverfahrensgesetz Rechtsbehelfe gegen Überstellungsentscheidungen keine aufschiebende Wirkung entfalteten (§ 34 a Abs. 2 AsylVfG), komme schon nach dem Wortlaut von Art. 20 Abs. 1 d Satz 2 DIIVO nur die Annahme der ersten Alternative in Betracht (so VG Neustadt/Weinstraße, Urt. v. 16.6.2009 - 5 K 1166/08.NW - <juris>; Hruschka in: Asylmagazin 3/2009, S. 6 ff.; Funke-Kaiser in: GK-AsylVfG, Stand Nov. 2009, § 27 a Rn. 272, 259). Dann hätte hier die Frist für die Überstellung des Klägers mit der - fingierten - Annahme Griechenlands des Antrags auf seine Wiederaufnahme zu laufen begonnen, mithin am 14.4.2009 und wäre daher schon lange abgelaufen.

bb) Richtigerweise wird man aber in Fällen wie dem des Klägers, in denen Gerichte im Einzelfall doch einen Rechtsbehelf nach § 80 Abs. 5 VwGO als zulässig ansehen, nur auf die zweite Alternative des Art. 20 Abs. 1 d Satz 2 DIIVO abstellen können, um den um Wiederaufnahme ersuchenden Staat nicht unangemessen gegenüber dem europarechtlich zur Wiederaufnahme verpflichteten Staat zu benachteiligen. Deswegen kann die sechsmonatige Überstellungsfrist im Falle des Klägers erst mit der "Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat", zu laufen begonnen haben.

(1) Das Bundesamt schließt aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 29.1.2009 (InfAuslR 2009, 139 - Petrosian -), immer dann, wenn einem Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung beigemessen werde, beginne die Überstellungsfrist nicht mit der Entscheidung über diesen Rechtsbehelf, sondern erst mit der Rechtskraft der Hauptsacheentscheidung zu laufen. Zwar mögen manche Passagen in der deutschen Übersetzung des genannten Urteils darauf hindeuten. Festzuhalten bleibt aber, dass der Europäische Gerichtshof eine andere Konstellation als die dem Fall des Klägers zugrundeliegende zu entscheiden hatte: Dass ein nationales Gericht dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes stattgegeben hatte. In einer solchen Konstellation scheint es aus Gerechtigkeitserwägungen zwingend, die Überstellungsfrist erst nach dem Eintritt der Rechtskraft der Hauptsache beginnen zu lassen, da ja während der Anhängigkeit des Hauptsacheverfahrens keine Aufenthaltsbeendigung möglich ist.

(2) Damit nicht vergleichbar ist der Fall des Klägers, in dem mit Beschluss vom 6.10.2009 die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt worden war. Ab diesem Zeitpunkt war nach nationalem Recht, ohne dass Europarecht entgegenstünde, eine Beendigung des Aufenthalts des Klägers möglich. Daher ist richtigerweise auf den Zeitpunkt des Wirksamwerdens dieser Entscheidung - hier am 7.10.2009 - abzustellen (so auch Funke-Kaiser, a.a.O., Rn. 259).

c) Die somit ab 8.4.2010 gegebene Änderung der Zuständigkeit für das Asylverfahren des Klägers begründet auch subjektive Rechte (vgl. Lehnert/Pelzer, ZAR 2010, 41 ff.; Funke-Kaiser, a.a.O., Rn. 274 und 263).