VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15.12.2009 - A 9 S 3262/08 - asyl.net: M16865
https://www.asyl.net/rsdb/M16865
Leitsatz:

1. Rücknahme und Widerruf im Asylrecht stehen in keinem gestuften Hierarchie- oder Abhängigkeitsverhältnis. Ein die Rücknahme aufhebendes Urteil sperrt nicht jede Anordnung, mit der im Ergebnis ebenfalls eine Aufhebung des Ausgangsbescheids verbunden ist (hier: Widerruf); eine unmittelbare Rechtskraftwirkung scheidet vorliegend mangels Identität des Streitgegenstandes aus.

2. Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung. Angesichts der jüngst wieder aufflammenden Anschläge und die hierauf erfolgenden staatlichen Aufklärungsmaßnahmen kann eine politisch motivierte Verfolgung des als Mitglied einer terroristischen Vereinigung in Frankreich verurteilten Klägers in Algerien gegenwärtig nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Der Kläger fällt nicht unter die Amnestieregelungen, welche zudem auch nach Auskunft des Auswärtigen Amtes aufgrund der Vieldeutigkeit der tatbestandlichen Bestimmungen und der nicht transparenten Entscheidungspraxis der algerischen Behörden Einzelallprognosen nicht ermöglichen.

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Die Entscheidung wurde aufgehoben und zurückverwiesen vom BVerwG, Urteil vom 1.6.2011 - 10 C 25.10 - asyl.net., M18819.

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Algerien, Rechtskraft, Rücknahme, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Amnestie, terroristische Vereinigung, Straftat, Frankreich
Normen: VwGO § 121, VwVfG § 48 Abs. 4, AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

Der Rechtsstreit betrifft die Zulässigkeit des Widerrufs einer Flüchtlingsanerkennung wegen veränderter Umstände im Herkunftsland. [...]

Die vom Verwaltungsgerichtshof zugelassene Berufung ist zulässig, insbesondere genügt die Bezugnahme auf das Vorbringen im Zulassungsverfahren noch den Anforderungen aus § 124a Abs. 6 Satz 3 VwGO (vgl. hierzu ausführlich VGH Bad.-Württ., Urteil vom 11.12.2008 - A 5 S 1251/06 -, InfAuslR 2009, 215). Die Berufung ist aber nicht begründet. Zwar steht die Rechtskraft des die Rücknahmeverfügung aufhebenden Urteils dem Widerruf nicht entgegen (1.), der verfügte Widerruf erweist sich indes als materiell fehlerhaft (2.).

1. Nach § 121 VwGO binden rechtskräftige Urteile, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Derselbe Streitgegenstand kann deshalb nicht erneut zum Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens gemacht werden. Der Rücknahmebescheid vom 01.06.2005 und die Widerrufsanordnung vom 21.12.2007 weisen jedoch keinen identischen Streitgegenstand auf. Dies folgt nicht nur aus der unterschiedlichen Rechtsform von Rücknahme und Widerruf und den entsprechenden Anträgen, sondern auch aus dem inhaltlichen Bezug der Verfügungen und dem damit erfassten Sachverhalt. Denn die Rücknahme war ausschließlich auf die Ausnahmetatbestände aus § 51 Abs. 3 AuslG/§ 60 Abs. 8 AufenthG gestützt, während der Widerruf die nachträgliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Heimatland des Klägers betrifft. Die Streitgegenstände sind damit offenkundig nicht identisch.

