OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 27.01.2010 - 8 ME 2/10 - asyl.net: M16763
https://www.asyl.net/rsdb/M16763
Leitsatz:

Kein vorläufiger Rechtsschutz, da eine Abschiebung in den Kosovo trotz der ungeklärten Staatsangehörigkeit nicht von vornherein aussichtslos ist.

Auch der 21jährige Aufenthalt in Deutschland und eine Trennung von den Eltern und volljährigen Geschwistern führt wegen nicht ausreichender Integration nicht zur rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung (Art. 8 EMRK).

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, Abschiebung, tatsächliche Unmöglichkeit, Duldung, ungeklärte Staatsangehörigkeit, Kosovo, Schutz von Ehe und Familie, familiäre Beistandsgemeinschaft, Straftat, Integration, Achtung des Privatlebens, wirtschaftliche Integration
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, GG Art. 6 Abs. 1, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

1. Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange diese aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.

Eine tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung ergibt sich aus dem Vorbringen des Antragstellers nicht. Soweit dieser unter Bezugnahme auf entsprechende Bescheinigungen öffentlicher Stellen darauf verweist, er sei weder in das "Buch der Staatsangehörigen für den Ort Kosovska Mitrovica" (Republik Serbien) noch in das "Buch der Staatsangehörigen in der Hauptstadt Podgorica" (Republik Montenegro) eingetragen, steht dies der hier beabsichtigten Abschiebung des Antragstellers in die Republik Kosovo von vornherein nicht entgegen. Eine sich hieraus ggf. ergebende - und dem Antragsgegner ausweislich seiner Verwaltungsvorgänge (siehe dort Bl. 129 ff.; 168 f.) bekannte - ungeklärte Staatsangehörigkeit des Antragstellers führt ebenfalls nicht zwingend zur tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung. Denn die Ausländerbehörde darf grundsätzlich zunächst versuchen, auch einen Ausländer mit ungeklärter Staatsangehörigkeit beispielsweise mittels von Deutschland oder der EU ausgestellter Heimreisepapiere in den Staat abzuschieben, dem er nach seinen Angaben angehört, es sei denn ein solcher Abschiebungsversuch erscheint von vorneherein aussichtslos (vgl. Hamburgisches OVG, Beschl. v. 4.12.2008 - 4 Bs 229/08 -, juris, Rn. 15; GK-AufenthG, Stand: Mai 2009, § 60a Rn. 218). Für eine derartige Aussichtslosigkeit bestehen hier angesichts der aktuellen Erkenntnisse (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo, Stand: September 2009, S. 26: "Bei den Einreisekontrollen werden von Deutschland oder der EU ausgestellte Heimreisepapiere anerkannt.") und der aktuellen Erlasslage (vgl. Niedersächsisches Ministerium für Inneres, Sport und Integration, Erlasse vom 7. Juli 2009 und 14. April 2009 - 42.12-12231.3-6 - (Rückführungen in die Republik Kosovo)) keine Anhaltspunkte.

Eine rechtliche Unmöglichkeit im Sinne des § 60a Abs. 2 AufenthG kann sich sowohl aus inlandsbezogenen Abschiebungsverboten ergeben, zu denen auch diejenigen Verbote zählen, die aus Verfassungsrecht (etwa mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG) oder aus Völkervertragsrecht (etwa aus Art. 8 EMRK) in Bezug auf das Inland herzuleiten sind, als auch aus zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG. [...]

Im Hinblick auf den darüber hinausgehenden Schutz des Privatlebens kommt einer aufenthaltsrechtlichen Entscheidung grundsätzlich Eingriffsqualität in Bezug auf Art. 8 Abs. 1 EMRK nur dann zu, wenn der Ausländer ein Privatleben, das durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen charakterisiert ist, faktisch nur noch im Aufenthaltsstaat als Vertragsstaat der EMRK führen kann. Ob eine solche Fallkonstellation für einen Ausländer in Deutschland vorliegt, hängt zum einen von der Integration des Ausländers in Deutschland, zum anderen von seiner Möglichkeit zur (Re-)Integration in seinem Heimatland ab (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 1.11.2007 - 10 PA 96/07 -; Senatsbeschl. v. 21.1.2010 - 8 PA 4/10 -). Dass dem Antragsteller eine derartige Integration gelungen oder eine (Re-)Integration in seinem Heimatland ausgeschlossen wäre, ist hier zumindest nicht glaubhaft gemacht. Der Antragsteller ist zwar bereits vor 21 Jahren mit seinen Eltern in die Bundesrepublik eingereist und gibt an, die deutsche Sprache zu beherrschen. Allein die bloße Dauer des Aufenthalts als solche vermittelt dem Ausländer - gerade wenn der Aufenthalt nach Beendigung des Asylverfahrens ausschließlich geduldet worden ist - aber keine in gesteigertem Maße schutzwürdige Position. Maßgeblich ist vielmehr die Intensität seiner hier bestehenden persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen sozialen Beziehungen. In wirtschaftlicher Hinsicht ist eine solche Integration nicht glaubhaft gemacht. Ausweislich des Vorbringens im erstinstanzlichen Verfahren hat der Antragsteller keine Ausbildung absolviert und bisher lediglich "1-2 Monate bei der Reinigung 'Piepenbock' gearbeitet". Dass er in der Lage wäre, seinen Lebensunterhalt künftig ohne öffentliche Sozialleistungen zu bestreiten, ist nicht ersichtlich. In sozialer Hinsicht hat der Antragsteller lediglich die Beziehungen zu seiner im Wesentlichen in Deutschland lebenden Familie herausgestellt und darüber hinaus lediglich behauptet, er habe hier "seine Freunde und sein soziales Umfeld". Aus diesem Vorbringen wird nicht deutlich, dass der Antragsteller trotz seines langjährigen Aufenthaltes engere persönliche Beziehungen zu dritten Personen außerhalb seiner Familie aufgebaut hat, die er nunmehr gezwungen wäre, aufzugeben. Soweit der Antragsteller schließlich darauf verweist, er habe in Deutschland den Kindergarten und die Hauptschule besucht, ergeben sich hieraus keine besonderen Integrationsleistungen, sondern es ergibt sich allenfalls, dass er die gesetzliche Schulpflicht erfüllt hat. Dass sich eine Integration des Antragstellers in seinem Heimatland nach mehr als zwanzigjährigem Aufenthalt in Deutschland als nicht ganz einfach erweisen wird, ist nicht zu bestreiten, begründet aber ebenfalls keine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung. Denn jedenfalls ist nicht erkennbar, dass eine solche Integration des Antragstellers in seinem Heimatland ausgeschlossen ist. Nach den Einlassungen des Antragstellers in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 11. November 2009 spricht er zumindest "gelegentlich albanisch". Da ihm zudem in seinem Heimatland keine Verfolgung droht und er nicht dauerhaft erwerbsunfähig ist, ist ihm eine Rückkehr in sein Heimatland und eine (Wieder-)Eingewöhnung in die dortigen Verhältnisse zuzumuten. [...]