VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 05.03.2010 - 11 A 3119/08 - asyl.net: M16775
https://www.asyl.net/rsdb/M16775
Leitsatz:

1. Minderjährige können ausnahmsweise einen eigenen, elternunabhängigen Anspruch aus § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG haben, wenn sie dessen Voraussetzungen in eigener Person erfüllen und sie seit der Einreise nicht mit ihren straffälligen Eltern, sondern mit anderen nahen Verwandten, die über einen Aufenthaltstitel verfügen und auch in Zukunft die Betreuung sicherstellen können, in häuslicher Gemeinschaft leben.

2. Getrennt lebende straffällige Eltern können daraus aber keinen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG/ Art. 8 EMRK ableiten, da der gemeinsamen Ausreise mit den Kindern keine rechtlichen Hindernisse entgegen stehen, sondern nur die autonome Entscheidung der Eltern, ihren Kindern die Inanspruchnahme der Aufenthaltserlaubnis nach § 104a AufenthG zu ermöglichen.

3. Beziehungen von Enkeln zu Großeltern sind zwar nicht generell vom Schutzbereich des Art. 8 EMRK ausgeschlossen, führen aber nur dann zu einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG oder § 25 Abs. 5 AufenthG, wenn besondere Aspekte der Abhängigkeit hinzutreten, z.B. weil nur die Großeltern die Betreuung sicherstellen können.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Altfallregelung, Bleiberecht, tatsächlicher Schulbesuch, Kosovo, Roma, Straftat, häusliche Gemeinschaft, minderjährig, außergewöhnliche Härte
Normen: AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1, AufenthG § 104a Abs. 5 S. 1, AufenthG § 104a Abs. 3 S. 1, AufenthG § 36 Abs. 2, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 29 Abs. 3 S. 1, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

Die Klägerinnen zu 2.) und 3.) haben einen Anspruch darauf, dass ihnen der Beklagte nach § 104a Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 AufenthG eine bis zum 31. Dezember 2009 gültige Aufenthaltserlaubnis erteilt. Dieser Anspruch entfällt nicht deshalb, weil die Aufenthaltserlaubnis, auf deren Erteilung er gerichtet ist, ihre Gültigkeit inzwischen bereits wieder durch Zeitablauf verloren hat. Der Ausländer hat auch in solchen Fällen ein schutzwürdiges Interesse an der Legalisierung des Aufenthaltes in der Vergangenheit (Funke-Kaiser, GK-AufenthG, § 104a Rn. 76.1 m.w.N.). Dies gilt schon deswegen, weil die Klägerinnen inzwischen vorsorglich beim Beklagten einen Antrag auf Verlängerung einer eventuell nach § 104a Abs. 1 AufenthG zu erteilenden Aufenthaltserlaubnis gestellt haben und daher nicht ausgeschlossen werden kann, dass aus der im Tenor angesprochenen Aufenthaltserlaubnis für die Vergangenheit letztendlich eine Aufenthaltserlaubnis für die Gegenwart und Zukunft erwachsen könnte. Allerdings kann das Gericht jetzt noch nicht selbst darüber entscheiden, ob den Klägerinnen zu 2.) und 3.) diese Verlängerung zu gewähren ist. Eine solche Verlängerung wäre ein Verwaltungsakt. Die Verpflichtung einer Behörde zum Erlass eines Verwaltungsaktes darf das Gericht aber außer im Falle einer nach § 75 VwGO zulässigen Untätigkeitsklage nur aussprechen, wenn die Behörde vorher einen entsprechenden Antrag des Bürgers abgelehnt hat (vgl. Kopp/ Schenke, VwGO, 16. Aufl., § 42 Rn. 6). Der Beklagte hat aber bislang über den Verlängerungsantrag der Klägerinnen zu 2.) und 3.) noch nicht entschieden. Es liegen auch nicht die Voraussetzungen des § 75 VwGO vor.

Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 AufenthG ist auch noch Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens. Gegenständlich ist das Begehren der Klägerinnen auf die Verlängerung oder Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis beschränkt, wie sie sich aus Abschnitt 5 und 6 des Kapitels 2 des Aufenthaltsgesetzes ergibt. Denn der Streitgegenstand einer Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wird bestimmt und begrenzt durch die Aufenthaltszwecke, aus denen der Ausländer seinen Anspruch herleitet. Die Klägerinnen stützen ihr Begehren im gerichtlichen Verfahren ebenso wie schon im vorgelagerten Verwaltungsverfahren in tatsächlicher Hinsicht auf familiäre und humanitäre Gründe, wie sie in Abschnitt 5 und 6 des Kapitels 2 des Aufenthaltsgesetzes normiert sind. Denn sie berufen sich darauf, dass ihnen wegen der engen familiären Beziehungen zu ihren Großeltern und wegen ihrer schulischen, sprachlichen und sozialen Integration in Deutschland ein Aufenthaltstitel zustehe. Damit erfasst das Klagebegehren auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a AufenthG. Denn auch eine nach dieser Vorschrift erteilte Aufenthaltserlaubnis wird entweder als Aufenthaltserlaubnis nach § 23 AufenthG erteilt (§ 104a Abs. 1 Satz 2 AufenthG) oder gilt zumindest als Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes (§ 104a Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 2 AufenthG) (BVerwG, Urteil vom 4. September 2007 - 1 C 43.06 - BVerwGE 129, 226, 229 f.; Urteil vom 27. Januar 2009 - 1 C 40/07 - BVerwGE 133, 73 ff.).

Die Klägerinnen zu 2.) und 3.) erfüllen die Tatbestandesvoraussetzungen des § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Sie sind geduldete Ausländer. Sie haben sich am 1. Juli 2007 seit mindestens acht Jahren - nämlich seit dem 10. April 1999 - ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen im Bundesgebiet aufgehalten. Sie verfügen bei ihren Großeltern unstreitig über ausreichenden Wohnraum. Der Einzelrichter konnte sich in der mündlichen Verhandlung davon überzeugen, dass sie fließend und akzentfrei deutsch sprechen, so dass die Voraussetzungen des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG erfüllt sind. Sie haben durch Vorlage ihrer Schulzeugnisse den tatsächlichen Schulbesuch im Sinne des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nachgewiesen. Die Klägerin zu 2.) hatte zwar im Schuljahr 2002/2003 eine erhebliche Anzahl unentschuldigter Fehltage, die aber in den beiden darauffolgenden Schuljahren abnahm und angesichts des Umstandes, dass sie vom Schuljahr 2005/2006 bis zum Schuljahr 2008/2009 keine unentschuldigten Fehltage aufweist, aktuell nicht mehr von Bedeutung für den Stand ihrer schulischen Integration ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Juli 2008 - 11 S 158/08 -, juris Rn. 10). Die Klägerin zu 3.) weist keine unentschuldigten Fehltage auf; die sechs unentschuldigten Fehltage, die in ersten Halbjahreszeugnis des Schuljahres 2005/2006 erwähnt werden, finden sich im Endzeugnisses dieses Schuljahres nicht wieder, so dass davon ausgegangen werden muss, dass das Fehlen nachträglich entschuldigt wurde. Bezüge zu extremistischen oder terroristischen Organisationen sind ebenso wenig ersichtlich wie eine vorsätzliche Täuschung über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände oder eine vorsätzliche Behinderung aufenthaltsbeendender Maßnahmen. Die Abschiebung der Klägerinnen zu 2.) und 3.) in den Kosovo scheiterte nicht an ihrem Verhalten oder am Verhalten des Klägers zu 1.), sondern unterblieb wegen des damals für Roma aus dem Kosovo bestehenden Abschiebestopps. Und schließlich wurden die Klägerinnen zu 2.) und 3.) auch nicht wegen einer vorsätzlichen Straftat zu Geldstrafen von mehr als 50 bzw. 90 Tagessätzen im Sinne des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG verurteilt. Lediglich ihr Vater - der Kläger zu 1.) - wurde zu solchen Geldstrafen verurteilt. Dessen Straftaten können den Klägerinnen zu 2.) und 3.) aber nicht gemäß § 104a Abs. 3 Satz 1 AufenthG zugerechnet werden, da sie nicht mit dem Kläger zu 1.) in häuslicher Gemeinschaft leben. Die Klägerinnen zu 2.) und 3.) leben vielmehr seit ihrer Einreise nach Deutschland mit ihren Großeltern in häuslicher Gemeinschaft, da sie dort ihr eigenes Zimmer haben und sich auch ganz überwiegend dort aufhalten und schlafen. [...]

