VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Urteil vom 19.01.2010 - 7 K 146/09 A - asyl.net: M16812
https://www.asyl.net/rsdb/M16812
Leitsatz:

Keine Gruppenverfolgung syrisch-orthodoxer Christen in der Türkei. Gerichtliche Bestätigung der Ablehnung des Asylantrags als "offensichtlich unbegründet".

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Türkei, offensichtlich unbegründet, Christen (syrisch-orthodoxe), Gruppenverfolgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 30 Abs. 3, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Das Gericht stellt fest, dass es der Begründung des Bundesamtes im angegriffenen Bescheid vom 2. Februar 2009 vollumfänglich folgt, und sieht daher von einer bloß wiederholenden Darstellung der Entscheidungsgründe ab. Die Inbezugnahme umfasst ausdrücklich auch die Feststellungen des Bundesamtes zu dem auf § 30 Abs. 1 AsylVfG gestützten Offensichtlichkeitsurteil, nachdem das Gericht inzwischen die Gewissheit gewonnen hat, dass die Eltern des Klägers unverfolgt aus Istanbul, wo sie die letzten Jahre vor ihrer Ausreise offenbar unbehelligt vor den angeblichen Nachstellungen gelebt hatten, in das Bundesgebiet eingereist waren.

Der Kläger kann danach in Ansehung seines ununterbrochenen Aufenthalts im Bundesgebiet keinerlei Vorverfolgung in der Türkei anführen und er hat - auch in Ansehung des Fehlens seiner Religionsmündigkeit - selbst bei Zugrundelegen einer syrisch-orthodoxen Glaubenszugehörigkeit keine asylrelevante Verfolgung zu gewärtigen.

Das Gericht teilt auch in Ansehung der zahlreichen vom Kläger sowie von seinen Eltern in deren Asylfolgeverfahren eingeführten Erkenntnisse die Auffassung des Bundesamtes, wonach syrisch-orthodoxe Christen in der Türkei derzeit keiner derartigen Verfolgung ausgesetzt und zumindest in Istanbul, wo die Kernfamilie des Klägers während der letzten etwa 17 Jahre gelebt hatte, hinreichend sicher sind.

