BlueSky

EuGH

Merkliste
Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 21.01.2010 - Kommission/Deutschland, C-546/07 - asyl.net: M16833
https://www.asyl.net/rsdb/M16833
Leitsatz:

Durch die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 der deutsch-polnischen Vereinbarung über die Entsendung von Arbeitnehmern polnischer Unternehmen zur Ausführung von Werkverträgen (1990) in der deutschen Verwaltungspraxis wird eine unmittelbare Diskriminierung unter Verstoß gegen Art. 49 EG begründet. Denn danach können nur Unternehmen, die ihren Sitz oder eine feste Niederlassung in Deutschland haben, Werkverträge mit polnischen Unternehmen abschließen und damit bei der Erbringung von Dienstleistungen in Deutschland ungeachtet der in der Beitrittsakte enthaltenen Übergangsbestimmungen von der Quote für polnische Arbeitnehmer profitieren, die nach der deutsch-polnischen Vereinbarung garantiert wird.

Die in dem Merkblatt 16a der Bundesagentur für Arbeit enthaltene Arbeitsmarktschutzklausel verstößt hingegen in der Art der Anwendung durch die deutschen Verwaltungsbehörden nicht gegen die Stillhalteklausel der Beitrittsakte, da es seit dem 16.4.2003 weder zu einer Verschlechterung der Rechtslage noch zu einer nachteiligen Änderung der Verwaltungspraxis gekommen ist, sondern lediglich eine geänderte faktische Arbeitsmarktlage vorliegt.

Schlagwörter: Vertragsverletzungsverfahren, Bundesrepublik Deutschland, EU-Kommission, Polen, Dienstleistung, Werkvertrag, Stillhalteklausel, Vertrauensschutz, deutsch-polnische Vereinbarung, Dienstleistungsfreiheit, Diskriminierungsverbot, internationales Abkommen, Gemeinschaftsrecht, Unionsrecht, Arbeitsmarktschutzklausel, Beitrittsvertrag, Bundesagentur für Arbeit
Normen: EG Art. 226, EG Art. 49, EG Art. 307, EG Art. 46
Auszüge:

[...]

39 Nach ständiger Rechtsprechung setzt der freie Dienstleistungsverkehr insbesondere die Beseitigung jeder Diskriminierung gegenüber dem Dienstleistenden aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder des Umstands voraus, dass er in einem anderen als dem Mitgliedstaat niedergelassen ist, in dem die Dienstleistung zu erbringen ist (vgl. u.a. Urteil vom 18. Juli 2007, Kommission/Deutschland, Randnr. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Bedingung, wonach ein Unternehmen in dem Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistung erbracht wird, eine feste Niederlassung oder ein Tochterunternehmen gründen muss, läuft dem freien Dienstleistungsverkehr direkt zuwider, da sie die Erbringung von Dienstleistungen in diesem Mitgliedstaat durch in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Unternehmen unmöglich macht (vgl. in diesem Sinne u.a. Urteile vom 4. Dezember 1986, Kommission/Deutschland, 205/84, Slg. 1986, 3755, Randnr. 52, vom 7. Februar 2002, Kommission/Italien, C-279/00, Slg. 2002, I-1425, Randnr. 17, und vom 11. März 2004, Kommission/Frankreich, C-496/01, Slg. 2004, I-2351, Randnr. 65).

40 Hierzu ist festzustellen, dass Art. 1 Abs. 1 der deutsch-polnischen Vereinbarung, wie er in der deutschen Verwaltungspraxis ausgelegt wird, gegenüber Dienstleistungserbringern, die in anderen Mitgliedstaaten als der Bundesrepublik Deutschland niedergelassen sind und die einen Werkvertrag mit einem polnischen Unternehmen abschließen wollen, um Dienstleistungen in Deutschland zu erbringen, eine unmittelbare Diskriminierung begründet, die gegen Art. 49 EG verstößt.

41 Denn nach der Auslegung dieser Vorschrift in der deutschen Verwaltungspraxis können nur Unternehmen, die ihren Sitz oder eine feste Niederlassung in Deutschland haben, Werkverträge mit polnischen Unternehmen abschließen und damit bei der Erbringung von Dienstleistungen in Deutschland ungeachtet der in der Beitrittsakte enthaltenen Übergangsbestimmungen von der Quote für polnische Arbeitnehmer profitieren, die nach der deutsch-polnischen Vereinbarung garantiert wird.