Vor diesem Hintergrund spricht alles dafür, dass die Darstellung der Klägerinnen zu 2.) und 3.) zutrifft und sie ungeachtet des Umstandes, dass sie formal bei ihrem Vater gemeldet sind, faktisch nicht mit ihm, sondern mit ihren Großeltern in häuslicher Gemeinschaft leben. Es kommt nach der Rechtsprechung der Kammer für die Anwendung des § 104a Abs. 3 Satz 1 AufenthG aber nicht auf die melderechtlichen Verhältnisse an, sondern darauf, ob tatsächlich eine häusliche Gemeinschaft besteht (vgl. VG Oldenburg, Urteil vom 12. August 2009 - 11 A 2406/08 - zu einer "Scheintrennung", wo die häusliche Gemeinschaft trotz der Anmeldung einer eigenen Wohnung durch das straffällige Familienmitglied faktisch fortbestand).

Dass die Klägerinnen zu 2.) und 3.) minderjährig sind, steht einem solchen Anspruch nicht entgegen. Weder dem Wortlaut noch der Systematik noch der Ratio noch der Begründung der Vorschrift lässt sich entnehmen, dass sich ein minderjähriger Ausländer in einem Ausnahmefall wie dem Vorliegenden nicht auf § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berufen kann.

§ 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG spricht nicht von "einem geduldeten volljährigen Ausländer", dem bei Vorliegen der übrigen Tatbestandsvoraussetzungen eine Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift erteilt werden soll, sondern nur von "einem geduldeten Ausländer". Eine Anknüpfung an das Alter findet also nicht statt. Diese Wortwahl gewinnt zusätzliche Bedeutung, wenn man sie mit dem Wortlaut von § 104a Abs. 2 und § 104b AufenthG vergleicht: Dort ist ausdrücklich von "dem geduldeten volljährigen Kind" (§ 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG) bzw. von einem "Ausländer, der sich als unbegleiteter Minderjähriger […] im Bundesgebiet" aufhält (§ 104a Abs. 2 Satz 2 AufenthG) bzw. von "einem minderjährigen ledigen Kind" die Rede. Wenn das Gesetz in unmittelbarem systematischem Zusammenhang in einem Tatbestand (§ 104a Abs. 2 Satz 1) die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ausdrücklich nur für Volljährige und in einem anderen Tatbestand (§ 104a Abs. 2 Satz 2 und § 104b) ausdrücklich nur für Minderjährige regelt, in einem dritten Tatbestand (§ 104a Abs. 1 Satz 1) aber generell von "Ausländern" ohne jede Anknüpfung an das Alter spricht, zwingt dies zu dem Schluss, dass der dritte Tatbestand alle Ausländer unabhängig von ihrer Voll- oder Minderjährigkeit erfasst.

Ein Blick auf die Regelungstechnik in anderen Vorschriften des AufenthG bestätigt dies: Dort finden sich Aufenthaltstatbestände, die ausdrücklich nur für Minderjährige gelten (vgl. z. B. § 28 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, § 32 AufenthG, § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG), Aufenthaltstatbestände, die ausdrücklich nur für Volljährige gelten (vgl. z. B. § 30 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, § 34 Abs. 2 AufenthG, § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG), und Aufenthaltstatbestände, die nicht an das Alter das Ausländers anknüpfen (vgl. z. B. § 16 AufenthG, § 25 AufenthG). Für die letztgenannte Vorschriftengruppe ist soweit ersichtlich allgemein anerkannt, dass sich im Grundsatz sowohl Voll- als auch Minderjährige auf sie berufen können. So kann - wie sich schon § 16 Abs. 7 AufenthG entnehmen lässt - grundsätzlich auch minderjährigen Schülern eine Aufenthaltserlaubnis für einen Sprachkurs oder einen Schulbesuch erteilt werden. Einem minderjährigen Ausländer, für den die Asylberechtigung oder das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 1 bzw. § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG festgestellt ist, wird ohne Rücksicht auf sein Alter eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 bzw. 2 oder 3 AufenthG erteilt. Dies gilt selbst dann, wenn in der Person seiner Eltern diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, was nicht nur bei gesundheitlichen Abschiebungshindernissen aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ohne weiteres vorkommen kann, sondern auch im Falle der Asylberechtigung oder Flüchtlingsanerkennung möglich ist, weil § 26 AsylVfG zwar die Anerkennung eines Elternteils auf die minderjährigen ledigen Kinder erstreckt, nicht aber umgekehrt die Anerkennung des Kindes auf die Eltern. Diese Beispiele zeigen: Im Aufenthaltsgesetz gibt es weder einen allgemeinen Grundsatz, dass minderjährige Ausländer nicht unabhängig von ihren Eltern in eigener Person die Voraussetzungen bestimmter, altersunabhängiger Aufenthaltstatbestände erfüllen können, noch gibt es einen ausnahmslos geltenden Grundsatz, dass minderjährige Kinder und ihre Eltern aufenthaltsrechtlich immer gleich zu behandeln sind. Solche Anspruchseinschränkungen müssen sich vielmehr nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen der jeweils einschlägigen Norm entnehmen lassen.