Soweit das Verwaltungsgericht insoweit ausführt, der Widerruf erweise sich im Ergebnis als eine die Rücknahmeentscheidung ersetzende Verfügung, geht dies fehl. Denn das die Rücknahme aufhebende Urteil des Verwaltungsgerichts sperrt nicht jede Anordnung, mit der im Ergebnis ebenfalls eine Aufhebung des Ausgangsbescheids vom 15.10.2002 verbunden ist. Eine derartig weite Erstreckung der Rechtskraftwirkung folgt weder aus dem geltenden Recht noch wäre sie im Hinblick auf den eingeschränkten Gegenstand des vorangegangen gerichtlichen Verfahrens sinnvoll. Aus der vom Verwaltungsgericht in Bezug genommenen Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG ergibt sich nichts anderes; vielmehr ist auch diese selbst vom Inhalt der Aufhebungsentscheidung und dem jeweiligen Zeitpunkt der Kenntniserlangung abhängig. Eine abschließende und anlassunabhängige Rechtssicherheit, wie vom Verwaltungsgericht offenbar angenommen, vermittelt § 48 Abs. 4 VwVfG nicht. Schließlich stützen auch die vom Verwaltungsgericht benannten Entscheidungen kein abweichendes Ergebnis. Sie betrafen Konstellationen, in denen die "ersetzenden" Bescheide materiell auf den selben Streitgegenstand gerichtet waren und nur aus verfahrensbezogenen Gründen erneute Bescheide ergingen, um vorangegangene Rechtsfehler zu beheben (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.12.1995 - 5 C 10/94 -, BVerwGE 100, 199; Urteil vom 05.08.1996 - 5 C 6/95 -, NWVBI 1997, 293). Bezogen auf die jeweiligen Sachgründe waren inweit aber die Voraussetzungen aus § 48 Abs. 4 VwVfG unmittelbar gegen. Ließe man hier eine rein formale Aufspaltung in unterschiedliche Verwaltungsvorgänge mit jeweils eigenem Fristlauf zu, wäre die Schutzwirkung der Jahresfrist in der Tat ausgehebelt. Eine derartige Fallgestaltung liegt im streitgegenständlichen Verfahren indes nicht vor, vielmehr nehmen die Verfügungen inhaltlich nicht auf denselben Sachverhalt Bezug.

Eine unmittelbare Rechtskrafterstreckung scheidet daher bereits mangels Identität des Streitgegenstandes aus. Dem Urteil des Verwaltungsgerichts vom 27.10.2006 kommt indes auch keine präjudizierende Bindungswirkung für das Widerrufsverfahren zu. Denn eine rechtskräftige Entscheidung zu den nunmehr maßgeblichen Fragen der Rückkehrsicherheit ist in ihm nicht enthalten; hiermit befasst sich die Entscheidung vielmehr nicht. Auf die Frage, ob im Hinblick auf die fortlaufende Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse nicht ohnehin eine nachträgliche und relevante Sachlageänderung angenommen werden müsste (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG; dazu auch BVerwG, Urteil vom 18.09.2001 - 1 C 7/01 -, BVerwGE 115, 118), kommt es daher nicht an.

Schließlich stehen Rücknahme und Widerruf im Asylrecht auch nicht in einem gestuften Hierarchie- oder Abhängigkeitsverhältnis. Es handelt sich vielmehr um jeweils eigenständige und unabhängige Verfahren. Ein Widerruf der Anerkennung als politischer Flüchtling nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG aufgrund geänderter Verhältnisse im Herkunftsstaat ist daher auch dann möglich, wenn die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG von Anfang an rechtswidrig war (vgl. BVerwG, Urteil vom 25.08.2004 - 1 C 22/03 -, NVwZ 5, 89).89).

2. Die Berufung des beklagten Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erst sich gleichwohl als unbegründet. Die Widerrufsvoraussetzungen des § 73Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind weder in dem angefochtenen Bescheid vom 21.12.2007 hinreichend dargelegt noch sonst ersichtlich.

a) Zu Recht ist das Bundesamt indes von einer gebundenen Entscheidung ausgegangen. Denn der Übergang zu einer Ermessensentscheidung nach § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG knüpft nicht nur an den bloßen Zeitablauf an, sondern setzt den durch eine "Negativentscheidung" geschaffenen Vertrauenstatbestand voraus. Hieran fehlt es vorliegend, so dass bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung nicht erfüllt sind. Die gemäß § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG obligatorische Überprüfung ist auch nicht pflichtwidrig unterblieben, denn die ab dem 01.01.2005 laufende Drei-Jahres-Frist für "Altfälle" war zum Zeitpunkt des streitgegenständlichen Widerrufs noch nicht abgelaufen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.03.2007 - 1 C 21.06 -, BVerwGE 128, 199 [207]).

b) Das Bundesamt ist aber bereits von einem unzutreffenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab für die anzustellende Prognose der Verfolgungsgefahr ausgegangen. [...]

