VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Beschluss vom 29.03.2010 - 14 L 312/10.A - asyl.net: M16849
https://www.asyl.net/rsdb/M16849
Leitsatz:

Vorbeugender Eilrechtsschutz gegen eine Dublin-Überstellung nach Griechenland.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Griechenland, Ermessen, subjektives Recht, Selbsteintritt
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 2, AsylVfG § 27a, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2, GG Art. 2 Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

Der statthafte Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO ist auch im Übrigen zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Dem steht nicht entgegen, dass gem. § 34 a Abs. 2 AsylVfG die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat (§ 26 a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27 a AsylVfG) nach § 34 a Abs. 1 AsylVfG nicht im Wege einstweiligen Rechtsschutzes (§ 80 oder § 123 VwGO) ausgesetzt werden darf. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 34 a Abs. 2 AsylVfG sind zwar gegeben. Die Antragsgegnerin sieht den im Bundesgebiet gestellten Asylantrag der Antragstellerin nach § 27 a AsylVfG als unzulässig an, weil auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft - hier der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 (ABl. L 50/1 vom 25.02.2003), sog. Dublin II-VO - ein anderer Staat, nämlich Griechenland, für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei. Die Antragstellerin soll deshalb nach Griechenland abgeschoben werden. Die Antragsgegnerin sieht ihr an Griechenland gerichtetes Übernahmeersuchen gem. Art 18 Abs. 7 Dublin-II-VO als angenommen an, weil ihr Übernahmeersuchen innerhalb der in Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO bezeichneten Frist nicht von den griechischen Behörden beantwortet wurde.

Es spricht Überwiegendes dafür, dass die Vorschrift des § 34 a Abs. 2 AsylVfG auch im Hinblick auf die Fälle des § 27 a AsylVfG in entsprechender Anwendung der zur Drittstaatenregelung des § 26 a AsylVfG ergangenen Rechtsprechung des BVerfG (vgl. BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 - 2 BvR 1938, 2315/93 -, BVerfGE 94, 49) verfassungskonform dahingehend auszulegen ist, dass sie entgegen ihrem Wortlaut die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes im Zusammenhang mit geplanten Abschiebungen in durch § 34 a Abs. 1 AsylVfG bezeichnete Staaten, namentlich solcher Abschiebungen, die auf der Grundlage der Dublin II-VO ergehen, nicht generell verbietet. Eine gerichtliche Prüfung, ob der Abschiebung in einen nach europäischem Recht oder Völkerrecht für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstehen, kann der Ausländer in Fortführung der in dem Urteil des BVerfG vom 14.05.1996 (a.a.O.) aufgestellten Grundsätze dann erreichen, wenn ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die flüchtlingsrechtlichen Gewährleistungen und die Verfahrenspraxis in dem anderen Staat i.S.v § 27 a AsylVfG nicht an den Standard heranreichen, den der nationale Gesetzgeber bei Einfügung des § 27 a AsylVfG mit Wirkung vom 28.08.2007 vor dem Hintergrund der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben der Richtlinie (Richtlinie des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatenangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. vom 30.09.2004, L 304/12 - nachfolgend: RL 2004/83/EG, sog. Qualifikationsrichtlinie -) bei dem EG-Mitgliedstaat, der nach der Dublin-VO zuständig ist, als gegeben vorausgesetzt hat und - nach Ablauf der Umsetzungsfrist der Qualifikationsrichtlinie am 10.10.2006 (vgl. deren Art. 38 Abs. 1) voraussetzen durfte.

Solche ernst zu nehmenden Anhaltspunkte liegen im Falle Griechenlands vor. Die Antragsgegnerin geht selbst davon aus, dass es in Griechenland Defizite bei der Bereitstellung ausreichender Unterbringungskapazitäten für Flüchtlinge gibt, und zwar gerade auch im Hinblick auf die Unterbringung von sog. Dublin-Rückkehrern. Den festgestellten Kapazitätsengpässen trägt die Ermessenspraxis der Antragsgegnerin bislang - lediglich - dadurch Rechnung, dass bei besonders schutzwürdigen Personen von Überstellungen nach Griechenland im Zweifel abgesehen und von dem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch gemacht wird. Das gilt insbesondere für Flüchtlinge hohen Alters, für minderjährige Flüchtlinge sowie für Flüchtlinge, bei denen eine Schwangerschaft, ernsthafte Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder besondere Hilfebedürftigkeit vorliegt. Im Übrigen hat der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), dessen Stellungnahmen nach Erwägungsgrund 15 der Qualifikationsrichtlinie ein besonderes Gewicht zukommt, in mehreren Memoranden Rechtsgrundlagen und Praxis griechischer Asylverfahren als unzureichend kritisiert. Zuletzt hat er am 17. Juli 2009 erklärt, sich zukünftig nicht mehr an Asylverfahren in Griechenland zu beteiligen, solange nicht durch strukturelle Änderungen faire und effiziente Asylverfahren garantiert seien. Zur Begründung hat er ausgeführt, er stelle mit großer Sorge fest, dass die durch den neuen Präsidialerlass Nr. 81/2009 vom 30. Juni 2009 mit Wirkung ab dem 20. Juli 2009 eingeführten strukturellen Änderungen die vom internationalen und europäischen Recht geforderte Fairness und Effizienz des Asylverfahrens in Griechenland nicht ausreichend garantierten. Insbesondere sei das - gemeinschaftsrechtlich gebotene - Recht auf effektiven Rechtsschutz nicht gewährleistet. Unter Berufung auf "ernst zu nehmende Quellen" haben in jüngerer Zeit sowohl das BVerfG (Beschluss vom 08.09.2009 - 2 BvQ 56/09 -, juris; Beschluss vom 22.12.2009 - 2 BvR 2879/09 -, juris und Beschluss vom 25.02.2010 - 2 BvR 2015/09 -) als auch das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Beschluss vom 07.10.2009 - 8 B 1433/09.A -, juris) in vergleichbaren Fällen die Abschiebung der jeweiligen Antragsteller nach Griechenland mit Blick auf die dortige Situation Asylsuchender ausgesetzt.

Diese Erwägungen rechtfertigen nicht nur eine verfassungskonforme Auslegung des § 34 a Abs. 2 AsylVfG. Die tatsächliche Situation Asylsuchender in Griechenland begründet auch den Anordnungsanspruch der Antragstellerin. Die Antragstellerin hat einen Anspruch, dass die Antragsgegnerin von der ihr in Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO eingeräumten Möglichkeit des Selbsteintritts ermessensfehlerfrei Gebrauch macht. Als unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht bildet die Dublin II-VO eine geeignete Grundlage für die Begründung subjektiver Rechte. Es spricht Überwiegendes dafür, dass Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO für Ausländer jedenfalls dann ein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts begründet, wenn die Entscheidung - wie hier im Hinblick auf den unzureichenden Zugang zum Asylverfahren und die mangelhafte Sicherstellung des Lebensunterhaltes im nach der Dublin II-VO zuständigen Mitgliedstaat - durch nationales Verfassungsrecht, namentlich durch die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Schutzpflichten geprägt wird. [...]