Der Systematik der §§ 104a, 104b AufenthG kann nicht mit hinreichender Deutlichkeit entnommen werden, dass § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG abweichend von seinem Wortlaut nur für volljährige Ausländer gelten soll. Zwar regeln § 104a Abs. 2 Satz 2 AufenthG und § 104b AufenthG bestimmte Fälle der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für langjährig geduldete minderjährige Ausländer, eine abschließende Regelung dieser gesamten Fallgruppe, neben der eine Anwendung des § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG ausgeschlossen wäre, enthalten sie aber nicht. § 104a Abs. 2 Satz 2 AufenthG regelt nur die Fälle unbegleiteter Minderjähriger (vgl. zum Begriff des "unbegleiteten Minderjährigen" BayVGH, Beschluss vom 22. Dezember 2009 - 19 C 09.845 -, juris Rn. 9). § 104b AufenthG regelt nur das Schicksal Minderjähriger, die am 1. Juli 2007 14 Jahre alt waren und deren Eltern aus dem Bundesgebiet ausreisen. Für Minderjährige, die am Stichtag noch keine 14 Jahre alt waren, die nicht "unbegleitet" sind oder deren Eltern noch nicht ausgereist sind, enthalten diese Vorschriften dagegen keine Regelung.

Die Regelungen in § 104a Abs. 5 und 6 AufenthG über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zwingen entgegen der Ansicht des Beklagten ebenfalls nicht zu dem Schluss, dass § 104a Abs. 1 Satz1 AufenthG ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Volljährigkeit enthält. Zwar setzt § 104a Abs. 5 Satz 2 AufenthG für die Verlängerung grundsätzlich die eigenständige Sicherung des Lebensunterhaltes durch Erwerbstätigkeit voraus. Es ist aber nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass ein Minderjähriger - etwa nach Abschluss der Hauptschule - seinen Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit sichert. Außerdem sieht § 104a Abs. 6 Satz 2 AufenthG eine Reihe von Ausnahmen vom Grundsatz der Lebensunterhaltssicherung durch eigene Erwerbstätigkeit, von denen beispielsweise die Nrn. 1, 2 und 4 bei Minderjährigen (etwa, wenn sie in Berufausbildung sind oder wenn sie wegen ihres Alters noch erwerbsunfähig sind und der Lebensunterhalt durch erwerbstätige Verwandte - die allenfalls vorübergehend ergänzende Sozialhilfe beziehen - gesichert ist) in gewissen Fallkonstellationen einschlägig sein könnten.

Auch der Begründung des Gesetzgebers für § 104a Abs. 1 AufenthG und dem dort genannten Gesetzeszweck kann keine strikte Beschränkung auf Volljährige entnommen werden. Zwar heißt es in der Begründung des Gesetzentwurfs (BT-Drs. 224/07, S. 367):

"Einbezogen sind entsprechend dem IMK-Beschluss vom 17. November 2006 die minderjährigen ledigen Kinder von Ausländern, die eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund des Absatz 1 besitzen. Sie erhalten ein von der Aufenthaltserlaubnis der Eltern bzw. eine Elternteils abhängiges Aufenthaltsrecht. Mit Eintritt der Volljährigkeit kann ihnen eine Aufenthaltserlaubnis unter den erleichterten Voraussetzungen des Absatz 2 Satz 1 erteilt werden."