42 Soweit die Bundesrepublik Deutschland vorträgt, die streitige Verwaltungspraxis sei gerechtfertigt, weil es sich um eine in einem internationalen bilateralen Abkommen enthaltene Bestimmung handele, ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Vereinbarungen, die sie aufgrund von internationalen Abkommen eingegangen sind, unabhängig davon, ob es sich um ein Abkommen zwischen Mitgliedstaaten oder zwischen einem Mitgliedstaat und einem oder mehreren Drittstaaten handelt, vorbehaltlich des Art. 307 EG ihre Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht beachten müssen (vgl. u.a. Urteil Gottardo, Randnr. 33). [...]

47 Im Übrigen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass Bestimmungen wie die in Rede stehenden Vorschriften der deutsch-polnischen Vereinbarung mit dem Gemeinschaftsrecht nur dann vereinbar sind, wenn sie unter eine ausdrückliche Ausnahmebestimmung fallen, wie z. B. Art. 46 EG, auf den Art. 55 EG verweist (vgl. u.a. Urteil vom 18. Juli 2007, Kommission/Deutschland, Randnr. 86).

48 Nach Art. 46 EG, der eng auszulegen ist, können diskriminierende Vorschriften aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sein (vgl. u. a. Urteil vom 18. Juli 2007, Kommission/Deutschland, Randnr. 86).

49 Ein derartiger Rechtfertigungsgrund setzt jedoch voraus, dass eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. in diesem Sinne u.a. Urteile vom 29. Oktober 1998, Kommission/Spanien, C-114/97, Slg. 1998, I-6717, Randnr. 46, und vom 1. Oktober 2009, Woningstichting Sint Servatius, C-567/07, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 28).

50 Zur Rechtfertigung des Verbots der Entsendung polnischer Arbeitnehmer im Rahmen von Werkverträgen mit Unternehmen, die weder ihren Sitz noch eine feste Niederlassung in Deutschland haben, beruft sich die Bundesrepublik Deutschland insbesondere auf die Notwendigkeit, eine wirksame Kontrolle der ordnungsgemäßen Anwendung der deutsch-polnischen Vereinbarung zu gewährleisten, die gegenüber in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Unternehmen nur unter Aufbringung übermäßiger zusätzlicher Verwaltungskosten sichergestellt werden könne, sowie auf Probleme, die möglicherweise im Zusammenhang mit der Beitreibung sozialversicherungsrechtlicher Forderungen gegenüber Unternehmen, die nach den deutschen Regelungen für die Zahlung der diesen Forderungen entsprechenden Beträge hafteten, entstehen könnten, wenn diese Unternehmen nicht über eine feste Niederlassung in Deutschland verfügten.

51 Damit hat die Bundesrepublik Deutschland keine überzeugenden Gesichtspunkte geltend gemacht, die unter einen der in Art. 46 EG genannten Gründe fallen könnten, da wirtschaftliche Erwägungen und schlichte praktische Schwierigkeiten bei der Durchführung der deutsch-polnischen Vereinbarung Beschränkungen einer Grundfreiheit jedenfalls nicht rechtfertigen können (vgl. entsprechend u.a. Urteil vom 26. Januar 1999, Terhoeve, C-18/95, Slg. 1999, I-345, Randnr. 45) und erst recht nicht eine Abweichung gemäß Art. 46 EG, die eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, voraussetzt.

52 Hinsichtlich der behaupteten Gefahr einer Umgehung der für die Bundesrepublik günstigen Übergangsvorschriften, die in die Beitrittsakte aufgenommen wurden, um schwerwiegende Störungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu verhindern, genügt schließlich der Hinweis, dass die Erstreckung des Rechts, Werkverträge mit polnischen Unternehmen abzuschließen, auf in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Unternehmen, um diesen zu ermöglichen, in den Genuss der nach Art. 2 Abs. 5 der deutsch-polnischen Vereinbarung festgelegten Quote für polnische Arbeitnehmer zu kommen, keine derartigen Auswirkungen haben kann, da die Zahl der polnischen Arbeitnehmern gewährten Arbeitserlaubnisse jedenfalls nicht durch eine solche Erstreckung zugunsten von in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Unternehmen verändert wird.

53 Unter diesen Umständen ist der ersten Rüge stattzugeben. [...]

60 Nach der im Merkblatt 16a enthaltenen Arbeitsmarktschutzklausel, die seit 1993 unstreitig nicht geändert worden ist, sind Werkverträge mit ausländischen Arbeitnehmern grundsätzlich nicht zugelassen, soweit sie in einem Bezirk der Agentur für Arbeit durchgeführt werden sollen, in dem die Arbeitslosenquote im Durchschnitt der letzten sechs Monate mindestens um 30 % über der Arbeitslosenquote der Bundesrepublik Deutschland gelegen hat. Die Zusammenstellung der Bezirke, die unter diese Regelung fallen, wird vierteljährlich aktualisiert.