Selbst für die von den Eltern des Klägers immer wieder in den Blick genommene südöstliche Region der Türkei lässt sich die gehegte Verfolgungsfurcht nicht (mehr) bestätigen. Klarer Sieger der Parlamentswahlen im November 2002 war die konservative, islamisch geprägte Gerechtigkeits- und Aufbau-Partei (AKP) mit 34,3 % der Stimmen. Kernelemente der türkischen Reformpolitik, die vorsichtig bereits Anfang/Mitte 2002 von der Vorgängerregierung eingeleitet worden war (u.a. Abschaffung der Todesstrafe im August 2002), sind die - nach üblicher Zählung - acht "Reformpakete" aus den Jahren 2002 bis 2004. Mit Inkrafttreten des 8. Gesetzespaktes am 1. Juni 2005 hat die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt. Die Kernpunkte der bisherigen acht Reformpakete sind: Abschaffung der Todesstrafe, Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte, Reform des Nationalen Sicherheitsrates (Eindämmung des Einflusses des Militärs), Zulassung von Unterricht in weiteren in der Türkei gesprochenen Sprachen neben Türkisch (dies betrifft in erster Linie Kurdisch), die Benutzung dieser Sprachen in Rundfunk und Fernsehen, erleichternde Bestimmungen über die rechtliche Stellung von Vereinen und religiösen Stiftungen, Neuregelungen zur Erschwerung von Parteischließungen und Politikverboten, Maßnahmen zur Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter, Ermöglichung der Wiederaufnahme von Verfahren nach einer Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Einführung von Berufungsinstanzen. Im Bereich der Strafjustiz kam es bereits seit 2002 zu entscheidenden Verbesserungen z.B. bei den Bestimmungen zur Verfolgung von Meinungsdelikten. Die im Juni 2005 in Kraft getretenen Strafgesetze sollen sich im Rahmen von EU-Standards halten. Im Rahmen der im Mai 2004 verabschiedeten Verfassungsänderungen wurde außerdem Artikel 90 der Verfassung über internationale Abkommen geändert und der Vorrang der von der Türkei ratifizierten völkerrechtlichen und europäischen Verträge gegenüber den nationalen Rechtsvorschriften verankert. Geraten internationale Menschenrechtsübereinkommen mit nationalen Rechtsvorschriften in Konflikt, haben die türkischen Gerichte jetzt internationale Übereinkommen anzuwenden. Die Reformen stehen in engem Zusammenhang mit dem politischen Ziel des Beitritts zur Europäischen Union und zielen erklärtermaßen auf eine weitere Demokratisierung der Türkei ab. Die bestehenden Implementierungsdefizite sind u.a. darauf zurückzuführen, dass viele Entscheidungsträger in Verwaltung und Justiz auf Grund ihrer Sozialisation im kemalistisch-laizistisch-nationalen Staatsverständnis Skepsis und Misstrauen gegenüber der islamisch-konservativen AKP-Regierung hegen und Reformschritte als von außen oktroyiert und potentiell schädlich wahrnehmen. In ihrer Berufspraxis setzen sie den Reformvorhaben der Zentralregierung oftmals großes Beharrungsvermögen entgegen und verteidigen damit aus ihrer Sicht das Staatsgefüge als Bollwerk gegen Separatismus und Islamismus. Die Regierung setzt sich nachdrücklich dafür ein, durch zahlreiche erklärende und anweisende Runderlasse die Implementierung der beschlossenen Reformen voranzutreiben und die sachgerechte Anwendung der Gesetze sicherzustellen. Besonders wichtige Posten, z.B. der des Gouverneurs der Provinz Diyarbakir, werden mit Persönlichkeiten besetzt, die das Reformwerk ausdrücklich unterstützen (siehe dazu Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. Januar 2007, Stand: Dezember 2006). Bei den Parlamentswahlen vom 22. Juli 2007 hat die regierende AKP mit Ministerpräsident Erdogan mit knapp 46,62 % der abgegebenen Stimmen einen historischen Sieg errungen. Am 28. August 2007 wurde der bisherige Außenminister Gül im dritten Wahlgang zum 11. Staatspräsidenten der Türkei gewählt. Die vorgezogenen Parlamentswahlen, die anschließende Wahl des Präsidenten und die zügige Regierungsbildung haben zu einer Beruhigung und Konsolidierung der innenpolitischen Lage geführt. Sowohl Staatspräsident Gül als auch Ministerpräsident Erdogan kündigten eine Fortsetzung der Reformpolitik an. In der türkischen Verfassung sind die Prinzipien der Religionsfreiheit und der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz unabhängig von Religion oder Bekenntnis verankert (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25. Oktober 2007; Stand: September 2007). Danach ist in der Praxis die individuelle Glaubensfreiheit weitgehend gewährleistet. Über staatliche Repressionsmaßnahmen, die gegen das individuelle Glaubensbekenntnis des Einzelnen gerichtet seien, lägen keine Berichte vor. Nichtstaatliche Repressionsmaßnahmen treten danach selten auf. Darüber hinaus dokumentiert der Lagebericht auch die Ermordung dreier Mitarbeiter eines christlichen Verlages sowie den Mord an einem katholischen Priester im Februar 2006 sowie an dem Journalisten im Januar 2007. Hinsichtlich der syrisch-orthodoxen Christen wird ausgeführt, nachdem sich die Lage der Syriani im Südosten entspannt habe, gebe es erste Rückkehrer, insbesondere im Gebiet um Midyat. Früher häufige Übergriffe gegen Syriani und Yeziden kämen, soweit ersichtlich, nicht mehr vor. Aus anderen Quellen ergibt sich allerdings, dass insbesondere im Jahr 2006 Überfälle auf syrisch-orthodoxe Aramäer im Tur Abdin stattgefunden haben (vgl. Eastern Star News Agency vom 5. September 2006). Dabei kam es zu Sach- aber auch Personenschäden. Ebenfalls dokumentiert ist in der Auskunft der Gesellschaft für bedrohte Völker vom 20. März 2007 ein Bombenanschlag gegen den Kirchenratsvorsitzenden von Midyat im Südosten der Türkei. Aus den vorliegenden Erkenntnismaterialien geht aber ebenfalls hervor, dass sich die Situation der Christen im Tur Abdin in den vergangenen Jahren im Vergleich zu den 1990-iger Jahren deutlich verbessert hat. Zum einen werden in vielen Dörfern Häuser, Kirchen und Klöster wieder hergerichtet und es kehren auch Familien freiwillig auf Dauer und nicht nur zu Urlaubszwecken in den Tur Abdin zurück. Zwar wird insbesondere in dem Reisebericht des Pfarrers Oberkampf über seinen Besuch im Tur Abdin im September 2006 die Sicherheitslage noch als sehr instabil und brüchig bezeichnet trotz der auch damals schon vorhandenen Rückkehrer. Aus der "Auswertung einer Reise zu den Christen im Tur Abdin (Südosttürkei) und im Nordirak vom 26.05. bis 05.06. 2008" von Mitgliedern der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern ergibt sich aber, dass offenbar die Rückkehr syrisch-orthodoxer Christen und die Renovierung von Häusern auch zwei Jahre nach der Reise von Oberkampf anhält. Die "Kurze Information über die gegenwärtige Situation des 'Tur Abdin'" vom 31. Oktober 2006 bezieht sich insoweit auf die Reise des Pfarrers Oberkampf im September 2006 und enthält keine neuen Erkenntnisse. Für das Jahr 2008 sind dem Gericht keine im Einzelfall verifizierten Übergriffe auf syrisch-orthodoxe Christen bekannt geworden.