Anders als der Beklagte meint kann aus dieser Formulierung aber nicht entnommen werden, dass Minderjährige nicht unmittelbar selbst Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG haben können. Der Gesetzgeber brachte mit der vorstehend zitierten Formulierung nur zum Ausdruck, dass die minderjährigen ledigen Kinder von Ausländern, die eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund von § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG besitzen, automatisch - d. h. ohne Rücksicht darauf, ob sie die Voraussetzungen dieser Vorschrift (namentlich die Mindestaufenthaltszeiten) in eigener Person erfüllen - ein von dem Elternteil abgeleitetes Aufenthaltsrecht bekommen sollen (vgl. dazu auch Funke-Kaiser, GK-AufenthG, § 104a Rn. 24; BVerwG, Urteil vom 25. August 2009 - 1 C 20.08 -, InfAuslR 2010, 113, 114 f.). Über die Behandlung minderjähriger Ausländer, deren Eltern keine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG besitzen, die aber in eigener Person alle Voraussetzungen erfüllen, die § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG seinem Wortlaut nach aufstellt, sagt die Gesetzesbegründung dagegen nichts aus. Auch die Rechtsprechung und die Kommentarliteratur haben sich zu dieser Frage soweit ersichtlich bisher noch nicht ausdrücklich geäußert.

Der Zweck, den der Gesetzgeber mit § 104a AufenthG verfolgte, spricht jedenfalls nicht dafür, Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift entgegen seinem Wortlaut nur auf Volljährige anzuwenden. Die Altfallregelung sollte dem Bedürfnis der seit Jahren im Bundesgebiet geduldeten und hier integrierten Ausländer nach einer dauerhaften Perspektive in Deutschland Rechnung tragen (vgl. BR-Drs. 224/07, S. 366). Seit Jahren geduldet und gut integriert können aber - wie der vorliegende Fall zeigt - auch die minderjährigen Kinder von Ausländern sein, deren Eltern - wie hier der Kläger zu 1.) wegen seiner Vorstrafen - nicht unter § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG fallen.

Allerdings kann sowohl der Regelung des § 104a Abs. 3 AufenthG als auch der Begründung des Gesetzentwurfs entnommen werden, dass der Gesetzgeber im Rahmen des § 104 a Abs. 1 AufenthG grundsätzlich eine familieneinheitliche Betrachtung wünschte (so auch Nds. OVG, Urteil vom 29. Januar 2009 - 11 LB 136/07 -, juris Rn. 82). Nach § 104a Abs. 3 Satz 1 AufenthG führt es für alle Familienmitglieder zur Versagung der Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 AufenthG, wenn ein mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft lebendes Familienmitglied Straftaten nach § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG begangen hat. Für minderjährige Kinder, deren Eltern straffällig geworden sind, hat der Gesetzgeber diese Regelung ausdrücklich mit dem Grundsatz begründet, dass das minderjährige Kind das aufenthaltsrechtliche Schicksal der Eltern teilt (vgl. BR-Drs. 224/07, S. 368; Nds. OVG, Urteil vom 29. Januar 2009 - 11 LB 136/07 -, juris Rn. 82).

Dies schließt es im Regelfall aus, einem minderjährigen Kind, dessen Eltern über keinen Aufenthaltstitel verfügen, eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu erteilen. Aus § 104a Abs. 3 AufenthG können aber zugleich auch die Grenzen der familieneinheitlichen Betrachtung und des Grundsatzes der Abhängigkeit der minderjährigen Kinder vom aufenthaltsrechtlichen Schicksal der Eltern entnommen werden: Die familieneinheitliche Betrachtungsweise gilt nach Satz 1 der Vorschrift nur für Familienmitglieder, die miteinander in häuslicher Gemeinschaft leben; in diesem Rahmen sind auch die oben zitierten Ausführungen in der Begründung des Gesetzentwurfs zum Grundsatz der Abhängigkeit Minderjähriger vom aufenthaltsrechtlichen Schicksal ihrer Eltern gefallen. Wo dagegen Familienangehörige - wie hier die Klägerinnen zu 2.) und 3.) einer- sowie der Kläger zu 1.) andererseits - ausnahmsweise nicht miteinander in häuslicher Gemeinschaft, sondern in getrennten Haushalten leben, sieht § 104a Abs. 3 Satz 1 AufenthG keine einheitliche Betrachtung vor (in diese Richtung wohl auch Nds. OVG, Beschluss vom 23. Dezember 2009 - 8 LA 211/09 - Bl. 3 des Entscheidungsabdrucks). § 104a Abs. 3 Satz 3 AufenthG geht sogar ausdrücklich davon aus, dass dies in Ausnahmefällen zu einer Trennung von Eltern und Kindern führen kann. Er lässt eine solche Trennung zu, wenn die Betreuung der Kinder in Deutschland sichergestellt ist. Im Falle der Klägerinnen zu 2.) und 3.) ist diese Bedingung erfüllt: Die Klägerinnen leben seit ihrer Ankunft in Deutschland vor fast elf Jahren bei ihren Großeltern; diese haben ihre Betreuung sichergestellt. Angesichts des Umstandes, dass die Großeltern über einen Aufenthaltstitel verfügen und die Klägerinnen in einem Alter sind, in dem ihr Betreuungsbedarf stetig abnehmen und schließlich in vier bzw. sechs Jahren ganz erlöschen wird, ist nicht ersichtlich, wieso die Großeltern die Betreuung der Klägerinnen in Deutschland in Zukunft nicht ebenso sicherstellen können sollten, wie sie dies schon in der Vergangenheit taten. Nicht notwendig ist insofern, dass der Kläger zu 1.) das Sorgerecht für die Klägerinnen zu 2.) und 3.) auf die Großeltern überträgt: Anders als § 104b Nr. 5 AufenthG verlangt § 104a Abs. 3 Satz 3 AufenthG seinem ausdrücklichen Wortlaut nach nicht, dass die Personensorge in Deutschland sichergestellt ist, sondern lässt es genügen, wenn die Betreuung sichergestellt ist (vgl. Funke-Kaiser, GK-AufenthG, § 104a Rn. 60 am Ende).