61 Wie die Bundesrepublik Deutschland zu Recht ausgeführt hat, ist der Gerichtshof mit der vorliegenden Rüge nicht aufgefordert, zu prüfen, ob diese Klausel und ihre Anwendung durch die deutschen Verwaltungsbehörden eine ordnungsgemäße Umsetzung des Art. 2 Abs. 5 der deutsch-polnischen Vereinbarung darstellen, sondern ob die Klausel so, wie sie von den deutschen Verwaltungsbehörden angewandt wird, gegen die Stillhalteklausel verstößt, wie dies von der Kommission geltend gemacht wird.

62 Kapitel 2 Nr. 13 des Anhangs XII der Beitrittsakte erlaubt der Bundesrepublik Deutschland, von Art. 49 Abs. 1 EG abzuweichen, um im Bereich der Erbringung von Dienstleistungen durch in Polen niedergelassene Unternehmen die zeitweilige grenzüberschreitende Beschäftigung von Arbeitnehmern einzuschränken, deren Recht, in Deutschland eine Arbeit aufzunehmen, nationalen Maßnahmen unterliegt. Diese Abweichung soll es der Bundesrepublik Deutschland ermöglichen, tatsächlichen oder drohenden schwerwiegenden Störungen in bestimmten empfindlichen Dienstleistungssektoren auf ihrem Arbeitsmarkt zu begegnen, die sich in bestimmten Gebieten aus der länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen ergeben könnten, solange sie gemäß den Übergangsbestimmungen nationale Maßnahmen oder Maßnahmen aufgrund von bilateralen Vereinbarungen über die Freizügigkeit polnischer Arbeitnehmer anwendet.

63 Darüber hinaus enthält diese Nr. 13 eine Stillhalteklausel, nach der die Anwendung dieser Bestimmung nicht zu Bedingungen für die zeitweilige Freizügigkeit von Arbeitnehmern im Rahmen der länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen zwischen Deutschland und Polen führen darf, die restriktiver sind als die zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags geltenden Bedingungen.

64 Entgegen der von der Kommission vertretenen These begründet der Umstand, dass nach diesem Zeitpunkt weitere Bezirke neu in die Liste der Bezirke aufgenommen wurden, in denen Werkverträge nach der deutsch-polnischen Vereinbarung nicht zugelassen werden, keinen Verstoß gegen die Stillhalteklausel.

65 Nach dieser Klausel dürfen nämlich keine "Bedingungen, die restriktiver sind" als die zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags geltenden Bedingungen, geschaffen werden. Dies ist jedoch offensichtlich nicht der Fall, wenn die Verringerung der Zahl der polnischen Arbeitnehmer, die im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen in Deutschland entsendet werden können, lediglich die Folge davon ist, dass eine Klausel, deren Wortlaut identisch geblieben ist, nach diesem Zeitpunkt auf eine geänderte faktische Lage auf dem Arbeitsmarkt angewandt wurde. Wie die Bundesrepublik Deutschland zutreffend ausgeführt hat, hat die vierteljährlich aktualisierte Liste der Bezirke, die unter das auf der Arbeitsmarktschutzklausel des Merkblatts 16a beruhende Verbot fallen, in diesem Zusammenhang rein deklaratorischen Charakter, und es ist weder zu einer Verschlechterung der Rechtslage noch zu einer nachteiligen Änderung der Verwaltungspraxis gekommen.

66 Diese Auslegung wird durch den Zweck derartiger Stillhalteklauseln bestätigt, der darin besteht, einen Mitgliedstaat daran zu hindern, neue Maßnahmen zu erlassen, die bezwecken oder bewirken, dass restriktivere Bedingungen geschaffen werden als die Bedingungen, die vor dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens dieser Klauseln galten (vgl. in diesem Sinne Urteile Savas, Randnr. 69, und vom 17. September 2009, Sahin, C-242/06, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 63).

67 Daher ist die zweite Rüge als unbegründet zurückzuweisen.

68 Nach alledem ist festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 49 EG verstoßen hat, dass sie in ihrer Verwaltungspraxis den Begriff "Unternehmen der anderen Seite" in Art. 1 Abs. 1 der deutsch-polnischen Vereinbarung als "deutsches Unternehmen" auslegt. [...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1. Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 49 EG verstoßen, dass sie in ihrer Verwaltungspraxis den Begriff "Unternehmen der anderen Seite" in Art. 1 Abs. 1 der Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Polen vom 31. Januar 1990 über die Entsendung von Arbeitnehmern polnischer Unternehmen zur Ausführung von Werkverträgen in der am 1. März und am 30. April 1993 geänderten Fassung als "deutsches Unternehmen" auslegt. [...]