Die Voraussetzungen für die Annahme einer mittelbaren Gruppenverfolgung wegen einer syrisch-orthodoxen Glaubenszugehörigkeit - auf eine staatliche Verfolgung beruft sich auch der Kläger nicht - liegen nicht (mehr) vor. Diese setzt voraus, dass die Verfolgungshandlungen im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Dabei müssen Anzahl und Intensität der Verfolgungsmaßnahmen auch zur Größe der Gruppe in Beziehung gesetzt werden, auch bei besonders kleinen Gruppen. Dies gilt ebenso für eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Alt. c AufenthG. Die Grundsätze für die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar. Die dargestellten Überfälle erfüllen diese Voraussetzungen für die Annahme einer mittelbaren Gruppenverfolgung nicht. Nach aktuellen Erkenntnissen leben in der Region Tur Abdin mit den Zentren Midyat und Mardin noch etwa 20 syrisch-orthodoxe Mönche und 2500 Christen, die von zwei Bischöfen betreut werden (Briefing Notes des Informationszentrums Asyl und Migration vom 3. Dezember 2007 zur Türkei). Die Zahl und Intensität der Verfolgungsmaßnahmen wiederholen sich nicht so bzw. greifen nicht so um sich, dass damit für jeden syrisch-orthodoxen Christen im Tur Abdin ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass eine Vielzahl der Konflikte darauf zurückzuführen ist, dass Rückkehrer ihr ursprüngliches Eigentum wieder beanspruchen und somit bereits aus diesem Grund, und nicht wegen ihrer syrisch-orthodoxen Glaubenszugehörigkeit Anfeindungen ausgesetzt sind.

Insgesamt ist damit festzustellen, dass die Situation der syrisch-orthodoxen Christen in Tur Abdin im Ganzen als weitgehend sicher angesehen werden kann. Darüber hinaus können die Übergriffe dem türkischen Staat nicht mehr zugerechnet werden. Es fehlt an Hinweisen, dass die türkischen Behörden - wie noch in den 1990-iger Jahren - bei Übergriffen gegen syrisch-orthodoxe Christen grundsätzlich nicht einschreiten. Aus den Erkenntnismaterialien ergibt sich vielmehr, dass dies durchaus der Fall ist. In der bereits oben zitierten Auskunft des Informationszentrums Asyl und Migration (Briefing Notes vom 3. Dezember 2007) ist im Hinblick auf die Entführung eines syrisch-orthodoxen Mönches am 28. November 2007 ausgeführt, dass unmittelbar nach Bekanntwerden des Vorfalls Polizei und Gendarmerie in der Provinz Mardin und den angrenzenden Provinzen eine intensive Fahndung nach den Tätern eingeleitet haben. Auch aus der Presseerklärung der Aramäer (Eastern Star News Agency 5. September 2006) ergibt sich, dass nach dem Überfall einer kurdischen Familie auf einen zu Besuchszwecken zurückgekehrten Aramäer dieser die Täter angezeigt habe und deswegen auch vor der Staatsanwaltschaft in Midyat erschienen sei. Selbst wenn davon auszugehen ist, dass Übergriffe nicht vollständig ausgeschlossen werden können und der türkische Staat dagegen keinen lückenlosen Schutz gewährleisten kann, kann dies jedoch der Annahme einer grundsätzlichen Schutzwilligkeit nicht entgegenstehen. Auch aus diesem Grund ist somit eine weiterhin fortbestehende mittelbare Gruppenverfolgung wegen der Glaubenszugehörigkeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen.

Dem Kläger droht auch nicht aus anderen Gründen Verfolgung, etwa wegen der Asylantragstellung. Abgeschobene Personen werden nach Ankunft in der Türkei einer Routinekontrolle unterzogen und dabei auch in den Diensträumen der jeweiligen Polizeiwache vorübergehend zum Zwecke einer Befragung festgehalten. Ausweislich des Lageberichtes des Auswärtigen Amtes vom 29. Juni 2009 wird Misshandlung oder Folter allein auf Grund der Tatsache, dass ein Asylantrag gestellt wurde, ausgeschlossen. Danach haben auch die türkischen Menschenrechtsorganisationen explizit erklärt, dass aus ihrer Sicht zurückgekehrten abgelehnten Asylbewerbern keine staatlichen Repressionsmaßnahmen drohen. [...]