Da die Klägerinnen zu 2.) und 3.) also in eigener Person alle Tatbestandsvoraussetzungen des § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG erfüllen, eine Zurechnung der vom Kläger zu 1.) begangenen Straftaten nach § 104a Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht möglich ist und die Voraussetzungen einer ausnahmsweisen unterschiedlichen Behandlung von Vater und Kindern hier nach § 104a Abs. 3 Satz 3 AufenthG gegeben sind, "soll" ihnen eine Aufenthaltserlaubnis bis zum 31. Dezember 2009 erteilt werden. Daraus folgt im Falle der Klägerinnen zu 2.) und 3.) ein Anspruch auf die Erteilung einer solchen Aufenthaltserlaubnis. Denn ein Ausnahmefall, in dem abweichend von dieser Soll-Regelung die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis verweigert werden darf, ist nicht ersichtlich.

Ein solcher Ausnahmefall liegt beispielsweise vor, wenn offenkundig ist, dass nach dem 31. Dezember 2009 eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht in Betracht kommt (Nds. OVG, Urteil vom 20. Oktober 2009 - 11 LB 56/09 - juris Rn. 62 m.w.N.). Bloße Zweifel am Eintritt der Verlängerungsvoraussetzungen oder die Ungewissheit hierüber genügen allerdings noch nicht (VG Oldenburg, Beschluss vom 19. Mai 2008 - 11 B 1235/08 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. April 2008 - 11 S 100/08 -, juris). Hier ist nicht ausgeschlossen, dass die Aufenthaltserlaubnis der Klägerinnen zu 2.) und 3.) über den 31. Dezember 2009 hinaus verlängert werden kann. Die Klägerinnen zu 2.) und 3.) sind wegen ihres Alters derzeit noch nicht selbst erwerbsfähig. Ihr Großvater, mit dem sie in häuslicher Gemeinschaft leben, war bis vor kurzem berufstätig. Erst seit circa zwei Monaten ist er arbeitslos. Er erhält derzeit primär Arbeitslosengeld I, das als beitragsfinanzierte Leistung nach § 2 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht der Lebensunterhaltssicherung entgegen steht. Nur ergänzend erhält er Arbeitslosengeld II. Insofern ist nicht völlig ausgeschlossen, dass hier eine Verlängerung nach § 104a Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 und/ oder 4 AufenthG in Betracht kommt.

Der Umstand, dass der Vater der Klägerinnen zu 2.) und 3.) keinen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis hat (dazu sogleich unten) und die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG für die Klägerinnen daher zu einer Trennung der Familie führen könnte, begründet hier ebenfalls keinen Ausnahmefall. Zwar ist es grundsätzlich denkbar, mit dieser Erwägung bei Minderjährigen eine Abweichung von der "Soll"-Vorschrift zu rechtfertigen. Im vorliegenden Fall trägt dies aber nicht. Denn die Klägerinnen zu 2.) und 3.) leben schon seit so langer Zeit (fast 11 Jahre) nicht mit dem Kläger zu 1.), sondern mit ihren über einen Aufenthaltstitel verfügenden Großeltern in häuslicher Gemeinschaft, dass der Gedanke der Aufrechterhaltung der familiären Lebensgemeinschaft mit dem Vater hier nicht mehr durchgreifend sein kann. [...]