LSG Hessen

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Zitieren als:
LSG Hessen, Urteil vom 23.09.2009 - L 4 SB 57/08 - asyl.net: M16823
https://www.asyl.net/rsdb/M16823
Leitsatz:

Anspruch auf Schwerbehindertenausweis für einen Geduldeten, da er sich nicht nur vorübergehend in Deutschland aufhält und im Bundesgebiet somit seinen gewöhnlichen rechtmäßigen Aufenthalt im Sinne von § 2 Abs. 2 SGB IX hat.

Schlagwörter: Schwerbehindertenausweis, Sozialrecht, Grad der Behinderung, SGB IX, gewöhnlicher Aufenthalt, Duldung, rechtmäßiger Aufenthalt
Normen: SGB IX § 2 Abs. 2, SGB IX § 69 Abs. 5, SGB IX § 73, AufenthG § 60a, SGB I § 30 Abs. 3 S. 2
Auszüge:

[...]

Zu Recht hat das Sozialgericht den Beklagten mit Urteil vom 15. Oktober 2008 zur Feststellung eines GdB von 50 beim Kläger verurteilt und den Bescheid vom 1. August 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. August 2006 aufgehoben.

Streitgegenstand ist neben der Feststellung einer Behinderung und des GdB auch die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft gem. § 2 Abs. 2 SGB IX. [...]

Dabei kann im Ergebnis offen bleiben, ob zwischen der Feststellung der Behinderung und des Grades der Behinderung gem. § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX und der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft differenziert werden muss, weil nur letztere an die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 SGB IX geknüpft ist (BSG, Urteil vom 5. Juli 2007- B 9/9a SB 2/07 R - BSGE 99, 9ff; zitiert nach juris RdNr. 21). Nach Auffassung des BSG (vgl. Vergleichsvorschlag vom 27. Februar 2002 - B 9 SB 8/01 R - Breith. 2003, 71, 77) erfordert die Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft - neben einem GdB von wenigstens 50 - dass behinderte Menschen ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 73 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich des SGB IX haben. Die Feststellung eines GdB von wenigstens 50 ist danach nicht mit der Schwerbehinderteneigenschaft gleichzusetzen, sondern stellt sich als Tatbestandsmerkmal derselben dar. Die weiteren Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 SGB IX müssen nach Auffassung des BSG im Rahmen der Anwendung des § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX bereits nach dessen Wortlaut nicht beachtet werden, so dass nicht der Feststellungsanspruch, sondern lediglich der in § 69 Abs. 5 SGB IX geregelte Anspruch auf Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises nebst eventueller Eintragung von Merkzeichen an den Nachweis des Tatbestandes des § 2 Abs. 2 SGB IX gebunden sein soll. [...]

Auch wenn man mit dem BSG zwischen der Feststellung der Behinderung und des Grades der Behinderung gem. § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX einerseits und der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft andererseits differenziert und für letztere einen rechtmäßigen Aufenthalt i.S.v. § 2 Abs. 2 SGB IX verlangt, hat der Kläger nach Auffassung des Senats auch Anspruch auf die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft und die Ausstellung eines Ausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX i.V.m. der Schwerbehindertenausweisverordnung (in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Juli 1991, BGBl. I, S. 1739, zuletzt geändert durch Art. 20 Abs. 8 Gesetz zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13. Dezember 2007, BGBl. I, S. 2904). Zur Überzeugung des Senats steht nämlich die ausländerrechtliche Duldung (§ 60 a AufenthG) des Klägers im Geltungsbereich des SGB IX einem gewöhnlichen rechtmäßigen Aufenthalt i.S.v. § 2 Abs. 2 SGB IX nicht entgegen.