Anknüpfungspunkt für die dem Kläger günstige Entscheidung des Bundesamts vom 15.10.2002, mit der die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich Algerien festgestellt worden sind, war das vor dem Tribunal de Grande Instance de Paris gegen ihn geführte Strafverfahren. Der Kläger sei in verschiedenen Artikeln überregionaler Zeitungen namentlich im Zusammenhang mit islamistischen und terroristischen Aktivitäten genannt worden. Es sei deshalb davon auszugehen, dass er ins Blickfeld algerischer Behörden geraten sei und der algerische Auslandsgeheimdienst den Prozessverlauf beobachtet habe. Nach den vorliegenden Erkenntnissen bestehe bei einer Rückkehr deshalb die beachtliche Gefahr von Folter und längerer Haft.

Auch die Erwägungen zur Rückkehrsicherheit im Widerrufsbescheid vom 21.12.2007 nehmen auf das in Frankreich geführte Strafverfahren Bezug; das Bundesamt hält die Situation in Algerien jedoch aufgrund der im Gefolge der am 29.09.2005 per Referendum angenommenen Charta für Frieden und Nationale Aussöhnung verfügten Amnestie- und Straferlassregelungen für verändert. Die innere Verknüpfung mit der im Anerkennungsbescheid vom 15.10.2002 maßgeblich betonten Verurteilung ist somit durch die Bezugnahme auf Amnestie- und Straferlassregelungen offenkundig; sie wird auch durch weitergehende Erwägungen zur (nicht zu besorgenden) Doppelbestrafung untermauert. Betrachtungsgegenstand ist mithin nicht eine "gänzlich neue und andersartige Verfolgung, die in keinem inneren Zusammenhang mit der früheren mehr steht" (BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15/05 -, BVerwGE 126, 243 [253]), sondern das Risiko einer fortbestehenden Verfolgung, die sich als Realisierung der im Anerkennungsbescheid als beachtlich eingestuften Verfolgungsgefahr erweisen würde. Mit der Bezugnahme auf eine "beachtliche Wahrscheinlichkeit" hat das Bundesamt in dem angegriffenen Widerrufsbescheid (vgl. dort S. 4) deshalb den zutreffenden Maßstab verkannt.

c) Unabhängig hiervon lassen die vorhandenen Erkenntnisse den Schluss auf eine hinreichende Rückkehrsicherheit des Klägers nicht zu, so dass die Voraussetzungen der nach § 73 Abs. 1 AsylVfG gebundenen Entscheidung auch nicht durch das erkennende Gericht festgestellt werden können.

Soweit sich das Bundesamt auf die Straferlassregelungen in der zur Umsetzung der Charta für Frieden und Nationale Aussöhnung erlassenen Verordnung 06-01 vom 27.02.2006 beruft, folgt dies zunächst schon daraus, dass der Kläger nicht in deren Anwendungsbereich fällt. Denn die Amnestieregelungen gelten nach dem Wortlaut der Vorschriften nur für diejenigen Personen, die sich den Behörden bis Ende August 2006 gestellt haben. Zwar wird eine weitere Anwendung im Einzelfall durch das Auswärtige Amt bestätigt (vgl. Lagebericht vom 15.04.2009, S. 10); hieraus kann aber nicht mit hinreichender Sicherheit geschlossen werden, dass dies auch im Falle des Klägers so wäre.

