VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 02.02.2010 - 2 K 20113/08 Me - asyl.net: M16789
https://www.asyl.net/rsdb/M16789
Leitsatz:

1. Flüchtlingsanerkennung wegen Verfolgungsgefahr aufgrund exponierter exilpolitischer Tätigkeiten im Falle einer Rückkehr nach Vietnam.

2. Kein Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung nach § 28 Abs. 2 AsylVfG; entgegen der Rechtsprechung des BVerwG handele es sich bei exilpolitischen Aktivitäten im Sinne von Art. 4 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie (QRL) nicht um "Umstände" im Sinne von Art. 5 Abs. 3 QRL, weshalb sie von der Regelungskompetenz der Mitgliedstaaten nicht erfasst werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Vietnam, Asylfolgeantrag, Exilpolitik
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 71 Abs. 1, VwVfG § 51
Auszüge:

[...]

Vorliegend hat der Kläger sich darauf berufen, dass er nach Abschluss des Erstverfahrens nach Vietnam zurückgekehrt sei und sich dort oppositionell politisch betätigt habe. Er habe damit eine vor der Rückreise begonnene exilpolitische Tätigkeit fortgesetzt. Um weiteren Verfolgungsmaßnahmen zu entgehen, sei er dann wieder nach Deutschland gereist und habe sich dort weiter exilpolitisch betätigt. Die exilpolitischen Tätigkeiten des Klägers vor seiner Ausreise und der gesamte Sachverhalt seiner Erlebnisse in Vietnam wurden erst nach Ablauf der 3-Monats-Frist geltend gemacht. Er hat seinen Asylfolgeantrag mit erstmaliger Benennung dieser Gründe am 14.04.2008 gestellt, ist aber nach seinen eigenen Angaben bereits am 02.01.2008 wieder in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Ebenfalls verspätet hat er seine Ernennung zum Jugendbeauftragten der Bezirksleitung Deutschland-Ost der Volkspartei Vietnams und seine Teilnahme auf einem exilpolitischen Kongress am 04.10.2009 vorgetragen.

Darüber hinaus hat er aber eine ganz erhebliche Zahl exilpolitischer, gegen die vietnamesische Regierung gerichtete Handlungen vorgetragen. Er ist Mitglied der Regierung Freies Vietnam und hat dort auch Funktionen übernommen, vor allem aber ist er Herausgeber der Internetseite "vietnamtudo.net" und hat dort und an anderen Stellen insgesamt 26 regimekritische Artikel veröffentlicht. Darüber hinaus hat er bei Demonstrationen und Kundgebungen in 6 Fällen Reden gehalten, die zusätzlich auch jeweils im Internet veröffentlicht worden sind. Alle diese Handlungen hat er jeweils rechtzeitig innerhalb der 3-Monats-Frist mitgeteilt und sie jeweils umfassend dokumentiert. Es liegt auf der Hand, dass er diese Handlungen nicht im ersten Asylverfahren geltend machen konnte, weil sie erst später entstanden sind.

Die geltend gemachten neuen Gründe sind auch grundsätzlich geeignet, die Sach- und Rechtslage anders zu beurteilen als im ersten Verfahren. Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die genannten exilpolitischen Tätigkeiten zu der begehrten Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG oder eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 2 bis 5, 7 AufenthG führen könnte (vgl. auch § 28 Abs. 1a AsylVfG). Die Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung auf Grund der geltend gemachten Wiederaufnahmegründe genügt (ThürOVG, Urt. v. 02.08.2001, Az.: 3 KO 279/99; ThürOVG, Urt. v. 06.03.2002, Az.: 3 KO 428/99). Nicht erforderlich ist es, dass bei der Prüfung, ob ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, bereits der materielle Anspruch selbst festgestellt wird (VGH Mannheim, Urt. v. 16.03.2000, AuAS 2000, 152). Das Gericht folgt nicht der Auffassung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Ziff. 1 VwVfG nur dann vorliegen, wenn feststeht, dass die Sach- und Rechtslage anders zu beurteilen ist als im ursprünglichen Verfahren. Diese Auffassung verkennt, dass im Falle des Vorliegens von Wiederaufgreifensgründen nach § 51 Abs. 1 VwVfG und bei Erfüllung der formellen Voraussetzungen von § 51 Abs. 2 und 3 VwVfG die Behörde darüber zu entscheiden hat, ob sie das Verfahren erneut aufgreift, und, wenn sie dies tut, in einem weiteren Schritt eine neue Entscheidung in der Sache zu treffen hat. Aus dieser Systematik kann nicht entnommen werden, dass ein Wiederaufgreifen des Verfahrens voraussetzt, dass tatsächlich eine andere Entscheidung als bisher zu treffen ist, dies muss lediglich möglich erscheinen. Das Bundesverwaltungsgericht (U. v. 10.02.1998, NVwZ 1998, 861) hat diese Frage zwar ausdrücklich offen gelassen, macht aber in der gleichen Entscheidung Ausführungen dazu, wie mit der einwöchigen Ausreisepflicht zu verfahren ist, wenn das Gericht im Gegensatz zum Bundesamt Gründe des § 51 Abs. 1 VwVfG für gegeben hält, die Klage aber dennoch als (einfach) unbegründet abweist. Es muss also den Fall geben, in dem ein weiteres Verfahren durchzuführen ist, auch wenn sich später herausstellen sollte, dass weder der Asylantrag noch der Antrag auf Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG begründet sind.

Ein weiteres Asylverfahren ist lediglich in den Fällen nicht durchzuführen, wo bezogen auf den betreffenden Zeitraum entweder keine neue Sachlage vorgetragen wird oder aber der Sachvortrag zwar eine neue Sachlage darstellt, diese aber von vornherein ganz offensichtlich nicht geeignet ist, die Rechtslage zu Gunsten des Asylbewerbers zu verändern.

1.2. Kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass ein weiteres Asylverfahren durchzuführen gewesen wäre, muss es in der Sache selbst entscheiden (vgl. BVerwG, Urteil v. 10.02.1998, Az.: 9 C 28/97, NVwZ 1998, 861 = DVBl. 1998, 725).

Diese Entscheidung führt zum Obsiegen des Klägers hinsichtlich der von ihm begehrten Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. [...]