OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 10.03.2010 - 1 B 60/10 - asyl.net: M16803
https://www.asyl.net/rsdb/M16803
Leitsatz:

Anspruch auf Notreiseausweis für geduldete Schülerin für Klassenfahrt ins Ausland in entsprechender Anwendung des § 13 Abs. 1 Nr. 2 AufenthVO.

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, Notreiseausweis, Klassenfahrt, Schulpflicht, Duldung,
Normen: AufenthVO § 13 Abs. 1 Nr. 2, BremSchulG § 55 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

§ 13 Abs. 1 Nr. 2 AufenthVO sieht vor, dass einem Ausländer zur Vermeidung einer unbilligen Härte oder bei Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses ein Notreiseausweis ausgestellt werden kann, wenn der Ausländer seine Identität glaubhaft gemacht hat und er zum Aufenthalt im oder zur Rückkehr in das Bundesgebiet berechtigt ist.

Im vorliegenden Fall besteht ein besonderes öffentliches Interesse daran, dass die Antragstellerin an der Klassenfahrt vom 13.03. bis 20.03.2010 nach Istanbul teilnimmt. Dieses Interesse resultiert daraus, dass die Antragstellerin mit der Teilnahme ihre Schulpflicht erfüllt. § 55 Abs. 7 S. 1 BremSchulG bestimmt, dass die Schulpflicht sich auch auf Schulfahrten erstreckt. Damit bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass solche Fahrten dem Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule dienen. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass die Schule mit der konkreten Ausgestaltung der Klassenfahrt erkennbar auch spezifisch pädagogische Interessen verfolgt, nämlich die Förderung des interkulturellen Austausches (vgl. dazu § 12 Abs. 1 S. 2 BremSchulG).

Dass die Antragstellerin lediglich im Besitz einer Duldung ist, steht in ihrem Fall nicht der Anwendung von § 13 Abs. 1 Nr. 2 AufenthVO entgegen. Zwar verlangt die Vorschrift, dass der Betreffende ein Aufenthaltsrecht besitzt oder zur Rückkehr in das Bundesgebiet berechtigt ist. Das ist bei geduldeten Ausländern nicht der Fall, so dass diese grundsätzlich von der Erteilung eines Notreiseausweises ausgeschlossen sind. § 13 Abs. 1 Nr. 2 AufenthVO ist indes auf einen Fall wie den der Antragstellerin entsprechend anzuwenden. Das Oberverwaltungsgericht hat bereits mit Beschluss vom 24.06.2009 entschieden, dass in Ausnahmefällen die Erteilung eines Notreiseausweises auch an geduldete Ausländer in Betracht kommt (1 B 193/09 - InfAuslR 2009, 350). Hieran hält der Senat nach erneuter Prüfung fest.

Zweck von § 13 Abs. 1 Nr. 2 AufenthVO ist es, hier lebenden Ausländern, bei denen wegen fehlender Papiere ein Reisehindernis besteht, die Aus- und Wiedereinreise zu ermöglichen, wenn hierfür ein besonderes öffentliches Interesse besteht. Der Verordnungszweck differenziert insoweit nicht nach dem Aufenthaltsstatus der Betreffenden. Geduldete Ausländer sind deshalb vom Anwendungsbereich der Vorschrift ausgenommen, weil sie ausreisepflichtig sind und ihnen im Falle der Ausreise eine Wiedereinreise gerade nicht ermöglicht werden soll.

Diese Rechtsfolge, die sich aus der Rechtsnatur der Duldung ergibt (vgl. § 60a Abs. 3 AufenthG), kann aber dann nicht ohne weiteres gelten, wenn es um hier geborene, langjährig geduldete ausländische Jugendliche oder Heranwachsende geht.

Schon die Tatsache, dass solche Jugendlichen nur geduldet werden, ist rechtlich problematisch, letztendlich aber in dem anhängigen Klageverfahren zu würdigen. Zumindest handelt es sich um atypische Fälle, die der Verordnungsgeber nicht berücksichtigt hat. Es ist nicht Sinn und Zweck der Verordnung, dass solche Jugendliche und Heranwachsende bis zur endgültigen Klärung ihres Aufenthaltsrechts auf die gebotene Teilnahme an schulischen Veranstaltungen verzichten müssen. Insoweit liegt eine Regelungslücke vor, die durch die entsprechende Anwendung von § 13 Abs. 1 Nr. 2 AufenthVO auch auf lediglich geduldete Ausländer zu schließen ist.

§ 22 Abs. 2 AufenthVO, der den hier aufgeworfenen Konflikt zwischen Duldungsstatus und der Teilnahme an Klassenfahrten durch das Institut der Schülersammelliste löst, kommt im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung. Die Antragsgegnerin hat sich gegenüber dem Verwaltungsgericht auf den Standpunkt gestellt, dass § 22 Abs. 2 AufenthVO nur für Reisen innerhalb der europäischen Union gilt; dies entspricht ersichtlich auch ihrer Verwaltungspraxis.

Das Verwaltungsgericht hat sich in dem angefochtenen Beschluss diesem Standpunkt angeschlossen. Für seine Richtigkeit könnte sprechen, dass der Begriff der Schülersammelliste in § 1 Abs. 5 AufenthVO unter Bezugnahme auf Vorschriften des Gemeinschaftsrechts näher definiert wird. Von einer abschließenden Beurteilung sieht das Oberverwaltungsgericht indes mit Rücksicht auf den erheblichen Zeitdruck, unter dem im vorliegenden Verfahren zu entscheiden ist, ab. In jedem Fall kann dem Verwaltungsgericht aber nicht darin gefolgt werden, dass § 22 Abs. 2 AufenthVO - als speziellere Vorschrift - es verbieten würde, § 13 Abs. 1 AufenthVO in einem Fall wie dem vorliegenden entsprechend anzuwenden. Die unterschiedlichen Voraussetzungen und Anwendungsbereiche der Vorschriften lassen die Annahme eines derartigen Rangverhältnisses nicht zu.

Der Senat weist abschließend darauf hin, dass der im vorliegenden Fall bestehende Konflikt zwischen Schulpflicht und ausländerrechtlichem Status aus seiner Sicht angemessen nur durch ein rechtzeitiges und koordiniertes Zusammenspiel der beteiligten Behörden gelöst werden kann. Ihm erscheint es schwer vorstellbar, dass sich auf diese Weise nicht Lösungen finden lassen, die Planungssicherheit für ins Ausland führende Klassenfahrten gewährleisten und die zudem nicht - wie im vorliegenden Fall - eine 16jährige Schülerin in die Lage bringen, wegen der Teilnahme an einer - von der Schulpflicht erfassten - Schulveranstaltung den Rechtsweg beschreiten zu müssen. [...]