Dies gilt um so mehr, als Unklarheiten nicht nur in Bezug auf die zeitliche Geltung, sondern insbesondere auch hinsichtlich des personellen Anwendungsbereichs bestehen. Denn ein Strafverfahren auf Grundlage des algerischen Strafgesetzes im Sinne von Art. 2 der Verordnung 06-01 liegt der Verurteilung des Klägers nicht zu Grunde. Unsicher ist vor allem aber auch, ob die in Frankreich abgeurteilten Taten - deren Gegenstand und Umfang mangels Vorliegen des Urteils im Einzelnen nicht festgestellt werden können (vgl. zum Fehlen der erforderlichen Tatsachenfeststellung hinsichtlich der dem Kläger zur Last gelegten Taten auch bereits VG Karlsruhe, Urteil vom 14.09.2007 - 6 K 1603/05 -) - dem Ausnahmekatalog aus Art. 10 der Verordnung 06-01 zuzuordnen sind. Ob insoweit bereits die Vorbereitung für Sprengstoffanschläge auf öffentliche Orte zum Vergünstigungsausschluss führen, lässt sich den vorhandenen Erkenntnisquellen nicht mit Sicherheit entnehmen (vgl. zum Ausschluss auch bereits bei Vorbereitungshandlungen etwa die vom Bundesamt im August 2006 herausgegebene Broschüre "Die Amnestieverordnung vom 27.02.2006", S. 11). Auch das Auswärtige Amt führt zu den Ausschlussklauseln aus, dass aufgrund der Vieldeutigkeit der tatbestandlichen Bestimmungen und der nicht transparenten Entscheidungspraxis der algerischen Behörden Einzelfallprognosen nicht möglich sind (Lagebericht vom 15.04.2009, S. 10).

Ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Amnestieregelungen - deren unmittelbare Anwendbarkeit für den Kläger jedenfalls nicht hinreichend sicher erscheint - zu einer allgemeinen Liberalisierung geführt hätten, sind angesichts der weiterhin bestehenden Repressionsstrukturen und dem nur teilweisen Erfolg der Aussöhnungspolitik (vgl. dazu Lagebericht vom 15.04.2009, S. 5) nicht vorhanden. Vielmehr bestätigt auch das Auswärtige Amt "ernstzunehmende Hinweise" auf Übergriffe und Folter durch die algerischen Sicherheitsbehörden und Polizeikräfte (vgl. dazu Lagebericht vom 15.04.2009, S. 5 und 21). Die Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger im Falle der Abschiebung jedenfalls vorübergehend in Polizeigewahrsam genommen würde, muss aber als beachtlich eingestuft werden (vgl. dazu Lagebericht vom 15.04.2009, S. 25). Denn angesichts der medienwirksamen Verurteilung ist er den algerischen Behörden namentlich bekannt (vgl. Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 31.05.2007, S. 2) und in das Umfeld terroristischer Aktivitäten gestellt. Dass insoweit jedenfalls hinsichtlich etwaiger Straftaten und dem Anwendungsbereich der Amnestieregelungen, möglicherweise aber auch in Bezug auf weitere Hintergründe und Namen, intensive Nachfragen erfolgen würden, erscheint nicht fernliegend. Die vom Bundesamt angestellte Erwägung, dass angesichts des vorhandenen Strafurteils kein Anlass zu weiteren Ermittlungen durch algerische Behörden bestehe, ist schon deshalb spekulativ, weil das Urteil dem Bundesamt nicht vorliegt und dessen Inhalt daher nicht beurteilt werden kann. Die Einschätzung erscheint indes auch unabhängig hiervon fern liegend.

Jedenfalls im Hinblick auf die jüngst wieder aufflammenden Anschläge und die hierauf erfolgenden staatlichen Aufklärungsmaßnahmen kann eine politisch motivierte Verfolgung des als Mitglied einer terroristischen Vereinigung verurteilten Klägers gegenwärtig nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, so dass die Feststellung eines Abschiebungshindernisse nicht zu widerrufen ist. [...]