Für den Bereich des im SGB geregelten Sozialrechts hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt (§ 30 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I). Wegen des Vorbehalts abweichender Regelungen und der unterschiedlichen Funktion des Begriffs innerhalb einzelner Regelungsbereiche geht das BSG allerdings davon aus, dass der Begriff des "gewöhnlichen Aufenthalts" nur hinreichend unter Berücksichtigung des Zwecks jeweils des Gesetzes bestimmt werden kann, in welchem der Begriff gebraucht wird (BSG, Urteil vom 1. September 1999 - B 9 SB 1/99 R - BSGE 84, 253 ff, zitiert nach juris RdNr. 10). Danach reicht es im Schwerbehindertenrecht für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts aus, dass der behinderte Mensch den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen im Geltungsbereich des Gesetzes hat und er sich in Deutschland bis auf weiteres - d.h. nicht nur vorübergehend - i.S. eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält. Ein nicht nur vorübergehendes Verweilen nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I setzt zwar regelmäßig eine ausländerrechtliche Aufenthaltsposition voraus, die einen Aufenthalt auf unbestimmte Zeit möglich macht. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung wird ein nicht nur vorübergehendes Verweilen bei Asylbewerbern wie bei geduldeten Ausländern trotz des vorübergehenden Zwecks der Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylVfG und der Duldung nach § 56 AuslG angenommen, wenn andere Umstände ergeben, dass sie sich auf unbestimmte Zeit in Deutschland aufhalten werden (BSG a.a.O. RdNr. 11). Wegen der Aufgabenstellung des Schwerbehindertenrechts, behinderte Menschen gesellschaftlich zu integrieren, die nur durch unverzügliche, umfassende und dauernde Maßnahmen bewältigt werden können, ist – abweichend vom Ausländerrecht – ein "rechtmäßiger" gewöhnlicher Aufenthalt nach dieser Rechtsprechung nicht erst dann gegeben, wenn die Ausländerbehörde eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt hat. Vielmehr ist danach der jahrelang geduldete Aufenthalt eines Ausländers, dessen Abschiebung nicht abzusehen ist und bei dem die Rechtsvoraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis vorliegen, funktionell gleichzustellen (BSG a.a.O. RdNr. 15 ff, 19). Dabei stellt das BSG auf das Vorliegen der Voraussetzung nach der - zwischenzeitlich außer Kraft getretenen - Vorschrift des § 30 Abs. 3 AuslG ab.

Diese Klarstellung der Rechtsprechung des BSG zum SchwbG bleibt auch nach der Eingliederung des Schwerbehindertenrechts in das SGB IX gültig, nachdem selbst die Gesetzesmaterialien zum SGB IX darauf abstellen, dass der gewöhnliche Aufenthalt im Sinne von § 2 Abs. 2 SGB IX auch bei Asylbewerbern und geduldeten Ausländern vorliegt, wenn besondere Umstände ergeben, dass sie sich auf unbestimmte Zeit in Deutschland aufhalten werden (BT-Drucks. 14/5074 S. 99 zu § 2). [...]

Unter Berücksichtigung der bereits dargestellten Ziele des Schwerbehindertenrechts, die unter Geltung des SGB IX unverändert Gültigkeit haben (vgl. allein § 1 SGB IX), wäre es mit dem Grundgesetz unvereinbar, wenn eine bestimmte Gruppe auf unabsehbare Zeit in Deutschland lebender ausländischer behinderter Menschen wegen ihrer fremden Staatsangehörigkeit auf Dauer von dem Ausgleich von Nachteilen ausgeschlossen würde (vgl. BSG a.a.O. RdNr. 16). Deshalb steht in Anlehnung an die bisherige Rechtsprechung des BSG nach Auffassung des Senats jedenfalls in Fällen, in denen die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG noch nicht bestandskräftig versagt wurde, abweichend vom AufenthG von eine Duldung der Annahme eines "rechtmäßigen" Aufenthalts im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB IX nicht entgegen, ohne dass die Versorgungsverwaltung oder die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit die Voraussetzungen der aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen zu prüfen hätten.

Selbst wenn jedoch die Voraussetzungen von § 25 Abs. 5 AufenthG - entgegen der Auffassung des Senats - zu prüfen wären, ist der Aufenthaltsstatus des Klägers dem gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von § 2 Abs. 2 SGB IX gleichzustellen, denn sie liegen zur Überzeugung des Senats im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor. [...]